„Ich bin Ilija Trojanow. Eigentlich ein deutschsprachiger Autor. Aber von meinem Selbstverständnis her eigentlich von Anfang an europäischer, eurasischer, Gondwanalandautor.“ So stellte sich der Schriftsteller großer Werke wie „Der Weltensammler“ im Interview vor. Wir sitzen auf der Frankfurter Buchmesse, haben einen Platz finden müssen, in dem es nicht allzu laut hergeht. Gerade ist sein „Lebensbuch“ aus Bulgarien unter dem Titel „Macht und Widerstand“ erschienen – Ende Mai 2016 kommt, rechtzeitig vor den Olympischen Sommerspielen, sein Band „Meine Olympiade – Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen“ in die Läden, das mit einem südafrikanischen Triathlon beginnt, also mal wieder sehr weit von Frankfurt entfernt lokalisiert ist. Trojanow wurde 1965 in Bulgarien geboren. 1971, kurz vor seiner Einschulung ist er mit den Eltern über Jugoslawien und Italien nach Deutschland geflohen. Ein Jahr später ist die Familie weitergereist nach Kenia, wo sein Vater als Ingenieur gearbeitet hat. Ilija Trojanow kann wie kaum ein zweiter Autor über den Reichtum dessen sprechen, was Johann Wolfgang von Goethe „Weltliteratur“ genannt hat. Es geht nun um das Exotische, um Nationalmythen und um den ausländischen Blick auf die deutsche Literatur. (Das Autorenfoto ist von Annika Kipper.)
Sie sind bekannt dafür, dass Sie wie kaum ein Zweiter hierzulande die Weltliteratur in Ihrem Herzen tragen – wie kam es dazu? Bei mir war es zum Beispiel so aufgrund der unglaublichen biographischen Zufälle – ich bin in Bulgarien geboren, in Kenia aufgewachsen und so weiter und so fort, dass ich wesentlich geprägt wurde von sehr vielen Literaturen, die ein üblicher deutscher Leser oder Leserin vielleicht als exotisch oder fremd bezeichnen würde.
Wie haben Sie die ersten Schritte in diese andere, für viele fremde Literatur gewagt? Ich bin zum Lesen gekommen als junger Mensch in Kenia. und habe dann natürlich die große Neugierde gehabt, nachzuforschen, zu erfahren, was die Kenianischen Geschichten ausmacht und habe mich mit 16, 17 durch die gesamte kenianische Literatur durchgelesen. Ich glaube, dass das einen in dem Alter natürlich besonders prägt.
In welcher Weise wurden Sie geprägt? Ich glaube, dass mich am meisten die Haltung der Literaten beeinflusst hat. Es gibt diesen berühmten Satz von Chinua Achebe, einem der Großmeister der afrikanischen Literatur, der gesagt hat: „Ein Autor ist immer auch ein Lehrer.“ Das heißt: Es gibt ein gewisses Selbstverständnis, dass jemand, der tatsächlich etwas vermitteln will, in ein enges Verhältnis mit dem Leser tritt, was durchaus auch ein Verhältnis des Erzählens und des Erklärens, des Motivierens, des Provozierens ist. Diese Innerlichkeit, diese Weltgewandtheit, die es ja teilweise als literarische Tradition gab, war mir dagegen von Anfang an sehr fremd.
Wie stehen Sie zu Nationalliteraturen? Das Konzept ist völlig künstlich. Man kann das wahrscheinlich in Deutschland viel besser anhand kleiner Staaten wie dem Balkan aufzeigen. Es entstehen diese Nationalstaaten, meist aufgrund von sehr komplexen politischen Vorgängen. Auf einmal hat man zwei Bedürfnisse: Man will eine eigene Nationalsprache haben, denn ein Nationalstaat ohne Nationalsprache ist schwierig; und man braucht einen Nationalmythos, ein Nationalepos, also eine Nationalliteratur. Wir wissen aus vielen der kleineren Länder und Staaten Osteuropas, dass es Menschen gab, die sich dahingestellt haben und gesagt habe; „So, das schaffen wir jetzt einfach.“
Das heißt also, dass das Konzept der Nationalliteratur in vielen Fällen eine reine Konstruktion darstellt? Das ist insofern besonders ironisch, weil natürlich gerade junge Literaturen entstehen, durch Nachahmung schon etablierter Literaturen. Das hat bei uns so begonnen. Unsere Literatur beginnt damit, dass eine poetische Traditionslinie, die vom Orient über den Mittelmeerraum, über Spanien nach Südfrankreich führt, der Minnesang, die Troubadoure, das Provencialische, dass das zu uns hinüberschwappte und junge deutsche Dichter gedacht haben: „Das wollen wir in der eigenen Sprachen nachmachen.“ Also gab es einerseits eine Befreiung vom Latein, andererseits aber ganz klar ein Nachmachen von importierten Mustern.
Ein Großteil der deutschsprachigen, mittelalterlichen Literatur ist bekanntlich anderen Kulturkreisen entlehnt. Das geht so weiter. Die deutsche Literatur ist ohne den enormen Einfluss von Autoren wie Shakespeare, später der gewichtigen Franzosen des 18. Jahrhunderts, überhaupt nicht denkbar. Wenn wir dann in die Moderne hineingehen, kann man gerade in der deutschsprachigen Literatur eine enorme Dominanz der Randkulturen feststellen. Sie haben das deutschsprachig-Jüdische aus den Randzonen des deutschsprachigen Raumes. Da wird in Gebieten, die wir heute gar nicht mit der deutschen Literatur in Verbindung bringen, wie die Ukraine, wie Bukowina, wie Prag, wie Königsberg ganz große deutschsprachige Literatur geschafft.
Warum findet das nicht im Zentrum statt? In Randzonen ist der Austausch, das Multikulturelle, das Einatmen von Fremde und das Ausatmen von eigenem gang und gäbe. Nur passt diese realistische und ich glaube auch präzise Darstellung literarischer Entwicklung auch aus einem Geiste der Vermischung nicht in einen Nationalkanon. Insofern könnte man, wenn man die Frage von vorhin zu beantworten versucht, erst einmal sagen; „Eigentlich gibt es keine deutsche Literatur.“ Eigentlich gibt es die nicht.
Dennoch steht diese Beobachtungsweise fest. Es gibt natürlich eine deutschsprachige Literatur. Die war aber von Anfang an europäisch. Was man eher sagen kann: Es gibt eine europäische Literatur in dem Sinne, dass es lange Zeit einen Eurozentrismus gab. Die Anfänge sind nahezu vergessen, dieser ganz starke Einfluss orientalischer Erzählformen. Das allererste erzählerische Buch der englischen Literatur ist eines, das im Wesentlichen die Erzählmuster von „1001 Nacht“ und der „Panchatantra“ nachmacht, also diese Verkastelung, diese Rahmenhandlung, diese Geschichte in der Geschichte in der Geschichte; das haben wir natürlich vergessen.
Weshalb gab es dieses Vergessen? Ab einem gewissen Zeitpunkt, große Ausnahme natürlich Goethe, der sich mit dem „West-östlichen Diwan“ (Titelblatt: Wikipedia) wieder dieser Traditionslinie zuwendet, wurden wir aufgrund des Kolonialismus eurozentrisch und haben lange, lange Zeit das Außereuropäische nicht wahrgenommen.
Hat sich das geändert? Jetzt leben wir seit Jahrzehnten in total spannenden Zeiten. Jetzt bricht das völlig auf. Zuerst kam nach dem Zweiten Weltkrieg bei uns die längst überfällige Auseinandersetzung mit der amerikanischen Literatur, die ideologisch eine Zeitlang unterbrochen war. Unsere Elterngeration haben das geradezu aufgesogen…
Man hat nach einer Literaturform gesucht, die nicht belastet war und ist dann beispielsweise auf die Short Story gestoßen. Es gibt immer wieder dieses Importieren von Erzählformen und Erzählhaltungen, die frischen Wind in eine verkrustete oder unterminierte eigene Landschaft bringen.
Inzwischen können wir nahezu alles bekommen? Bei der Frankfurter Buchmesse erleben wir, dass wir die erste Generation sind, die Zugang hat zur gesamten Weltliteratur. Das wird unweigerlich dazu führen, dass wir bald von Nationalliteraturen nicht mehr werden reden können.
Vermutlich, weil inzwischen die Übersetzungslage aus noch den entlegendsten Literaturen bemerkenswert ist. Ich merke das selber in Gesprächen mit Kollegen. Der eine empfiehlt mir einen sudanesischen Roman, der andere sagt: „Der größte lebende Autor ist ein Brasilianer.“ Der dritte schwärmt gerade von jungen Slowaken und so weiter und so fort. Diese Pluralität der Stimmen und Einflüsse und Formen kann man eigentlich nur feiern. Wir sind dabei, alten Kategorien zu überwinden.“