In diesem Sommer gewann John Wray den ersten Deutschlandfunk-Literaturpreis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Auf der Frankfurter Buchmesse 2016 hatten wir uns getroffen auf der Bühne des Deutschlandfunks und gesprochen über den neuen Roman „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“, über das Leben im Zelt und über Wrays Freundschaft zu Haruki Murakami.
John Wray, Ihr neuer Roman trägt den amerikanischen Titel: „The Lost Time Accidents“ oder in der deutschen Übersetzung bei Rowohlt – Das Geheimnis der verlorenen Zeit. Dies klingt beinahe so, als würden hier zwei verschiedene Bücher publiziert. Woher kommt dieser sehr kryptisch klingende Titel? Einerseits ist das eine leicht zu beantwortende Frage. Das komische ist, dieser Roman fing wirklich für mich mit dem Titel an. Der Titel im Amerikanischen – „The Lost Time Accidents“ – ist eigentlich ein Fachausdruck aus der Stromerzeugung. In einem Kraftwerk nennt man die Zeit eines Stromausfalles, die Zeit, in der kein Strom erzeugt wird einen „lost time accident“. Ungefähr drei Jahre nachdem ich nach New York City gekommen bin, in der Zeit, als ich meine ersten Prosaversuche gemacht habe, als ich an meinem ersten Roman angefangen habe zu arbeiten, ging es mir nicht besonders gut. Ich habe mir schwer eine Wohnung leisten können und ich bin dann notgedrungen in eine unterirdische Probehalle gezogen, in einen Proberaum für Rockbands, die Freunde von mir gemietet haben. Es war ein unterirdischer Raum ohne Fenster, ohne Heizung und ohne Toilette. Ich habe da ein Zelt aufgebaut und hatte eigentlich nur vor, ein paar Wochen zu bleiben, aber irgendwie gefiel es mir, in New York zu leben ohne wirklich arbeiten zu müssen. Ich bin dann in diesem Kellerloch, in diesem Proberaum anderthalb Jahre geblieben.
Sie waren da für sich? Ich habe da ganz alleine gehaust, keiner wollte mir Gesellschaft leisten; was nicht überraschend war. Ich bin dann oft spät in der Nacht oder ganz in der Früh spazieren gegangen, durch diese eher industrielle Gegend, die heute „Dumbo“ heißt. Das ist auf der Brooklyn-Seite des East-Rivers, wo die zwei großen Brücken zusammenkommen. Eines Tages als ich dort spazierte, ging ich um eine Ecke und sah plötzlich unerwartet den Eingang eines Kraftwerks, ein sehr großes Kraftwerk, das aber ziemlich versteckt am Ufer des East-Rivers sitzt. Und da stand oberhalb des Eingangs „Welcome to the Hudson/ Gold power generating Station. 0062 Hours without a lost time accident.“ Mir war das unbegreiflich. Es war sehr imponierend, ein tolles Gebäude, das sollte sich jeder ansehen. Aber dieser Ausdruck „lost time accidents“ kam mir rätselhaft und poetisch vor. Da steckt irgendeine Metapher drin, habe ich mir gedacht, und dass es ein guter Titel für einen Roman wäre. Nur hat es fast ein Jahrzehnt gedauert, bis mir der Roman, der passen würde, in den Sinn gekommen ist.
Besitzen Sie zwei Pässe? Ich habe eine doppelte Staatsbürgerschaft, ja. Meine Familie stammt aus Friesach in Kärnten, ich war sehr oft in Klagenfurt, als ich klein war. Meine Mutter war dort auf dem Gymnasium. – Ich bin einmal in Klagenfurt aufgetreten. Im Robert-Musil-Haus. Das ist schon lange her, ich glaube, als mein erstes Buch im deutschsprachigen Raum veröffentlicht wurde. Das muss also 2003 gewesen sein.
Ist das Österreichische wichtig für Sie? Meine Beziehung zu Österreich ist eigentlich eine recht sonderbare. Ich habe zwar zwei Pässe, ich habe die österreichische Staatbürgerschaft und bin auch sehr glücklich und sehr stolz darauf. Aber eigentlich bin ich fast ausschließlich in den Vereinigten Staaten aufgewachsen. Im Sommer, besonders als ich klein war, war ich immer in Kärnten, habe aber nie wirklich in Kärnten gelebt oder studiert. Dadurch ist mir Österreich sehr lange als Märchenland geblieben. Für mich war Österreich lange Zeit höchst romantisiert, höchst idealisiert. Österreich blieb für mich deshalb so lange – und ich würde sagen: zu lange – ein Märchen. Ich hatte keine besonders glückliche Kindheit in den Vereinigten Staaten, ich träumte sehr oft von Österreich. Lange blieb mir die Auseinandersetzung zum Beispiel mit der österreichischen Geschichte erspart. Ich würde sagen, zu lange. Als ich wirklich das erste Mal damit konfrontiert wurde, war es sehr schmerzhaft, es fiel mir sehr schwer. Ich bin vielleicht nie wirklich darüber hinausgekommen. Mit großer Naivität – sagen wir, bis ich vierzehn war – kam mir Österreich als ein perfektes Ländchen vor; ohne Probleme, quasi ohne Geschichte, aber mit vielen Burgen, mit alten Sachen, die ich schön fand. Aber eine echte Auseinandersetzung mit der österreichischen Geschichte, die eigentlich eine ziemlich düstere sein kann, kam sehr spät. Das war ein Problem. Ich glaube, dass ich deshalb immer wieder versuche, dieses Dilemma des Märchenlandes mit der wahren Geschichte zu vereinigen, oder sie zu integrieren. Das fällt mir immer noch schwer. Natürlich wirkt das sehr naiv, aber ich kann das nur zugeben. Deshalb komme ich immer wieder zurück und versuche auf meine komische Art und Weise die Frage zu klären, wie es sein kann, dass dieses hübsche Fleckchen Erde doch solche schrecklichen Sachen durchgemacht und auch hervorgerufen hat. – Eine wichtige Frage des Romans ist ja auch, wie es sein kann, dass gute, intelligente Menschen, wissend oder unwissend auch dazu beitragen können, dass die schrecklichsten Ereignisse der menschlichen Geschichte stattfinden können.
Welchen Einfluss hatte Haruki Murakami auf Ihr Schreiben? Murakami hat – wie man es wohl erwarten würde – einen eigenartigen Einfluss gehabt. Zum Beispiel hat dieser Roman fast sieben Jahre gebraucht, ich fand es sehr schwierig, ich wollte einen großen Roman schreiben, einen, bei dem der Leser den Eindruck haben könnte, dass fast die ganze Welt oder das ganze Leben reinpassen könnte. Ich tat mich sehr schwer am Anfang, welche Details, welche Ereignisse in dem Text zur Erzählung gehören und welche ich weglassen sollte. Murakami kommt fast jedes Jahr nach New York, wir sind oft miteinander Schallplatten kaufen gegangen. Er ist überhaupt ein großer Sammler von Schallplatten, ein begeisterter, ein besessener Sammler, nicht nur Jazz, aber hauptsächlich Jazz – Stan Getz zum Beispiel, Thelonious Monk, solche Leute – und nebenbei reden wir oft über das Schreiben. Er ist eigentlich sehr ungehemmt in der Beziehung, er redet gerne über seine Arbeit. Ab und zu hat er mir auch Rat gegeben, sehr nützliche Sachen. Wenn ich mich richtig erinnere, saßen wir zusammen in einem Bräukeller, haben Bier getrunken, geplaudert und Currywurst gegessen. Als ich mittendrin war, ihm meine Frage zu erklären, was man hineinnehmen sollte in das Buch und welche Einfälle man nicht in die Erzählung hineinquetschen sollte, lehnte sich Haruki vor und zeigte auf meine Currywurst. In seinem komischen Englisch fragte er, ob mir die Currywurst gefiel. „Eigentlich schon“, sagte ich, „die Currywurst schmeckt mir.“ Dann schwieg er einen Moment und sagte: „Dann nimm die Currywurst in deinen Roman hinein.“ Er sagt manchmal solche Sachen, die gleichzeitig sehr einfach und sehr geheimnisvoll wirken. Über diese Äußerung habe ich lange nachdenken müssen. Irgendwann war mir plötzlich klar, dass man eine viel größere Freiheit hat, wenn man an einem langen Roman arbeitet. Dass man sich nicht zu sehr den Kopf darüber zerbrechen muss. Wenn es einen selber interessiert, wenn es einem Spaß macht, dann wird es höchstwahrscheinlich auch dem Leser gefallen. Oder amüsieren.
Wie stehen Sie zur Subjektivität und zu dem, was man als Radikaler Konstruktivismus bezeichnet? Romane sind sehr gut dafür geeignet, zu zeigen, wie sich jeder Mensch selbst und höchst subjektiv die Realität gestaltet. Für mich war die Subjektivität vielleicht sogar das Hauptthema des Romans. Diese größere Frage, ob es überhaupt sowas wie eine objektive Realität gibt, geben könnte, und ob es überhaupt wichtig ist, dass die Menschen so etwas wie eine objektive Realität gemeinsam bilden oder entdecken können, diese Frage hat sich dann in meinem Text hauptsächlich als eine Frage der Wissenschaft ausgedrückt. Diese Suche nach der Substanz der Zeit, diese wissenschaftliche, quasiwissenschaftliche Suche ist eigentlich für mich eine beschränkte Art und Weise, dieser größeren Frage der Subjektivität nachzugehen.
Liegt hier auch Ihre Hinwendung zur Philosophie Ludwig Wittgensteins? Die Familie Wittgenstein kommt ja so vorübergehend im Roman vor. Und das war für mich eine quasi private Anspielung an diese großen Ideenhaufen zwischen denen ich versucht habe, ohne zu stolpern meinen eigenen Weg zu finden. Natürlich habe ich sehr viel Philosophie und Physik lesen müssen. Ich bin aber kein Philosoph und noch viel weniger ein Wissenschaftler. Das Schöne aber daran, einen Roman zu schreiben ist, dass man vielleicht den Eindruck vermitteln kann, dass man viel gebildeter ist, dass man viel mehr über die Welt, die Philosophie und die Physik versteht, als man es eigentlich tut. Man hat ja die Kontrolle darüber, man lenkt das Boot. Ich komme mir oft vor wie ein Kameramann, der an einer Szene arbeitet, die eine große Schlacht darstellen soll. Wenn man sein Handwerk kennt, kann man mit vierzig Komparsen den Eindruck erwecken, dass tausend Soldaten daran teilnehmen. Genauso ist es, wenn man über die Wissenschaft schreibt. Man muss natürlich sehr viel recherchieren, man versucht sich so gut wie möglich auszudrücken, aber man kann eine Illusion schaffen. Man versucht die Illusion der Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Manchmal gelingt es einem, manchmal geht es schrecklich daneben und dann muss man von vorn anfangen. Deshalb braucht es auch so viele Jahre um einen Roman fertig zu schreiben.
Sie haben es sich nicht leicht gemacht und sind bis in die Vernichtungslager der Shoah gegangen. In dem Teil des Buches, das in einem Konzentrationslager in Polen spielt, wird beschrieben wie ein ehemaliger Wissenschaftler, der nicht mehr ganz geistesgesund ist, ein höchst talentierter Wissenschaftler nachzuweisen versucht, dass es die spontane Evolution tatsächlich gibt. Und zweitens, dass Darwin leicht danebenlag oder nicht den gesamten Evolutionsprozess verstanden hat. Er sieht in dem Konzentrationslager eine unerwartete Chance, seinen Theorien nachzugehen; ohne, dass ihm irgendjemand über die Schulter schauen würde. Das ist sehr attraktiv für ihn, weil er eine sehr paranoide Neigung hat und er auch noch nicht so geisteskrank ist, dass er nicht versteht, dass die Experimente, die er ausführen möchte höchst illegale und unmoralische Experimente seien.
Sind Sie auch ein österreichischer Schriftsteller? Man betrachtet mich in Österreich nicht als österreichischen Autor. Man betrachtet mich ausschließlich als amerikanischen Autor. Vielleicht mit Recht, ich weiß nicht.
Sie haben sich nie auf eines der üppigen Literaturstipendien in Österreich beworben? Das habe ich noch nie getan. Als amerikanischer Autor hat man gewisse Vorteile. Man wird zum Beispiel häufiger übersetzt. Ich hätte Schuldgefühle, wenn ich um Stipendien ansuchen würde. Ich kenne etliche österreichische Autoren, die können diese Stipendien gut gebrauchen. Der Kehlmann nicht, aber die anderen schon.
John Wray: „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“, übersetzt von Bernhard Robben, 736 Seiten, 26,95 Euro