Warum schießt der Scharfschütze nicht? Wie lebt es sich mit Einschussloch im Gesicht? Sebastian Polmans schreibt in „Junge“ über Katastrophen und Kriege, über Gefängnisse, überschwemmte Dörfer – das Ende.
Wenn der Junge zu Besuch war, erzählte der Vater, dass die Felsen in ihrem Kern die Weltgebirge in sich trügen, den Fujiyama, den K3 und die Alpen.“ Dieser Satz steht wie eine Selbstbeschreibung im Roman, kurz vor Schluss. Weltgebirge können in kleinen Felsen stecken und die ganze Welt passt in ein kleines Buch, sie passt sogar in einen Jungen, der bloß auf seinem Ausguck an der deutsch-holländischen Grenze steht und versucht, die umliegende Gegen mit dem Fernglas scharf zu stellen. Das ist der Kern von „Junge“ – ein Ausguck, dazu ein Typ, der rausschaut und dabei fürchterliches Herzrasen hat.
Der Junge steht zitternd auf einem Ausguck und beobachtet. Vor ihm ist die deutsch-holländische Grenze, doch warum er da steht und von oben herabblickt auf die geschäftige Welt, ist unklar. Soll er tatsächlich Wache schieben? Wie ein Scharfschütze lauscht er den allerleisesten Geräuschen, den Funkwellen vom Radio, dem Dröhnen landender Flugzeuge über ihm. Er scannt mit seinem Blick die Umgebung ab. Was macht dieser Junge da?
Diese Figur hat keinen Namen, keine Berufsbezeichnung, überhaupt nichts Spezifisches. Nur langsam schält sich aus den Beschreibungen ein Charakter heraus. Er scheint angstbesetzt zu sein (daher das Zittern), er hat sein Elternhaus hinter sich gelassen, um hier zu dienen. Er besitzt keine Waffe, sondern ein Fernglas, mit dem er die Welt um sich scharfstellt. Er ist neugierig und besucht am liebsten Orte, die von Zäunen umgeben sind: ein Asylbewerberheim zum Beispiel, wo schwarze Menschen warten – so wir er auf seinem Turm. Alle scheinen zu warten. Auf was?
Die Geschichte erzählt in Andeutungen, kurzen Szenen, wie die Kindheit des Jungen verlaufen ist, bevor er den Turm erklomm – und wie es ihm nun ergeht. Es gibt Bilder von Urahnen, aus Sebastian Polmans Privatarchiv. Und soviel kann man sagen: „Junge“ geht es schlecht. Immer wieder fällt er raus aus der Wirklichkeit. Er hat nicht nur ein rasendes Herz, sondern auch Halluzinationen und Visionen. Er stellt sich vor, das Dorf weiter hinten würde untergehen in den Regenmassen eines Monsuns. Er sieht Soldaten einfallen: „Nur in kurzen Abständen stieben Leuchtraketen auf, Scheinwerfer von Kampfflugzeugen oder die Funken der Salven, die für Bruchteile von Sekunden eine Landschaft erhellten, die übersät war mit dampfenden Überresten.“
Als der Junge irgendwann in den Spiegel schaut, erkennt er ein Einschussloch im Kopf. Gruselig. Er schwankt, die ganze Zeit und wenn er dann nach vielen Stunden vom Turm hinab auf den Erdboden gelangt, glaubt er, die Erde sei eine Wolke, er würde schweben, nach oben fort. Was macht der Typ da oben? Er wirkt wie ein Sniper, ein Militarist, ein Voyeur. Warum hat er ein Radio dabei und wo hat er gelernt, so gut zu lauschen, so exakt zu sehen?
Das Rätselhafte ist gleichzeitig auch das Ereignis dieses Romans. Pop-Songs stecken seit Jahrzehnten voller Andeutungen. Romane sind oft sehr konkret, weil viele Autoren Angst haben, man würde den Text nicht mehr verstehen, sobald es unrealistisch wird. Sebastian Polmans beweist, dass das alles Quatsch ist. Man muss lediglich ein verdammt guter Dichter sein. (Ja, das ist er. Keine Frage). Außerdem ist die Welt selbst nicht immer realistisch. Es gibt Falten und Fallen und Black-Outs und so weiter.
Sebastian Polmans weiß außerdem, wie man die Crowd unterhält. HipHop-Fans kennen ihn als „Summsemann„. Er macht Rap mit Herz und Zeilen wie diesen: „Pass‘ auf, ich sag‘ Euch was, was ich von Euch möchte ist nicht viel. Nur das.“ Dann zeigt er es: Das Herz, gebildet aus Zeigefinger, Daumen. Das ist bewegend. Summsemann-Sebastian weiß außerdem, wie man Homies dazu bringt, hochzuspringen, immer wieder hoch, während die Arme auf und niedergehen und der Kopf vor und zurück im Takt. „Ich wünsche mir alles, was aus Liebe ist. Damit’s dazwischen auch mal Frieden gibt.“
Auf diese romantische Weise umgarnt auch „Junge“. Man möchte diese geheimnisvolle Figur kennenlernen, verstehen und folgt in kasernierte Gegenden, in Asylbewerberheime, in die geschlossene Altenpflege, zum Taubenzüchter mit seinen Ställen. Warum der „Junge“ dorthin geht? Das beantwortet der Text nicht. Ebenso ist nicht ganz klar, weshalb sein Vater jährlich aufs Schützenfest geht, sich prügelt, mit blauem Auge heimkehrt – und im Jahr darauf wieder zur Wiese zieht. „Junge“ ist ein Rätsel. „Junge“ ist eine Versuchsanordnung. „Junge“ ist rührend, wunderschön. Ausgezeichnet mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2011.
Sebastian Polmans: „Junge“, Suhrkamp, 196 Seiten, 17,90 Euro
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