Interview: Quo vadis Geisteswissenschaft?

Man kennt ihn vor allem durch seine klugen Artikel auf spiegel.de: Armin Himmelrath. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften und Germanistik (Lehramt) in Wuppertal und Beer Sheva arbeitet er seit 1986 in freier Mitarbeit für unterschiedliche Print-Redaktionen wie die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel und veröffentlichte Bücher wie das „Handbuch für Unihasser“ (bei KiWi) Er beschäftigt sich vor allem mit den  Rahmenbedingungen von Bildung und Wissenschaft, also in der Regel nicht mit einem bestimmten Forschungsergebnis, sondern eher mit der Frage: wie kommen diese Ergebnisse zum Beispiel in den Geisteswissenschaften zustande? – Ein Gespräch über die neue Bedeutung der Hochschullehre, über Lady Gaga-Dissertationen, den wirtschaftlichen Nutzen der Germanistik und die neue Depressivität an den deutschen Universitäten. (Zum gleichen Thema habe ich hier im Blog #Akzelerationist Armen Avanessian interviewt.)

Immer wieder wird darüber diskutiert, ob das deutsche Bildungssystem die Bürgerkinder bevorzugt. Ist die Beobachtung zutreffend? Der Zugang zu universitären Bildungsgängen ist in Deutschland ohnehin beschränkt. Das wissen wir spätestens seit PISA. Er beschränkt sich unter anderem ganz erheblich durch das so genannte Bildungserbe. Was die Eltern sind geben sie zu ganz großen Teilen an ihre Kinder weiter. Das führt letztlich zu fast professionellen Zirkelschlüssen innerhalb von Familien – über Generationen hinweg. Das krasseste Beispiel sind häufig Lehrer. Lehrer kommen aus Lehrerfamilien, haben zu Hause immer Lehrerdasein erlebt, gehen selber in die Schule als Schüler, kommen aus der Schule raus, denken vielleicht so etwas wie: „Ich würde gerne was mit Kindern machen“, vielleicht denken sie auch: „Ich würde gerne etwas Vertrautes machen“, und dann schreiben die sich für ein Lehramtsstudium ein.

In welcher Weise ist die deutsche Universität auch Produzent prekärer Verhältnissen? Man muss nur auf den Mittelbereich schauen, den so genannten „Mittelbau“ – der heißt tatsächlich so. Der ist in den Achtziger- und Neunzigerjahren massiv weggespart worden. Jene, die die alltägliche Kärrnerarbeit in den Hörsälen und Seminarräumen machen sind letztlich so reduziert und eingedampft worden, bis man festgestellt hat: das sind zu wenige. Wir brauchen wieder mehr. Jetzt fängt man an, das wieder aufzubauen. Man redet auch darüber, ob wir so was wie Lehrprofessuren brauchen, ob wir stärker einen Fokus auf Unterricht und Lehre setzen müssen.

Verlangt nicht das Humboldtsche Ideal nach einer Verbindung von Lehre und Forschung? Gerade bei älteren Professoren klingt die ganz starke Fokussierung auf die Forschung durch. Qualität und das „Gutsein“ im Beruf definierte sich im Wesentlichen darüber, ob man gute Forschungsleistungen bringt oder wie man diese gut nach Außen verkaufen kann. Es definierte sich viel viel weniger darüber, ob ich guten Unterricht mache, also ob ich gut in der Lage bin, mein Wissen weiter zu geben. Das galt immer als gesetzt: Wenn ich ein guter Forscher bin, dann klappt das schon irgendwie mit dem Unterrichten. Das wurde im Wesentlichen nicht abgeprüft.

Widerspricht eine Lehrprofessur nicht dem Humboldschen Ideal? Ich glaube, dass eine Lehrprofessur das Humboldtsche Ideal der Einheit von Lehre und Forschung nicht zwangsläufig aufweicht. Es verschiebt nur ein wenig die Akzente bei der Frage: „Woraus definiert sich ein Professor?“ Vielleicht genauer: „Woraus kann sich ein Professor definieren?“ Bisher war die Antwort eindeutig: „Der definiert sich über die Forschung.“ Und die Lehre ist ein Appendix, ähnlich wie beim Blinddarm, den man nicht wirklich braucht. In der Art: „Im Zweifelsfall kommt eine gute Professur auch ohne Lehre aus.“ Ich glaube, dass das Quatsch ist. Ich glaube, man wird in seinem Fach dadurch besser, dass man vermittelt, dass man gezwungen ist, Gedanken, die man implizit längst verstanden hat, auch umsetzt, sie explizit darlegt, ausarbeitet, schärft. Auch ein Lehrprofessor wird keinesfalls Karriere machen, ohne jemals zu forschen. Die Einheit ist gar nicht aufgehoben,


Ändert sich das Zusammenspiel von Forschung und Lehre inzwischen?
Es gibt an den Hochschulen etliche Projekte, die sich mit der Qualität der Hochschullehre beschäftigen. Es hat natürlich auch damit zu tun, dass seit dem Bologna-Prozess Hochschullehre stärker im Fokus steht. Man kann über den Bologna-Prozess viel diskutieren, aber die Tatsache, dass da zum Beispiel Wert auf Arbeitsmarktangebundenheit gelegt wird, auf employability, wie dieses Schlagwort lautet, das ist schon eine Fokus-, eine Perspektivverschiebung hin zu den Bedürfnissen der Studierenden.

61+FrPbkl7SDie Uni hat sich generell geändert – inzwischen werden sogar wissenschaftliche Arbeiten über Lady Gaga verfasst. Ich finde es nicht schlimm, eine Dissertation über Lady Gaga zu schreiben oder über Headbanging oder auch über das Spielen von Luftgitarren. Wenn ich mich kulturwissenschaftlich damit beschäftige – warum nicht? Die Idee dahinter ist; ein neues Phänomen, oder vielleicht auch ein altes Phänomen, neu zu betrachten. Das finde ich beispielsweise für eine Dissertation gerechtfertigt. Ob diese dann im Einzelfall gehaltvoll genug ist, kann ich natürlich nicht pauschal für alle Themen sagen. Das muss tatsächlich der betreuende Dozent, beziehungsweise derjenige sagen, der das zu bewerten hat. Aber grundsätzlich ist das nicht falsch.

Und dann werden diese Arbeiten meistens nicht einmal gelesen. Eine große Depression hat den geisteswissenschaftlichen Betrieb heimgesucht. Woher kommt das? Die Depressivität, die einen an der Uni befallen kann, egal ob als Dozent oder ob als Studierender, die kommt ganz stark aus einer Entwicklung, von der sich sagen würde, steht dieser fachlichen Vielfalt, die ich sehr begrüßenswert finde, entgegen;

nämlich der Tatsache, dass ich mich an relativ strikte Regeln zu halten habe; dass ich wenig eigene Freiräume habe in meinem Studium, um mir Dinge raus zu suchen, von denen ich sagen würde: „Ja, die interessieren mich jetzt“.

Was bedeutet das konkret? Vielleicht möchte ich Germanistik studieren und mich zwischendurch mit Schumpeters Wirtschaftstheorie beschäftigen. Warum nicht? Nur: In einem Bachelor-Studium habe ich dafür keinen Platz. In einem Master-Studium habe ich dafür keinen Platz. Wenn ich Lehrbeauftragter bin oder Mittelbauer und meine acht oder zehn oder zwölf oder vielleicht sogar sechzehn Semesterwochenstunden lehren muss; dann bin eingebunden in einen relativ eng definierten Kanon, obwohl das Fach den eigentlich längst nicht mehr hergibt. Und der Kanon ist kleinteilig. Das ist tatsächlich ein Problem der Bologna-Reform, dass diese mal angestrebte Modulbildung, also die Zusammenfassung zu größeren inhaltlichen Blöcken, gar nicht stattgefunden, sondern dass diese Reform zu einem viel kleinteiligeren Studium als früher geführt hat. Für jeden Kleinstanteil an einem Minimodul gibt es eine eigene Prüfung, einen eigenen Leistungsnachweis. Wenn das so klein und reguliert und im Grunde kleingeistig reguliert ist, dann bin ich natürlich nicht verwundert, dass viele Leute sagen „Das macht mich depressiv!“

Wie gestaltete sich das Studium denn zu Deiner Zeit? Ich habe von 1988 an studiert, fünfzehn Semester, auf die ich mittlerweile sehr stolz bin; mit Abschluss. Als ich im ersten Semester in den Fachstudienberater im Fach Pädagogik um Rat fragte, sagte der: „Ich empfehle Ihnen überhaupt nix. Machen Sie erst mal, wozu Sie Lust haben.“ Ich war total empört und verstört. Das hatte damit zu tun, dass ich aus einem Schulsystem kam, wo einem der Stundenplan vorgegeben wird. ich dachte: “Ok, irgendwie geht’s so weiter.“ Aber so ging es überhaupt nicht weiter. Es interessierte niemanden, ob ich da war oder nicht.

Fünfzehn Semester sind heutzutage undenkbar. Natürlich kann man sagen, das sei ineffizient und zu viel. Effizient aus Controlling-Sicht war das garantiert nicht. Für mich war das aber unglaublich effizient, weil ich genau da die Dinge gelernt habe, die ich im freien Journalismus anwende: Das Rumprobieren in verschiedenen Projekten, das gleichzeitige Verfolgen bestimmter Ziele. Das Scheitern habe ich dort auch erfahren, also das Angehen von Dingen, die man doch nicht zu Ende macht, angefangen bei Hausarbeiten bis hin zu größeren Projekten, von denen ich mal dachte, die könnte man anschieben, die dann aber doch nichts wurden.

Ist die Uni inzwischen ein Wirtschaftsbetrieb? Ungefähr seit der Jahrtausendwende hat sich das Denken von der unternehmerischen Hochschule verbreitet, vor allem auch in der Hochschulpolitik. Viele Landeshochschulgesetze sind in dieser Zeit auf eine Universität ausgerichtet worden, die sich, wenn man sie denn lässt und mit den entsprechenden unternehmerischen Anreizen versieht, dann schon irgendwie das Richtige machen wird. Das ist eine sehr neoliberale Hochschulpolitik gewesen. Dazu passt, dass auf Bundesebene das Hochschulrahmengesetz abgeschafft wurde, also das, was das Wenige an Rahmenbedingungen geregelt hat, wie es denn in den einzelnen Ländern sein sollte. Viele gingen in Richtung „Autonomie der Hochschulen“. Das heißt, die durften Entscheidungen weitestgehend selber treffen; das fing beim Personal an, ging weiter mit den Finanzen, den Inhalten, der Profilbildung und letztlich auch den Unterricht. Da gibt es, aus meiner Sicht zu Recht und zum Glück, mittlerweile einen Trend in die Gegenrichtung, weil dieses Modell gescheitert ist.

Wie wird das Rad nun zurückgedreht? In Nordrhein-Westfalen gibt es ein neues Hochschulgesetz. Das Land bemüht sich, Kontrolle über die Hochschulen zurück zu gewinnen und zwar nicht im Sinne von bürokratischer Kontrolle, aber es geht um einfache Frage der Art: „Wie stellen wir sicher, dass genügend Berufsschullehrer ausgebildet werden?“ Das ist ein Bereich, der für die Hochschulen nicht besonders attraktiv ist, weil sich nicht viele Leute einschreiben. In bestimmten Fächern schreibt sich kaum jemand ein. Dafür dann eine Professur oder zwei Professuren vorzuhalten, den entsprechenden Apparat, das entsprechende Lehrangebot, das ist in der Regel kein Profitcenter für die Universitäten. Wenn man es buchhalterisch rechnet, machen die damit ein Minus. Daher ist klar, dass viele Universitäten im Zuge dieser Autonomie der unternehmerischen Hochschule gesagt haben „Diesen Bereich lassen wir auslaufen“. Das Land hat aber ein Interesse, dass es eine bestimmte Anzahl von Studienplätzen und -absolventen gibt, die genau dieses Thema, in diesem Fall Berufsausbildung und Berufsschullehramt, abdecken. Daher finde ich es klar, dass es eine Rahmenplanung durch das Land gibt, die besagt: „Wenn wirklich alle Unis hergehen und das abschaffen, müssen wir anordnen können, dass es, egal ob in Dortmund oder Aachen, Studienplätzen fürs Berufsschullehramt gibt. Wir brauchen die.“

Klappt das denn? Das Grundproblem ist, dass Hochschulen immer stärker aus der Grundfinanzierung des Staates entlassen werden und sich stattdessen um Drittmittel bemühen müssen. Das galt lange Zeit als Nonplusultra der Qualität, Leute bereit waren, privates Geld zu geben. Das waren natürlich nicht irgendwelche emeritierten Philosophen, die da noch ihre Ersparnisse loswerden wollten, nein, das waren Wirtschaftsunternehmen. Dass eine Hochschule sich verändert, wenn dreißig Prozent der Mittel aus dem Bereich der Wirtschaft kommen, ist keine Frage. Das heißt, diese Mittel fließen in der Regel nicht zu den Philosophen, nicht zu den Germanisten, nicht zu den Altskandinavisten sondern dorthin, wo sich die Wirtschaft Erträge verspricht, Absolventen.

Die Wirtschaft braucht keine Germanisten? Die Wirtschaft braucht die Germanistik, um sich eine Autonomie des Denkens zu bewahren. Germanisten bringen fremdes Wissen, störende Ideen, vielleicht verstörende Gedanken ein in das, was im Übrigen ökonomisch und effizient gedacht wird. Das muss nicht notwendig ein Germanist, das kann auch eine Kunsthistorikerin sein. Es gab lange einen Sinologen aus Bochum, der im Vorstand der Deutschen Bank für Personal zuständig war. Das war eine tolle Kombination, weil sie anderes Denken zusammenbringt mit dem, was an vermeintlichen ökonomischen Erfordernissen ohnehin da ist. Genau diese Mischung macht Unternehmen reich. Und sie macht das Unternehmen wahrscheinlich auch profitabler, weil sie durch eine kulturelle Vielfalt auch innerhalb des Unternehmens und innerhalb des Personals in der Lage ist, ganz andere Leute anzusprechen. Wenn ich nur Schmalspur-Bachelor-Ökonomen habe, die ein Unternehmen betreiben, dann fehlt diesem Unternehmen etwas. Im Zweifelsfall die Kompetenz, sich auf anderen Märkten in anderen Kulturen zu behaupten.

Wenn ich aber als Germanist nicht in ein Unternehmen gehen will, sondern an der Uni bleiben möchte – wie sehen dann meine Bedingungen aus? Der Mittelbau hat bei der derzeitigen Struktur an den Hochschulen im Grunde kaum eine Chance. Wenn wir uns auf diese Nachwuchsverträge spezialisieren und da drauf schauen, dann sagt der Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs: über achtzig Prozent dieser Nachwuchsleute sind auf befristeten Stellen. Von diesen über achtzig Prozent wiederum sind ungefähr die Hälfte befristet auf ein Jahr oder kürzer. Das führt ja zu absurden Situationen. Wenn ich in der Germanistik über ein solches Drittmittelprojekt finanziert bin, dann kann ich ein halbes Jahr forschen und dann brauche ungefähr ein weiteres halbes Jahr für den nächsten Antrag, damit ich nach einem Jahr ich einen Folgebeschäftigungsvertrag habe. Das ist ja absurd. Irgendwie die Leute zu zwingen, aus ihrer Forschung raus zu gehen, um sich um die weitere Finanzierung zu kümmern.

Müsste man dagegen nicht stärker protestieren? Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat die Initiative für gute Qualität der Arbeit an den Hochschulen ins Leben gerufen. Sie kümmert sich um den Mittelbau, um die Nachwuchsleute. Die stellen zwei Forderungen auf, die ich für sehr wichtig halte: Qualifikationsstellen müssen so lange laufen, wie die Qualifikationsphase ist. Es soll vermieden werden, dass Doktoranden anderthalb Jahre hier und ein halbes Jahr da und dann nochmal ein Jahr woanders forschen. Die zweite, ganz wichtige Forderung ist die, Dauerstellen einzurichten, wenn es um Daueraufgaben geht. Also an dem Punkt, wo irgendwelche Verwaltungsaufgaben da sind oder auch eine Forschungsaufgabe, die kontinuierlich über Jahre erbracht werden muss, dann muss es dafür auch eine Dauerstelle geben. Das kollidiert aber mit der Rhythmik der Geldgeber, die natürlich immer nur für ein Projekt, für ein Jahr, für zwei Jahre, für drei Jahre, vielleicht mal für fünf, Geld geben. Hochschulen haben nicht mehr genug Mittel, um ihre Daueraufgaben mit eigenen Ressourcen zu bestücken und abzusichern. Das bedeutet: entweder leidet die Qualität der Forschung oder es geht auf Kosten derjenigen, die dort arbeiten oder wir verlieren die Schärfe des Fachs. Und im schlimmsten Fall alles drei zusammen.

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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