„Er war einfach ein Junge, der sich HATE hinten auf die Jacke geschrieben hatte, ein ganz normaler Junge.“ Joy-Division-Bassist Peter Hook erinnert in „Unknown Pleasures“ nicht nur an Ian Curtis, sondern schreibt vor allem die Vorgeschichte von Laurent Garniers „Elektroschock“ weiter – mit einem grandios rauen Musikerbuch.
Im Dezember 1976, beim zweiten Sex Pistols-Konzert in Manchester (das legendäre erste Konzert mit Morissey und Mark E. Smith im Publikum fand bereits im Juni statt) ist es normal, als junger Mann seinen Weltekel öffentlich zur Schau zu tragen, als ständige Statusmeldung, die nicht alle paar Stunden aktualisiert werden muss. Die Pistols sind an diesem Tag gleich aus zwei Hotel geflogen, ein Luxus, der Joy Division während ihrer kurzen Karriere nie vergönnt sein wird. Denn Peter Hook, Ian Curtis, Bernard Sumner und Stephen Morris übernachten in Jugendherbergen, abgerissenen Hostels, im klapprigen Tourbus, einmal sogar im Bordell (in dem sie aus betrieblichen Gründen erst ab ein Uhr nachts einchecken dürfen).
„Es ist eigentlich lustig, wenn man es so betrachtet, denn hätten wir heute ein Album wie Unknow Pleasures rausgebracht, wären wir für den Mercury nominiert, würden auf dem Glostonbury rumstolzieren, uns der Freundinnen von Kate Moss erwehren müssen und mit Fearne Cotton auf Sofas rumsitzen. Damals bewegten sich die Dinge viel langsamer. Independent-Musik blieb Underground.“
Vor dem Hintergrund der späteren Musikgeschichte, der Gründung von New Order, dem Hacienda-Club, von Bands wie Interpol oder den Editors ist Joy Division (bekannterweise) der raue Beginn. Doch erst das Buch von Peter Hook setzt dem doch arg romantisierenden „Control“ von Anton Corbijn die dreckigere Wirklichkeit entgegen. Hier gibt es keine „working-class-heroes“, hier steckt das Asi-Sein in jeder Pore. Noch mit 32 wird Peter Hook von seiner Mutter „grün und blau“ geschlagen, weil er sich ein Tattoo hat stechen lassen.
„Manchester, eine Stadt, deren Arbeiterviertel Friedrich Engels als vollends abscheulich bezeichnet hatte, litt immer noch unter den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs“, schreibt Kevin Cummins in seinen Joy-Division-Bildband, der vor zwei Jahren erschienen ist. „Die durch Bomben schwer zerstörte Stadt wurde in den 1960ern Opfer eines verfehlten Wiederaufbauprogramms und sah deshalb in den 1970er Jahren fast sozalistisch-europäisch aus.“ Und sie war kein bisschen farbig, sodass Peter Hook in seinem Buch irgendwann anmerken muss, dass ihm bei „Control“ zunächst gar nicht aufgefallen war, dass Anton Corbijn seine Geschichte in Schwarzweiß erzählt, denn seine Vergangenheit ist Schwarzweiß, kein bisschen bunt (bis auf die kurze Zeit, die er in seiner Jugend auf Jamaica verbringen konnte).
Auf den Konzerten schlagen sich die rivalisierenden Banden, auf den Straßen von Manchester treten Polizisten unliebsame Punks zusammen, in den Arbeitervierteln saufen die meisten Ehemänner und verprügelten anschließend ihre Frau – glaubt man Peter Hook. Gleichzeitig ist das sozialistische Great Britain der Vor-Thatcher-Zeit ein kurioses Pflaster. Die Gewerkschaften sind mächtig. Sie setzen sogar durch, dass auf jeder E-Lok ein Heizer mitzufahren habe. Als ein Scheinwerfer auf der Bühnen den Joy Division-Soundchek unmöglich macht, kommt es zu einem für jene Zeit typischen Dialog:
„Oh, fass das nicht an. Das gehört zum Licht. Wir sind der Ton. Die sind von der Kamera. Das gehört zum Licht, das dürft ihr nicht anfassen.“ – „Okay, aber wir müssen ihn verschieben, damit wir spielen können.“ – „Ihr dürft das nicht anfassen.“ – „Was?“, sagten wir, „Was soll das? Wovon redet ihr? Wir müssen Soundcheck machen.“ – „Nein, rührt das nicht an“, sagten sie. Sie klebten ihn mit Band ab, um ihn zu kennzeichnen, dass wir ihn nicht berühren durften. Uns standen die Münder offen.
„Wir können keinen Soundcheck machen.“ – „Ihr müsst eben warten.“ Rob wollte davon nichts wissen. Er ging rüber und wollte den Scheinwerfer packen, als einer der Typen ihn anschrie: „Oh nein, rühr ihn nicht an. Fass ihn an und wir streiken alle zusammen. Dieser Scheinwerfer gehört der Beleuchtergewerkschaft.“
Damals gibt es: kein MTV, keine Videopromo, keine Vorschüsse für unbekannte Indie-Bands wie Joy Division, höchstens ein paar Pfund und Freibier. Studiosessions müssen aus eigener Tasche bezahlt werden, Pfund für Pfund, das in regulären Jobs verdient werden will. Tagsüber Fron-, nachts Poparbeit, ohne Rücksicht auf Familie oder Krankheiten, Popsklaven im Geiste Michael Jacksons. Es ist ein Wunder, dass ein paar der Jungs von damals fresh geblieben sind: Morrissey wird vergöttert denn eh und je, Mark E. Smith hat 2007 gemeinsam mit den Düsseldorfern Mouse on Mars unter dem Bandnamen Von Südenfed das Album Tromatic Reflexxions veröffentlicht.
Ein wildes, ungehobeltes Buch, zu dem es beinahe passt, dass etliche Rechtschreibfehler den Lesefluss immer wieder stoppen, beinahe so, als hätte das deutsche Lektorat den bekanntesten Patzer von „Disorder“ nachahmen wollen, oder wie Peter Hook über seine Verspieler schreibt: „Das Seltsame ist, dass sie heute Teil des Songs sind, obwohl es falsche Töne sind. Sie sind dort, wo ich die tiefe Saite spiele und mit meinem Plektrum A und D erwische, was diesen Gitarrensound verursacht. Wenn ich es mir heute anhöre, kann ich mir Disorder nicht ohne diese Töne vorstellen.“
Nun punktet „Unknown Pleasures“ mit etlichen Trouvaillen aus der Joy-Division-Zeit, die in Farbe abgedruckt sind. Wer vom „Control“-Film nicht genug bekommen kann, der blättert in dem großformatigen Anton-Corbijn-“Buch zum Film“ (Schirmer-Mosel, 136 Seiten, 49,80 Euro) oder, noch klarer zum fetten Joy Divsion-Bildband von Kevin Cummins (Edel, 208 Seiten, 200 Bilder, 29,95 Euro), der in musealer Weise handgeschriebene Setlisten, Flyer, NME-Cover, Faksimiles von Ian Curtis‘ Songtexten, schwarz-weiße Konzertfotos, die größtenteils Ian Curtis allein am Mikro zappelnd zeigen.
Das Vorwort kommt von Jay McInerney, der erzählt, wie er beim Schreiben von Bright Lights, Big City vier LPs besonders häufig hörte: „Remain in Light“ von den Talking Heads, „Armed Forces“ von Elvis Costello, Muddy Waters‘ „Hard Again“ und „Closer“ von Joy Division, wobei gerade Letztere Platte über eine besonders breite Emotionspalette verfügte und ihn daher auf eine besondere Weise für sein Debüt inspirierte. Jay McInerney gehörte damals zum literarischen „Brat / Bret Pack“ um Bret Easton Ellis (nicht zu verwechseln mit dem Brat Pack um Andrew McCarthy und Rob Lowe) und tatsächlich ist es ein bisschen wie bei „Spiel mir das Lied vom Tod“, wo Sergio Leone Bilder für Ennio Morricones Musik gefunden hat. „Bright Lights, Big City“ ist in seinen nihilistischen Momenten durchaus die Bebilderung von „Unknown Pleasures“, „Still“ und „Closer“.
NME-Fotograf Kevin Cummins erinnert sich in einer leicht spräden Einleitung, wie schwer es Joy Division anfangs in ihrer Heimatstadt gehabt hatten, wie es dann nur langsam aufwärts ging und wie die ersten Shootings abgelaufen sind. Auch das daran anschließende Interview mit Joy-Divison-Gitarrist Bernard Sumner ist keine Sternstunde journalistischen Talks („Wie ist die Band entstanden? Hast du jemals irgendwas aufgelegt? Wann hattest du zum ersten Mal eine Gitarre in der Hand?). Aber es ist schließlich ein Bild-, kein Interviewband und als Ergänzung zu Peter Hooks‘ Buch ein Gewinn, wie sagt man: „für Fans“.
Peter Hook: „Unknown Pleasures“, übersetzt von Stephan Pörtner, Metrolit, 340 Seiten, 24,99 Euro
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