Da gibt es diesen jungen Neapolitaner, verängstigt, seit er einen alten Mann ins Koma geprügelt hat. Wacht sein Opfer auf, kommt er ins Gefängnis. Mit wem kann er reden? „Mit Pinuccio und Tonino die nichts raffen? Mit denen kann man Spaß haben, Weiber angraben, die prügeln sich, wenn es sein muss, aber was mit mir los ist, kapieren sie nie im Leben.“ Soll er sich bei Jessica ausweinen? „Die ist doch nur zum Ficken gut. Vielleicht erzählt sie es dann auch noch rum, dann steh ich blöd da.“
Hilflos geht er in die Karmeliterkirche, zündet eine Kerze an, legt zehn Euro in den Opferstock und betet mit Blick zur Madonna: „Lass ihn sterben, bitte. Der ist alt, hat sein Leben hinter sich, es ist besser für alle, wenn er stirbt.“ Doch Gott hat einen ganz anderen Plan – der Neapolitaner wird den alten Mann wiedersehen. Roberto Saviano hat mit seinem inzwischen verfilmten Reportagebuch „Gomorra“ erfolgreich aus dieser Schattenwelt der Straßenräubereien, Erpressungsversuche und Anschläge berichtet, von Überfällen mit Maschinenpistolen und von „Pulp Fiction“ als Rollenvorbild junger Camorrista. Saviano hat den Untergrund Kampaniens ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Über Vereinigungen wie die Camorra, die ‘Ndrangetha oder die Mafia wird seitdem mit höchster Aufmerksamkeit (und oft noch größerer Angst) gesprochen. Der 49-jährige Neapolitaner Andrej Longo knüpft nun, nicht ungeschickt, mit seinem mehrfach ausgezeichneten Erzählband „Zehn“ bei Saviano an,.
Der Eichborn-Verlag hat nach Neapel eingeladen, um mit dem Autor einen Tag an den Schauplätzen seines Buchs zu verbringen. Dazu gehört die Altstadt mit ihren eng gebauten Gemäuern, die auf antik-griechische Grundfeste errichtet sind. Dazu gehören die stickigen Gassen, wo billige Kleidung zum Trocknen in acht Metern Höhe flattert. Es geht auch zum trostlosen „Piazza del Marcato“ am Containerhafen, fußläufig vom „Stazione di Napoli Centrale“ zu erreichen, dem Hauptbahnhof mit seinem berüchtigten Drogenviertel. Zum Einstieg bittet Andrej Longo in die Altstadt-Pizzareria „Gino Sorbillo“, zum Tisch mit der Nummer 23. „Das ist die Zahl der Irren“, sagt er und erklärt, dass in Kampanien alle Zahlen mit mystischen Bedeutungen belegt sind und dass sie, einmal im Traum erschienen „automatisch deine Tombola-Glückszahl“, werden. Auf die Frage, wofür die „Zehn“ als titelgebende Zahl seines Erzählbandes stehe, lacht er. „Keine Ahnung, im Zweifelsfall immer für Diego Maradona.“ Der Ausnahmefußballer hat von 1984 bis 1991 mit dieser Rückennummer beim SSC Neapel gespielt, in den sogenannten „Goldenen Jahren“, mit zwei Titelsiegen bei der Italienischen Meisterschaft (1987 und 1990) und dem UEFA-Pokal 1989. Woher der Verein die 13,5 Milliarden italienische Lire für den damals teuersten Spielertransfer aller Zeiten organisiert hat, ist bis heute ungeklärt.
Die Camorra hat häufig ihre Finger im Spiel, wenn Kapital benötigt wird – und wie Longos Helden schert sie sich einen Dreck um Anstand, Ehre, und die zehn Gebote. „Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ Mit derartigen Sätzen haben die beiden Bengels, die in einer Geschichte den falschen Ferrari aufbrechen ebenso wenig einen Vertrag wie Stadtteil-Pate Giggino Mezzanotte, der einen 17-jährigen, hochanständigen Kellner in der Disco für seine schmutzigen Geschäfte rekrutiert. Bei Wein und Pizza Margherita, die weit über die Teller hinauslappt, erklärt Longo: „Die Camorra ist, anders als die Mafia, nicht hierarchisch strukturiert. Alle machen zu gleichen Teilen mit. Es kann es durchaus sein, dass eine Rentnerin sich etwas dazuverdient, indem sie Kokain unterm Bett versteckt. Jeder ist potentiell verdächtig.“ Geht man tagsüber durch Neapel, wirken solche Gedanken abwegig. Die Menschen sind fleißig. Wenn jemand ein Restaurant besitzt oder vielleicht sogar eines der schicken Cafés am „Piazza Bellini“, dann arbeitet die komplette Familie mit. Wenige Schritte weiter bieten in der belebten „Via Port‘Alba“ kleine Buchläden, dicht an dicht, Romane, Bildbände, Antiquarisches aus mehreren Jahrhunderten und „Scolastica“, Schulbücher. Hier kauft nicht nur das Bildungsbürgertum ein. „Alle wollen lesen, alle wollen schreiben“, sagt Longo, während wir von der „Piazza Dante Aligheri“ aus tiefer in die Altstadt, Richtung Hafen gehen.
Die Geschäfte, die nun auftauchen, vom Feinkostladen bis zu Musikalienhandel, werden selbst an Karfreitag und über die kompletten Osterfeiertage geöffnet haben. Keine Spur von Laissez-faire. Allein die Touristen schlendern gemach durch die Krippenstraße, oder die „Via San Biagio dei Libra“, studieren die Inschriften an der „Università degli Studi di Napoli Frederic II“, fotografieren, weil es zur Folklore dazugehört, die gelangweilten Carabinieri mit ihren weißen Pistolenhalftern. Sie lassen sich beschützen und bedienen , während die Einheimischen, sofern sie Arbeit haben, schuften. Dennoch kann die Ruhe täuschen. „Wenn dich vor 15 Jahren jemand nachts in Neapels Gassen überfallen hat und fragte, ob du Geld dabeihättest und du hattest nichts dabei, konntest du in Ruhe weitergehen“, sagt Longo. „Man hat dir vielleicht noch lachend auf die Schultern geklopft. Aber wenn dich heute jemand mit der Pistole anhält und du rückst keinen Cent raus, dann wirst du einfach zusammengeschlagen.“
Andrej Longo ist auf auf der malerischen Vulkaninsel Ischia (im Golf von Neapel) aufgewachsen. Sein Vater war Architekt, „ein Künstler, der immer wieder Ärger mit seinen Bauherrn bekam, weil er hartnäckig an seinen Entwürfen festgehalten hat.“ Mit der Camorra kam er damals nicht in Berührung, „weil sie in Ischia schlichtweg nicht existiert.“ Nach dem Abitur in Neapel zog Longo nach Bologna, zum Studium an der Kunst- und Medienakademie. Danach arbeitete er für einen Radiosender in Rom, schrieb Drehbücher, die nie verfilmt wurden und Romane, die anfangs keiner lesen wollte. „Aber meine Frau Lucy, der ich ,Zehn‘ gewidmet habe, träumte eines nachts, dass ihr Mann Schriftsteller sein würde. Und man muss seine Träume ernst nehmen. Deshalb hat sie mich auch stets angehalten, weiterzuschreiben, besonders am Anfang, als ich mir von ihr noch das Portogeld für die Verlagspost leihen musste.“
Longos Frau lebt in Rom. Der Autor aber hat keinen festen Wohnsitz. „Ich bin ein Bohemian, eine Zigeunerseele“, sagt er, „ich lebe alle zwei, drei Wochen woanders, bei Freunden, bei meiner Familie, mal in Rom, dann wieder in Neapel. Meine Papiere liegen in Ischia.“ Deshalb hat er auch Pizzabäcker gelernt. „Damit ist man auf der ganzen Welt gefragt, man muss sich nicht festlegen, ist frei.“
Von Freiheit träumen auch die meisten seiner Figuren. Da weigert sich ein Mädchen am Hochzeitstag, den ihr zugeschanzten Berufsverbrecher zu ehelichen und inszeniert mit ihrer Mutter ein spontanes Theaterstück, das dem Gatten in spe auf immer die Lust an ihr verwehren sollte. Ein Mann arbeitet als Pizzabäcker in einer anderen Stadt, er will mit dem Camorra-Sumpf daheim nichts zu schaffen haben, und er opfert seine Beziehung für seine Ruhe.
Ein Vater greift selbst auf dem Rummelplatz zur Pistole, weil er glaubt, seinen Sohn vor zwei 12-Jährigen beschützen zu müssen. Zwei Freunde kurven durch die Stadt, der eine hat gerade seinen Einsatz im Afghanistan-Krieg überlebt, nur um dann ausgerechnet in Neapel einem Verbrechen zum Opfer zu fallen.
Das ist alles pathetisch und skandalisierend, das ist für Leser deutscher Kurzgeschichten ein Kulturschock, der in ähnlicher Weise den Unterschied zwischen deutscher und italienischer Popmusik markiert, geschuldet der Differenz zwischen hiesiger Mittelklassemelancholie auf der einen Seite und Überlebensangst in einer 4,5 Millionen-Metropole mit über 20 Prozent Arbeitslosigkeit auf der anderen. Wer auf eigene Faust durchkommen will, hat es in Neapel schwer. „Jede Gasse ist eine Lebensgemeinschaft. Man passt auf die Kinder der Nachbarn auf, jeder hat hier einen Freund, sagt man, einen helfenden Gefährten.“ Die einen werden von der Hand der Camorra bezahlt, ohne selbst jemals straffällig zu werden. Die Camorra ist der größte Arbeitgeber, auf dem Bau, im Hotelgewerbe, sogar viele Glasereien sind in ihrer Hand – sie fertigen das schusssichere Glas, auf dem dann, glaubt man Saviano, irgendwelche Verbrecher ihre Uzzi ausprobieren. „Die Kriminalität ist besonders ein Problem der kleinen Leuten, die keine finanziellen Mittel habe, keine Ausbildung, gerade in der Peripherie, wo der Staat quasi nicht existent ist. Die Hilfe von außen kommt hauptsächlich über private Organisationen. Das sind dann ganz normale Leute aus den Vierteln.“
Die Bessergestellten verschanzen sich hoch oben auf dem Berg, wo man sich fühlt wie im Quartier Latin von Paris, angesichts der sündhaft teuren Stadtvillen, bewohnt von schicker gekleideten, auch wesentlich dünneren Söhnen und Töchtern höherer Schule. Sie wachen morgens auf und blicken über den Golf von Neapel, wo am nahen Horizont die Schnellbote, am ferneren die Lastkähne ihre Bahnen ziehen. Die Luft ist besser. Die Hunde sehen gepflegter aus. Man sagt der neapolitanischen Mittelschicht eine unnachahmliche Dünkelhaftigkeit nach. Die Abgrenzung nach unten wird markiert durch überkandidelt feine Manieren, durch echte Markenkleidung, falsche Freundlichkeit und das obligatorische Haus in Capri. Gross ist dieses Haus meistens nicht. Aber am Ende des Sommers will man unter Freunden den obligatorischen „Capri-Satz“ fallenlassen, auch wenn die 12-köpfige Großfamilie zwei Monate lang auf 50 Quadratmetern hauste.
Noch eingeengter fühlt sich der junge Verbrecher, der so inständig Gott angefleht hat, er möge den alten Mann nie wieder aus dem Koma erwachen lassen. Doch es passiert das Unwahrscheinlichste. Irgendwann wird er dem alten Mann wieder begegnen: „Ich zwang mich, seinem Blick standzuhalten, aber es fiel mir schwer, ich wollte die Augen senken. Nicht aus Angst, das nicht. Keine Ahnung, warum. Der alte Mann fragt ihn leise: „Brauchst du noch mehr Geld?“ Und der Junge schüttelt den Kopf. „Dann hielt ich es nicht länger aus und rannte weg.“ Rätselhafterweise ist er nach dem Überfall nicht angezeigt worden. „Vorher dachte ich, alles easy, alles kein Problem. Ich dachte, dass es zwei Arten von Menschen gibt, die, die den Blick senken und die, die ihn nicht senken. Die Idioten, also die meisten, und die Starken, die die Welt unter sich aufteilen, weil sie vor nichts Angst haben. Aber jetzt ist es anders. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Was das alles bedeutet.“
Andrej Longo: „Zehn“, übersetzt von Constanze Neumann, Eichborn, 158 S. 17,95 Euro
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