In diesem Jahr feierte der Kölner Lyriker Jürgen Becker, langjähriger Leiter der Deutschlandfunk-Hörspielredaktion, seinen 90. Geburtstag. Im Suhrkamp-Verlag erscheinen zeitgleich seine Journalgedichte und ein beeindruckender Band der „Gesammelten Werke“. Ein kleiner Blick auf einen großen Schriftsteller.
„ – Fading der Stimmen, / das Rauschen auf der Mittelwelle. Im Januar 1945 / Radio Luxemburg nachts: die amerikanischen Truppen / stehen acht Kilometer vor Köln / (und heimlich / hörte ich weiter Rag Time und Glenn Miller; nichts / wußte der Fähnleinführer)“, erinnert Jürgen Becker in seinem Band „Erzähl mir nichts vom Krieg“. Das Schaffen des 1932 in Köln Geborenen war oft mit dem Radio verknüpft. Zahlreiche Hörspiele hat er geschrieben, von „Bilder“ (1969) für den SR bis „Unterwegs im Haus“ (2009) im Deutschlandfunk.
Das Rauschen der Mittelwelle, das Rauschen des Radios war auch in Beckers Gedichten zu hören, überlagert vom Rauschen der Welt – des Strabag-Betons beim Wiederaufbau, des PKW-Verkehrs, auch von den rauschend-berauschten Neuronen – und natürlich, permanent, vom Rauschen der leitmotivisch durchs Becker-Werk wiegenden Pappeln.
„Die Sätze verschmolzen die Jahre in einem Haus / unter dem Rauschen wirklicher Pappeln / wo einmal rauschte / im Radio das Radio-Geräusch einer Brandung“ heißt es 1974 im Band „Das Ende der Landschaftsmalerei“. Am 10. Juli dieses Jahres feierte Jürgen Becker seinen 90. Geburtstag. Ihm zu Ehren schauten Dlf und Dlf Kultur auf die jetzt bei Suhrkamp erscheinenden Journalgedichte (hier).
Zwei Becker-Hörspiele wurden gesendet – und Nadja Küchenmeister, selbst eine herausragende Lyrikerin, besuchte den Büchner-Preisträger von 2014 daheim, sodass auch dieses Radio-Fest, wenngleich ohne Mittelwelle (abgeschaltet seit 2015) – ein rauschendes wurde.
Das Horst-Wessel-Lied in Rom
Die drängende Aktualität wird schon im ersten Gedicht der „Gesammelten Werke“ offenbar, in „Fragment aus Rom“, mit dem kleinen Wörtchen „hier“ beginnend – jenem Wort also, das in den folgenden Jahrzehnten immer mehr die intellektuellen Diskurse bestimmte. Was ist hier, was woanders und ist das, was woanders ist, eine Bedrohung für unsere Gegenwart? 1971 wurde „Fragment aus Rom“ im Debütband „Schnee“ veröffentlicht: „hier, / wo immer das ist: das ist jetzt die Frage / (jetzt immer): was ist und was drankommt, / hier / ist jetzt …“
Da steht ein lyrisches Ich an oder vielmehr in der Wiege unserer Zivilisation, in Rom, und fragt eben nicht, was war und in welcher Weise Ovid, Horaz und Dante weiterhin wirken, sondern erzählt auf sage und schreibe (selten passte diese Formulierung besser als bei Jürgen Becker) dreizehn Seiten von Poststreiks und „quasi Reihenhausidyll. / Frauen. Kinder. Wäscheleinen / Mauer ums Ganze, den Park“.
Welche Mauer mitgemeint ist, wird wenige Zeilen später deutlich: „Hammer & Sichel / sah ich erst wieder, ganz legal, / auf der / Piazza Bologna / kreisen /mit Horst-Wessel-Lied die Fiats 500 des MSI.“
Hammer und Sichel also, Zeichen des Kommunismus. MSI muss man heutzutage nachschlagen, es ist der „Movimento Sociale Italiano“, eine neofaschistische italienische Partei, die 1995 in der gemäßigt auftretenden Alleanza Nazionale aufging. – Da werden also, im ersten Gedicht, gleichzeitig eine Gegenwart und die politische Geschichte der vergangenen vierzig Jahre angespielt, von der „Totenkopf-Heimat“ (SS) über die anbrechende „IBM“-Computerisierung bis zur immer einflussreicheren Globalisierung:
„Und via Grammatik / verteilt man sich weiter und der Kopf ist / noch immer ein Globus / (Miami erst wirklich zum Beispiel) (Wirklich auch / Mister John Faulks: ‚Sucht Erdöl in der Nordsee. / Studiert Wahltrends in England., Baut Staudämme / in Malaysia. Ohne London zu verlassen.’).“
Warum es immer weiter geht
Zwischen zirka 1968 „Cross the Border – Close the Gap“ bis 2004 (Gründung von “Facebook”, damit beginnendes Ende der musikeuphorischen „MySpace“-Plattform) wurde dem Pop nachgesagt, er habe den ersten Zugriff auf die Wirklichkeit, auf das, was „gerade eben jetzt“ von Bedeutung ist. Doch mit Jürgen Beckers Werk wird ein weiteres Angebot zur Gegenwartsbeobachtung gemacht, niemals stillstehend, vom Jetzt ins Morgen drängend. Selbst das letzte Gedicht dieses Bandes signalisiert deutlich, dass es weitergehen wird, dass Jürgen Becker nicht bereit ist, in die Zielgerade einzubiegen, geschweige denn, einen Punkt zu setzen, „Gesammelte Werke“ hin oder her – welch ein Glück, dass es weitergeht und mit einem Gedankenstrich endet:
„Zeitlebens ist geblieben ein Rest, / und du weißt nicht, wenn sie wegkehren das Zeug oder / wiederverwenden, was die Nachkommen sich dabei denken. /Nachtfröste mitten im Mai, in jedem Fall das Wasser / abstellen, und tagsüber ist es so kalt, daß man einen Pullover braucht für draußen –“
Jürgen Becker: „Gesammelte Gedichte: 1971-2022“, Suhrkamp, 1124 Seiten, 78 Euro.