Interview: „Schlimmer als körperliche Gewalt“

Was körperliche Gewalt ist wissen wir – aber wie steht es um die oft unsichtbaren Schädigungen der menschlichen Psyche? Ein Gespräch mit dem SZ-Wissenschaftsredakteur Werner Bartens über Kränkungen der Seele, über Ignoranz, Narzissmus und die dunklen Seiten der Empathie.

Herr Bartens, weshalb werden Kränkungen der Seele in ihrem Buch direkt als Gewalt bezeichnet? Ich möchte mit dem Begriff „Gewalt“ deutlich machen, dass auch Gefühle beziehungsweise die Missachtung von Gefühlen sehr schmerzhaft und verletzend sein kann, also Kränkung, Missachtung, Erniedrigung, Ignoranz oder auch der Versuch, manipuliert zu werden. Das Schlimme ist: die Spuren von emotionaler Gewalt sind unsichtbar. Wenn wir uns das bei Kindern angucken, wenn die geschlagen werden, wenn sie misshandelt werden, dann haben sie eine Rippenserienfraktur oder blaue Flecken. Wenn jemand ständig sozusagen unterdrückt, fertiggemacht wird, in seinem innersten Kern erniedrigt wird, das sieht keiner. Aber die Spuren, die es im Körper, in der Seele hinterlässt, die können genauso gravierend sein und eventuell sogar noch schlimmer und vor allen Dingen auch lange anhaltend.

Und das ist, glaube ich, ganz entscheidend. Wenn man nach einer Definition fragt, ist es, glaube ich, wichtig, dass es nicht darum geht, dass jede Kritik oder jedes Anschreien, jedes Aus-der-Haut-fahren von Kollegen, Freunden, Partnern, Vorgesetzten, wie auch immer, dass man sagt, oh, emotionale Gewalt, ganz schlimm. Sondern es geht darum, dass wirklich mit Vorsatz destruktiv versucht wird, den anderen fertigzumachen, also mit einer bösartigen, destruktiven Absicht, und nicht einfach mal nur so aus der Wut heraus, wo man hinterher sagt, okay, sorry, da ist mir was entglitten, alles wieder gut – das merkt man dann ja meistens auch. Das ist nicht emotionale Gewalt, nicht jeder Schrei und jedes Aufbrausen und jeder Streit.

Wie ist das Thema emotionale Gewalt zu Ihnen gekommen? Wann fingen Sie an, sich damit zu beschäftigen? Da gibt es verschiedene Ebenen. Ich bin Anfang 50, und habe in verschiedenen Zusammenhängen, zum Teil über Kollegen, den Freundeskreis, über Bekannte Menschen kennengelernt, von denen ich immer wieder dachte: Mensch, die haben doch irgendwie so viele Fähigkeiten, so viele Möglichkeiten, aber irgendwie stehen sie sich selbst oder steht ihnen was im Weg. Und die versuchen beispielsweise ihr Leben lang, die strengen Vorgaben des Vaters zu erfüllen oder den tadelnden Blick der Mutter spüren sie immer, auch wenn zum Teil die Eltern schon lange tot sind?

Da merkt man schon, ohne weiter nachgeforscht zu haben, wie sehr das oft in die Tiefe geht, wie das Menschen ein Leben lang belastet und sie davon auch nicht frei werden, wie sie immer noch das Gefühl haben, wie gesagt, der Lehrer, der strenge Vater, die Mutter oder ein Freund, der sie verletzt hat, oder ein Partner, der sie fertiggemacht hat, der ist da immer noch wirksam, obwohl er eigentlich längst aus dem Leben verschwunden ist. Und dass ich auch dachte, da muss man doch irgendwie rauskommen, da muss man sich doch draus befreien können. Der Mensch ist ein soziales Wesen.

Der Mensch ist auf Beziehung, auf Bindung, auf Rückmeldung, auf Feedback angewiesen, oder wie es der Soziologe Hartmut Rosa so schön nennt: Resonanz. Ich will etwas auslösen beim anderen. Das fand ich eine sehr überraschende Erkenntnis, dass totale Missachtung, totale Ignoranz, nicht auf den anderen zu reagieren, dass das fast das Schlimmste ist, was Menschen einander antun können. Das ist schlimmer, als angeschrien und fertiggemacht und erniedrigt und gedemütigt zu werden. Es gibt auch Psychologen, Psychiater, die sagen, das ist sogar schlimmer als körperliche Gewalt.

Narzissmus ist ein Begriff, der in Ihren Betrachtungen eine Rolle spielt. In welchem Austauschverhältnis stehen Narzissmus und emotionale Gewalt? Narzissten sind häufig in Machtpositionen gelangt und können da ihren Narzissmus besonders ausüben. Also das, was sozusagen positiv – ich will etwas erreichen, ich setze mir diese Ziele –, was die positive Seite eines Narzissten sein kann, führt eben auch dazu, dass sie häufig Karriere machen. Wenn man dann so einen Narzissten und vielleicht Choleriker als Chef hat, dann achtet der halt überhaupt nicht darauf, wie seine Mitarbeiter oder Kollegen oder Untergebenen reagieren, und denkt nur an seine eigene Großartigkeit, macht dann andere fertig, führt sie vor, hat dabei eigene Machtbefriedigungserlebnisse und sonnt sich vielleicht noch darin, wenn er besonders eloquent, intelligent, schlau, mit Wortspielen die Mitarbeiter fertigmacht und er ahnt gar nicht, wie sehr die das erniedrigt.

Es gibt diesen Spruch, der im Journalismus sehr bekannt ist und in einer Journalistenausbildung gesagt wurde: „Ihr Text hat Stärken und Schwächen“, und alle dachten, „aha, ein ausgewogenes Lob“, aber dann kommt: „er fing schwach an und fiel dann stark ab“. Da hat sich der entsprechende Dozent gefreut, was für ein scharfsinnig schlaues Kerlchen er mit dieser Kritik war. Aber andere waren gedemütigt vor der ganzen Mannschaft. Das kriegen Narzissten, die zumeist auch wenig empathisch sind, gar nicht mit und sie denken nur: Na, dem habe ich es aber mit einem lockeren Spruch mal eben gezeigt, wo hier die Grenzen sind und wer das Sagen hat.

Wobei auch die Empathie dazu führen kann, wenn man sie richtig einsetzt, dass man als Narzisst umso besser manipulieren kann, weil man ja weiß, wie der andere sich fühlt. Vor über einem Jahr hatten wir hier im Büchermarkt ein Gespräch mit Fritz Breithaupt, wie er sich mit den dunklen Seiten der Empathie beschäftigt hat, ein Band, der bei Suhrkamp erschienen ist. Gibt es denn Faktoren, die emotionale Gewalt begünstigen? Ja. Wer quasi von Kind auf, vielleicht durch eine unglückliche Beziehung zur Mutter oder zum Vater erleben musste oder gelernt hat sozusagen, „ich bin schuld“, oder „ich habe das verursacht“, wer also früh gelernt hat, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, der fühlt sich natürlich schnell verantwortlich und zieht sich jeden Schuh an. Ein Beispiel: Wenn ich in einem Team vom Chef runtergemacht werde, dann gibt es Leute, die das sofort auf sich beziehen, auch wenn da sechs andere noch sind, die in dieser Arbeitsgruppe sind, also die sofort sagen, „ja klar, okay, ich hab das auch jetzt nicht so gut gemacht oder nicht genügend mich da vorbereitet“, wie auch immer.

Es gibt, das schildere ich im Buch, diesen furchtbaren Fall eines Mädchens. Sie war im Grundschulalter, und immer, wenn die Mutter wütend auf das Kind war, dann ist sie im Wohnzimmer umgefallen und hat tot gespielt, also so getan, als ob sie jetzt wirklich stirbt und sich nicht gerührt. Das Mädchen, mit sechs, sieben Jahren, stand daneben und dachte, sie hat die Mutter umgebracht. Erst nach einer Zeit stand die Mutter wieder auf. Das Kind war erleichtert. Das hat die mehrmals gemacht, bis das Kind alles so gemacht hat, wie die Mutter das wollte. Dieses Mädchen, dieses Kind wird natürlich zeitlebens anfällig sein für schlechtes Gewissen, für „Ich bin schuld, oh Gott, das liegt jetzt an mir.“ Wer so eine Konstellation, so einen Hintergrund hat, der ist sehr anfällig.

Ein weiterer Punkt ist dieses Stichwort, es sich sozusagen bequem zu machen in der Opferrolle. Und dazu gehört eben auch, ja, es kann ja sein, dass man Fehler macht, es kann ja sein, dass man zu Recht auch mal runtergeputzt wird. Aber dann muss man sagen, okay, ich kann damit aber was tun, also Stichwort Selbstwirksamkeit. Ich kann sagen, „das ist ungerechtfertigt“, oder „wir machen alle mal Fehler“ oder „es lag gar nicht an mir“ oder der Chef, der, der das gemacht hat, der Partner, der Freund, der war einfach nur wütend und hatte einen schlechten Tag. Es gibt viele Mechanismen, mit denen wir das einordnen können und sagen: „nein, nicht ich bin schlecht und in meinem Kern nichtswürdig und klein und mies“ – denn auf so eine Haltung zielt emotionale Gewalt. Ich kann das sozusagen erklären, warum es am anderen liegt, warum es ungerechtfertigt ist oder warum es in dem Fall vielleicht zutrifft, aber ich deswegen trotzdem nicht in Gänze ein schlechter Mensch bin, der verdammungswürdig ist und runtergemacht werden soll. Dann kann man so was eben viel einfacher oder viel besser ins Leere laufen lassen und sagen: „okay, reagier’ dich nur ab, und ich nehme allenfalls das mit, was vielleicht hoffentlich an konstruktiver Kritik auch bei dem Ganzen ist.

Aber dieses Geschrei und dieses Fertigmachen, das zieh ich mir nicht an, den Schuh. Und mich deswegen in meiner ganzen Person entwerten zu lassen, das erst recht nicht. Und das ist, glaube ich, auch ein wichtiges Stichwort, dieses Selbstwertgefühl. Da geht es gar nicht darum, zu sagen, ich bin toll, sondern einfach, ich bin um meiner selbst willen als Mensch wertvoll, unabhängig von meiner Leistung, so an sich, wie ich da bin. Und ich lasse mir diesen Wert nicht nehmen, weder von cholerischen Chefs noch von blöden Lehrern oder Professoren noch von irgendeiner Partnerin oder einem Partner, die mir nicht gut tun.

Da gibt es ja diesen schönen Dreischritt – „Love it, change it or leave it“. Da muss man gucken: okay, was ist jetzt der nächste Schritt? Kann ich die Situation, auch wenn ich das Gefühl habe, ich werde da häufig fertiggemacht, doch irgendwie so anerkennen durch die eben genannten Mechanismen, dass ich damit zurechtkomme und es vielleicht sogar okay finde. Kann ich was verändern, indem ich sage, andere Abteilung, oder: „lieber Chef, wir müssen reden“, oder “liebe Partnerin, lieber Partner, so geht das nicht mit uns weiter. Ich verändere was.“ Oder, wenn es toxische Verhältnisse sind und die unverrückbar erscheinen, nun, manche Dinge kann man schlecht reformieren. Wenn ich in irgendeinem Machtgefüge bin – ich schreibe auch von autoritären Machtstrukturen, wie es sie beim Militär zwangsläufig regelmäßig gibt, oder auch eben in manchen Sportbeziehungen oder anderen autoritären Verhältnissen, dann muss ich einfach sagen: „Okay, tschüs, das war’s, ich verlasse hier den Laden.“

Werner Bartens: „Emotionale Gewalt“, Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 20 Euro

 

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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