Das Einkaufszentrum als Miniaturwelt: Der Berliner Albrecht Selge erzählt in seinem hoch gelobten Debütroman „wach“ von der Nervosität eines Junior-Managers.
„Kein Alkohol mehr, stattdessen dunkle Schokolade, vor dem Zubettgehen Rooisbos-Tee, warme Socken, onanieren: oder ein paar Schritte an der frischen Luft.“ Der letzte Ratschlag, den BWL- Absolvent August beherzigt, ist fatal. Monatelang wird er wie ein Grossstadt-Zombie durch die Berliner Dunkelheit wandeln. „Freundlich die gestirnte Nacht wie ein müdes Kind empfangen.“ Das ist für August Utopie. Dabei könnte der Shopping-Mall-Manager erschöpft in die Federn fallen. Seine Anstellung zwischen Trevibrunnen-Nachbau, „Kiosque Montmatre“, Confisserie „Dolce Vita“ und „Brittania Wool Store“ gestaltet sich Nerven aufreibend. Sein manischer Chef ist Xerxes, wie der berühmte ägyptische Pharao, dessen Name ironischer Weise „herrschend über Helden“ bedeutet. Der Shopping-Mall -Xerxes herrscht eher gegen „Helden wie wir.“ – Allein, dass er die dicken Bretter der Philosophie zu bohren weiß, verleiht Xerxes etwas Pharaonenhaftes.
Verzweifelt lauert er in Sichtweite der Center-Drehtür und jammert: „Das Grauenerregende ist ja, dass die Menschen, wenn sie hier hinausgehen, älter sind, als sie beim Hereinkommen waren.“ Nebenbei ermahnt er August, die Krawatte „männlicher“ zu binden. Es ist nicht leicht, einem Vorgesetzten zu dienen, der glaubt, Herrschaftswissen habe ihn erleuchtet und der mit Business- Vokabeln um sich wirft, als gelte es, den Deutschen Meistertitel im Bullshit -Bingo zu gewinnen. August muss sich selbstverständlich anpassen, wenn er monatlich das Editorial fürs Werbeblättchen „LustschlösschenCenter Aktuell“ textet und stets mit dem lateinischen, also schwer bildungsbürgerlichen Hinweis schließt: „Ceterum censeo: Unterhaltungs-Elektronik war noch nie so günstig wie heute.“ Oder auch: „PreisClou des Monats® in unseren Verbrauchermärkten: zuckersüße Multi-Beeren aus der Region und extra-geräumige Planschbecken – Badespaß pur für Groß und Klein unter dem Kuss von Sonne und Hundsstern!“
Doch selbst so viel Sinnentleerung lullt den Helden nicht ein. Er bleibt: „wach“, was in der Moderne kein gutes Zeichen sein kann. Im Neuen Testament wird noch erzählt, wie der Schlaf von Jesus‘ Jüngern im Garten Gethsemane Verhaftung und Kreuzigung ihres Heilands begünstigte. Selbst um 1200 entgeht dem tapferen Minneritter Moritz von Craun ein Schäferstündchen, weil er erschöpft in der Kemenate einpennt, bevor die Dame seines Herzens eintrifft (die empört abrauscht, als sie den Helden im tiefen Schlaf, statt in freudiger Erregung vorfindet). 2000 Jahre später ist dagegen nicht der Schlaf, sondern die Schlaflosigkeit ein Übeltäter. So führt Insomnie in Chuck Palahniucks „Fight Club“ zu Wahnvorstellungen beim namenlosen Helden, der nach einigen wachen Nächten den prügelnden Tyler Durden halluziniert. Denn: Der Mensch musschillen , im Traum sein aufreibendes Leben verarbeiten. So will es die Moderne seit Traumdeutungs-Psychoanalytiker Sigmund Freud.
Jungmanager August legt sich stattdessen nicht hin, sondern geht los, aufs Geratewohl, entwickelt im Gehen malerische Kopfbilder: „Der Wind, vorher kaum zu spüren, ist stärker geworden. Breit sitzt es auf Häuserblöcken, vom Morgen glänzt sein roter Bauch, zu seinen Füßen kniet die große Stadt.“ Was sehr nach Georg Heyms Gedicht „Gott der Stadt“ klingt: „Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. / Die Winde lagern schwarz um seine Stirn. / Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit / Die letzten Häuser in das Land verirrn.“
Das Berlin von Albrecht Selge wird also expressionistisch verfremdet. Es ist Moloch, vor allem draußen, vor allem nachts. Im Einkaufszentrum, drinnen und tagsüber, ist die Welt dagegen konsumierbar, wiederspruchsfrei, klar. Frankreich ist eine Modezeitschrift. Italien ein Olivenöl. Persien wird in Goldketten verkauft. Der Amazonasregenwald ist ausnahmsweise kein WWF- Sorgenkind, sondern Produzent der purpurschwarzen Acai-Beeren („höchster je gemessener ORAC-Wert, entspricht dem Wellness-Wert einer Frucht – auch als Superfruit Smoothie „).
August wird zwischen Stumpfsinn am Tag und Nachdenken in der Nacht, zwischen Innen- und Außenwelt derart zerrissen, dass er sich irgendwann sogar von einem Doppelgänger verfolgt sieht: Nicht in der Realität, sondern im Internet, was dann eine weitere Zweiteilung ist. Und während man noch überlegt, ob das Gegenteil von Wachheit eigentlich Schlaf oder auch ein 9to5-Job sein kann, hat Albrecht Selge seinen hypernervösen Helden mit ruhiger Sprache gebannt, bis August endlich, erlöst wird. Verdientes Ende eines nervösen Helden, den man gern begleitet, auf seinem Weg durch die Stadt. Ruhe sanft.
Albrecht Selge: „Wach“ Rowohlt, 256 Seiten, 19,95 Euro