Der Filmemacher, Schriftsteller und Jurist Alexander Kluge gehört zu den wichtigsten Intellektuellen der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. Hier spricht er über den Bombenangriff auf seine Vaterstadt, über Hoffnungsauswege und den „Schnee über Venedig“. (Foto: Annika Kipper)
Eine unglaubliche Hitze herrschte am Samstag der Frankfurter Buchmesse 2018, als Alexander Kluge über die Dauer einer Stunde mit mir im Aufnahmewagen des Deutschlandfunks saß. Am Abend zuvor hatte der 1932 in Halberstadt Geborene seine aktuelle Veröffentlichung vorgestellt, den deutsch-englischen Kunst-Text-Band „Schnee über Venedig“, erschienen bei Spector Books in Leipzig – eine Gemeinschaftsarbeit mit dem amerikanischen Dichter Ben Lerner und den bildenden Künstlern Gerhard Richter, Thomas Demand und R.H. Quaytman. – Obschon die Buchpräsentation bis in die Nacht hinein gefeiert wurde, stand Alexander Kluge pünktlich um kurz vor elf Uhr morgens am vereinbarten Treffpunkt; und er war hellwach. Auch in der folgenden Stunde war keine Erschöpfung spürbar, während Kluge über den Tristan des Gottfried von Straßburg sprach, über unsere unheimliche Donald-Trump-Gegenwart und über die immer noch zu uns sprechende Goethe-Zeit.
Jan Drees Sie haben Ben Lerner herausgebracht, der sich auf Texte bezieht, die Sie geschrieben haben, auf die Sie wiederum antworten. Was genau findet statt in diesem Band, der Bilder beinhaltet, Gespräche und Gedichte?
Alexander Kluge Wir haben uns kennengelernt dadurch, dass ich verblüfft war, bei einem amerikanischen Lyriker aus New York plötzlich Sonette über Lichtenberg, unseren Helden der Aufklärung, unseren Norddeutschen, zu entdecken; übrigens ein ganz witziger Mann, der Lichtenberg. Der hat sich mit den Funken und der Elektrizität, die im 18. Jahrhundert noch unsichtbar ist – das ist noch nicht die Glühbirne von uns, sondern das ist sozusagen das Geheimnis, das die Aufklärung noch nicht zu deuten weiß, und das geheimnisvolle Figuren hat. Ein Blitz zum Beispiel kann in der Haut, aber auch in der Erde und so weiter Figuren, fast Kristallgitter machen. Und das hat den Lichtenberg so gefesselt, und das fesselt jetzt hier den Ben Lerner. Da kommen Verse vor wie: „In der mittelalterlichen Engelskunde gibt es neun Ordnungen von Schnee.“ Wieso Schnee? Ich dachte immer, die Engel brennen und umtanzen Gott als brennende Flammen. Nein, Schnee. Und das erinnert mich dann, in der Kinderzeit haben wir uns rückwärts in den Schnee geworfen – dann macht man einen Engel. Das kennen Sie. Und wenn abends in der Dämmerung mit dem Schlitten nach Hause geht, dann kommen diese leisen Flocken. Das hat etwas Geheimnisvolles, das hat was Geisterhaftes. Und deswegen war mir das sehr überzeugend. Deswegen habe ich dazu Geschichten geschrieben. Die habe ich ihm zugeschickt, unbekannterweise, und bei ihm kamen sie in den Spam. Acht Wochen später hat er sie dort zufällig gefunden, und so sind wir zusammengekommen und haben dann in Venedig, auf der Prada-Ausstellung zusammengearbeitet.
Jan Drees Ben Lerner hatte die Gedichte schon geschrieben, die sich auf Texte von Ihnen beziehen, sich nur nicht getraut, Ihnen diese zu schicken…
Alexander Kluge Das ist richtig. Dann habe ich diese Geschichten über Engel geschrieben, und er hat sie in New York auch publiziert. Und dann hat er wiederum Sonette über „Halberstadt brennt“ verfasst, also den Bombenangriff auf meine Vaterstadt – das hat mich natürlich bewegt. Und wenn er mich bewegt, dann antworte ich nicht durch Briefe und nicht durch Mails, sondern durch Geschichten. Ich habe wiederum mit Geschichten geantwortet, und so ist das Buch zusammengewachsen. Dann hat Gerhard Richter 21 Bilder über Venedig hinzugefügt. Das Buch heißt nämlich „Schnee über Venedig“. Das ist ja ein seltenes Ereignis, das ist nicht eine arktische Stadt. Diese Lagunen sind sehr grün und sehr wässerig; doch gibt es Schnee. Das muss man dann bedichten. Ich muss ich Ihnen sagen, diese Bilder von Gerhard Richter, die hier zum ersten Mal veröffentlicht werden, 21 Stück, die haben ein Grün, das den Lagunen so sehr entspricht – da merkt man den Meister. Und solche Zusammenarbeit, das ist das, was mir Mut, was mir Lust macht.
Jan Drees Und wir schwimmen sogar durch die Lagunen, mit Lord Byron beispielsweise. Er hat eine Fackel in der Hand …
Alexander Kluge Nachts ist der so ein vornehmer Herr. Eine Fackel – ich weiß, gar nicht, wie man schwimmt mit einer Fackel in der Hand. Aber so ist er halt durch die Gewässer nachts als romantischer Dichter geschwommen. All das, dieses Venedig, fasziniert mich. Für mich ist das ein Stück römisches Reich, also Antike, das 1.500 Jahre länger auf dieser Inselgruppe überlebt hat. Und erst unter Napoleon dann irgendwie applaniert wird.
Jan Drees Napoleon selbst war nie dort.
Alexander Kluge Nein, aber in seinem Zelt vor Toulon hat er die Geschichte Venedigs in fünf Bänden mit sich geführt. Das heißt, ihn hat das schon fasziniert. Und ihm tat es hinterher leid, dass er es an Österreich verkauft, verschleudert hat. Um den Frieden im Campo Formio zu machen, musste er seine Beute Venedig an Wien herausgeben. Das war sozusagen das Zubrot für den Friedensschluss. Hat ihm sehr leid getan.
Jan Drees Sie sagten vorhin, dass sie selbstverständlich nicht mit E-Mails geantwortet haben auf Ben Lerners Gedichte.
Alexander Kluge Ich mache viel E-Mails. Aber nicht in der Dichtkunst.
Jan Drees Es hat eine lange Tradition, dass Dichter miteinander im Austausch stehen; Briefbände sind das eine, die kennt man natürlich. In der zeitgenössischen Dichtung sehe ich immer wieder Gedichte, die anderen Kollegen gewidmet sind. Wie ist das, das Arbeiten für Sie, wenn Sie poetisch auf etwas antworten, was selbst Poesie ist?
Alexander Kluge Das ist so, wie wir miteinander auch sprechen hier, im Dialog. Und wenn ich allein da sitze in meinem Zimmer, dann bin ich auch nicht allein, sondern ich spreche mit meiner Schwester, mit meinen Eltern, mit meinen Freunden, mit Heiner Müller, der längst tot ist. Aber für mich ist er nicht tot. Und so ist es so, dass, wenn ich in Gesellschaft schreibe, dann habe ich mehr Lust, verstehen Sie? Und Lust bedeutet Mut, Wagemut. Das heißt, man traut sich etwas. Zum Beispiel gibt es ja immer die Entscheidung, selbstverständlich habe ich Hunger nach Sinn und setze die Worte so, dass sie einen Sinn ergeben. Aber diese Worte sind Rebellen. Sie sind eigentlich ohne Sattel, und eigentlich wollen sie auch frei sein mal, und dann braucht man Dada. Und dazu müssen Sie diesen Wagemut haben, dass Sie sich trauen, etwas zum Beispiel ohne Sinnzwang zu machen. Und das können Sie mit einem Gefährten. Der eine passt auf den Sinn auf, und der andere macht auch mal nur Unsinn.
Jan Drees Und der Gefährte kann dann sogar Tristan sein von Gottfried von Straßburg.
Alexander Kluge Aber natürlich, ja, absolut. Und bei dem „Parsifal“ mit Baselitz, da ist er ein Kindskopf, und ich bin einer, und beide konzentrieren wir uns von Wagner weg auf Wolfgang von Eschenbach. Das ist ein – ich habe da zum ersten Mal in meinem Leben gemerkt, dieser Parsifal, der Original-Parsifal – da war eine Mutter, die ihren Sohn planwirtschaftlich erzieht, so wie vor 50 Jahren die jungen Frauen gesagt hätten: „mein Sohn wird mal kein Bourgeois und kein Kapitalist!“ Da kommt irgendwas Anderes raus als geplant. Und so sagt die Mutter von Parsifal: „mein Sohn wird kein Ritter, ich kleide ihn als Narren.“ Das reicht von Trump bis zu einem ganz hinreißenden Mutterwitz von dieser Herzeloyde. Das heißt, es ist ein Don-Quijote-Roman in mittelhochdeutsch, den kann man ausgraben. Der Baselitz-Mut in diesem Fall ist er der Mutgeber, und in diesen anderen Fällen eben Ben Lerner oder Thomas Demant. So glaube ich, dass wir gerade unter den Druckverhältnissen des 21. Jahrhunderts stärker kooperieren können. Gärten der Kooperation, das ist ein Idol.
Jan Drees Das Mittelalter scheint lange vergangen. Aber etwas vom Mittelalter scheint wiederum in Ihnen und in Ihrem Denken zu wirken. Gibt es einen Dialog – nicht nur mit dem Parsifal oder dem Tristan, sondern auch mit den Predigten der alten Mystiker?
Alexander Kluge Sagen wir mal so: alle Zeiten sind eigentlich gegenwärtig. Es ist ein Irrtum, dass die untergegangen seien. Vor allen Dingen: dieser Witz geht nicht unter. Wenn Sie meine Mutter nehmen – ich habe eine fröhliche Mutter, die ist völlig amusisch. Die gibt mir aber sozusagen eine Robustheit, wenn ich schreibe, die mein Vater mir nicht mitgibt, der der sehr viel Poetischere ist. Was ich denke, kommt ja nicht bloß von mir, sondern kommt von meinen Eltern, kommt von meiner Schwester, kommt von anderen Schriftstellern, von dem, was ich gelesen habe. Und dabei stellt sich das, was mich interessiert und mich bewegt im Herzen, das stellt sich her im Dialog. Aber ich werde mit dem Dialog auf mich zurückgeworfen. Ich bin umso individueller, je mehr ich im Zusammenhang stehe. Das ist ungefähr dasselbe Verhältnis wie zwischen den Zeiten. Sehen Sie mal; ich habe nie für möglich gehalten 1989 oder zu früheren Zeiten, dass wir so eine Wirklichkeit erleben, wie wir sie jetzt erleben, mit einem Mann im Weißen Haus, der nicht vorhergesagt wurde. Mit Konflikten in der Welt, die so gefährlich sind wie vor 1914, eigentlich manchmal mir auch so vorkommen, in Syrien, wie vor dem Dreißigjährigen Krieg und im Dreißigjährigen Krieg. Das ist alles sehr bitter und unheimlich. Gleichzeitig fordert es Antworten. Und wir können darauf antworten; allerdings gemeinsam.
Jan Drees Der Trost besteht dann darin, dass all diese fürchterlichen Dinge irgendwann auch wieder vergangen waren.
Alexander Kluge Ja. Man muss auch nicht an ihre Autorität glauben. Es gibt eine Situation, die mich sehr fesselt. Da sitzt Marcel Proust in einem langweiligen Theaterstück in Paris. Er langweilt sich entsetzlich, und sein Blick fällt auf diese blauen Lichter, die den Notausgang zeigen. Da stellt er sich vor, dass Theater brennt ab, und er weiß, wo der Notausgang ist. Das macht den Abend für ihn sofort spannend. Sie merken; die Kenntnis der Notausgänge, das ist etwas, was unserer Zeit gut ansteht. Das müssen wir wissen. Wenn zum Beispiel Istanbul einen Tsunami erleben würde, oder der Wind hätte von Fukushima aus nach Süden gedreht auf Tokio, hätten wir die Lage gehabt, dass man eine Großstadt mit 37 Millionen Einwohnern – das wäre Tokio – nicht räumen kann. Und für London haben wir festgestellt, gibt es einen Evakuierungsplan nur für das Regierungsviertel und das Finanzviertel. Sie verstehen, wir wissen von Notfällen und dass sie oft kommen, und keiner bereitet sich darauf vor. Das ist etwas, wo die poetische Kraft, die Vorstellungskraft hingehört. Da aber immer nicht mit dem Ziel, etwas anzuprangern oder das Unheimliche zu verstärken, sondern mit Witz auch die Ausgänge zu finden. Und die gibt es immer.
Jan Drees In dem Moment wäre die Fiktion auch Trost. Dürrenmatt hat das immer abgelehnt.
Alexander Kluge Ich würde es auch ablehnen. Tröster sind wir nicht. Das macht ein Pfarrer. Aber wir können Auswege finden. Die Wirklichkeit ist wie ein Schwamm. Sie behauptet, sie wäre stark und eine Autorität, und in Wirklichkeit ist sie löcherig. Das ist auch ein Glück. Deswegen gibt es ja diese Auswege.
Jan Drees Spüren wir die Wirklichkeit besser durch die Fiktion?
Alexander Kluge Ich will nicht sagen, dass das Fiktion ist. Was wir machen, wenn wir die subjektive Seite einbeziehen, wenn wir der Realität ihren Anspruch – ich bin – bestreiten und sagen, na, unterirdisch gibt es noch Mordors Tunnel, und die funktionieren nicht nach den Regeln der Wirklichkeit, sondern nach den Regeln der Lebenszeit, nach menschlichen Gesetzen; dann sagen wir zwar, es gibt zwei Wirklichkeiten, die subjektive und die objektive. Aber wer ist stärker? Liebe ist hart wie Beton, sagt man. Sie können sagen, Wünsche sind wie Beton. Und etwas Objektives wie der Beton des Atlantikwalls, das war nicht mal das Papier wert, auf dem darüber geschrieben wurde. Sie merken; das Objektive ist nicht objektiv, weil es nicht subjektiv durch menschliche Erfahrung gesättigt ist. Das ist bei uns sozusagen das poetische Programm. In diesem Buch hier gibt es zwei Idole. Das sind zwei Bilder von Paul Klee. Das eine ist der „Angelus Novus“, das ist der Engel der Geschichte, wie Walter Benjamin dieses Bild von ihm beschrieben hat. der rückwärts von einem Sturm, der vom Paradies her weht, in die Zukunft geweht wird und alles sehr unheimlich findet. Das ist ein Mann mit Ahnungsvermögen, ein prophetischer Engel. Mich hat immer gestört, dass der nichts arbeitet und eigentlich als Such-Engel schwer beweglich ist. Er ist so verzweifelt. Deswegen sitzt bei mir neben ihm „Stachel der Clown“, ebenfalls ein Engel von Paul Klee. Der ist sehr viel praktischer. Der ist sozusagen so wie bei Bert Brecht. Und daneben, der andere, ist wie Benjamin. Beide zusammen sind stark. Das sind zwei Archäologen. Das sind zwei Ausgräber, wie die Brüder Grimm können sie zusammenwirken, gerade weil sie gegensätzlich sind. Das sind Gärten der Kooperation. Und an die glaube ich.
„Seen sind für Fische Inseln“ – da haben wir schon diese Kippfigur. Ein Satz, den man sich schnell merken kann. Der vorangestellt ist oder überschrieben ist Ihrer Sammlung an Fernsehfilmen, die dieses Prinzip ja auch beschreiben. Zwei Wirklichkeiten, und beide stimmen ja auch. Und es ist ein bisschen verblüffend – mich hat der Satz ja – ich habe ihn hingeschrieben als Überschrift, weil er mich selber gewundert hat. Ich habe gehört, dass es Fische im Victoria-See gibt, die kamen vom Atlantik in irgendeiner Weise, über Flüsse. Und dort haben sie neue Arten gegründet. Also ein Fisch, der in einen See kommt, ist wie ein Robinson, der sich auf eine Insel rettet. Dass also gewissermaßen andere Lebewesen das Flüssige als Biotop haben. Wir haben den festen Boden als Biotop oder Rettungsstation. Das ist zwar selbstverständlich, aber es fällt mir nicht zu jedem Tag- und Nachtzeitpunkt ein. Deswegen dieser Titel.
Sie sagten, wir leben in gefährlichen und beunruhigenden Zeiten. Unheimlichen.
Warum sind die unheimlich, diese Zeiten, für Sie? Sie haben viele unheimliche Zeiten erlebt. Und trotzdem gewöhnen wir uns als Menschen nicht daran. Für mich ist etwas wie ein Bombenangriff auf meine Vaterstadt am 8. April 1945 sehr prägend, denn ich lebe in einem geliehenen Leben. Ich hätte genauso gut umkommen können – ein Luftzug anders, die Windgeschwindigkeit etwas anders. Das gibt mir zu denken. Damals nicht. Als Kind habe ich das nur gefürchtet, und fand es aufregend, wollte es meinen Mitschülern erzählen. Das heißt, ich habe ganz alberne Reaktionen gehabt. Aber 40 Jahre später kann ich es verstehen, wie es mit Menschen gemeint ist, wenn von oben die Flugzeuge kommen und unten die im Keller machtlos erscheinen. Das erinnert mich natürlich, wenn ich Aleppo verfolge oder Idlib oder andere Stellen, oder gar, wenn die Drohnen heute losgeschickt werden, dann sage ich, das sind nicht nur Minengelände, sondern das ist ein Verhältnis, das ich grundlegend als Mensch ablehne. Ich kann ja vor einem Bombergeschwader nicht mal kapitulieren. Das konnte ich im klassischen Krieg noch irgendwann. Das ist eine Klassengesellschaft, wenn Sie so wollen. Die da oben und die da unten. Und da ist jetzt die Frage, wie die Auswege funktionieren. Das ist eine literarische Aufgabe. Da müssen wir manövrieren mit unserer Fantasie. Und sehen Sie, da gibt es meinetwegen die Hannelore Hoger, die spielt die Patriotin, und die spielt eine Lehrerin, die mit zwei Kindern in so einem Keller sitzt, ’45. ’45 ist sie offensichtlich machtlos, und ihre ganze Schulfähigkeit, Kinder zu unterrichten, nutzt ihr gar nichts. Wenn sie betet, weiß sie nicht, ob nicht gerade dadurch die Bomben auf ihr Haupt fallen. Sie sagt sich aber im Jahr 1929, da hatte Hitler vier Prozent Wählerschaft in Sachsen und Vorpommern. Den hätten wir doch abwählen können. 40.000 Lehrer wie ich, Erwachsenenbildner geworden, hätten diesen Mann abgewehrt, dann säße ich jetzt nicht ohnmächtig im Keller. Wenn Sie das jetzt anwenden auf unsere Gegenwart – was wissen wir, ob unsere Kinder nicht 2032 in Gefahr geraten und in eine Lage, in der sie eigentlich ohnmächtig sind. Also müssen wir jetzt was tun. Jetzt haben wir es noch in der Hand.
Bei diesen Lancaster-Bombern, die beispielsweise über meine Heimatstadt Wuppertal geflogen sind, was eindrücklich in Jörg Friedrichs „Der Brand“ beschrieben wurde, was die Menschen durchmachen mussten, denke ich zugleich auch an meine Großmutter, die Jüdin war und nur deshalb fliehen konnte, weil die Lancaster-Bomber da waren. Da ist die Natur, also die geschichtliche Natur, so reich. Ich meine, es ist ja nun wirklich so, dass das nicht sehr oft war, dass man fliehen konnte. Und diese Ausweglosigkeiten, die sind das Unheimliche. Ich sage Ihnen, wenn der größte französische Geist da in einem Bahntransport rettungslos in die Todesmaschinerie gefahren wird, mit der Reichsbahn – da hat es ja keinen Sinn, zu sagen, wir wollen die Eisenbahn zerstören, sondern wir müssen sagen, diese Art von Gesellschaften ist das Unheimliche, die muss man überall in der Welt aufspüren können. Wir sind schutzgeimpft, wenn Sie so wollen, durch ganz bittere Erfahrungen des 20. Jahrhunderts.
Aber werden nicht genau diese Erfahrungen inzwischen von einer jüngeren Generation ignoriert, verdrängt, vergessen? Wir haben wieder mit Judenhass zu tun beispielsweise – ist das nicht erschreckend? Deswegen brauchen Sie eben andere Überlieferungen als die bloße Information. Information unterscheidet sich von einem Erzählen, von der Narration, dass der subjektive Teil, die Empörung eines Menschen – das Longue durée-Gedächtnis, das langanhaltende Gedächtnis uns als Menschen eingegeben ist. Wenn Sie von Ihrer Großmutter sprechen, denke ich an meine Großmutter. Und die Summe aller Großmütter ist klüger als jede Generation. Wir brauchen Erfahrungstransfer, und das machen die Medien von sich aus nicht.
Das ist das, was die nigerianisch-stämmige Schriftstellerin und Feministin Adichie bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, bei der Pressekonferenz schon gesagt hat, dass allein die Kraft der Fiktion uns die Lebenswirklichkeit von Frauen nahebringt. Männer lesen meistens Literatur von Männern und nicht von Frauen. Frauen lesen die Literatur von Frauen und von Männern. Aber genau in diesen poetischen Werken, die von den Männern nicht gelesen werden, könnten wir die Antworten finden und auch die Informationen, die wir durch einen Zeitungsartikel niemals bekommen würden. Das ist total richtig, was Sie sagen. Das Wort ‚Fiktion‘ mag da auch falsch sein gegenüber einer Realität, die lügt und die behauptet, sie sei konsistent, ist es aber nicht. Denn sie wäre nur konsistent, wenn sie wirklich dauerhaft garantieren kann, dass es keine Gaskammern gibt. Dass es sie weder in Zukunft gibt – und sie müssen Sie eigentlich in der Vergangenheit absorbieren, um Wirklichkeit sein zu können. Und dann ist die Wirklichkeit nichts Wirkliches, sondern die Fiktion, die wir so nennen, sie Narration, die Erzählung mag dann das Wirklichere sein.
Worüber Sie auch gesprochen haben mit Ferdinand von Schirach in dem Band „Die Herzlichkeit der Vernunft) kann man es nachlesen – wie oft die Erzählung gewonnen, überhaupt erst für Empörung gesorgt hat. Weil es uns, und auch das hat Adichie, um noch mal auf sie zu kommen, gesagt: Wir sind emotionale Wesen, und wir müssen emotional gepackt werden. Das sind wir wirklich. Das Herz hat einen Verstand, den der Verstand selbst nicht versteht. Wenn Immanuel Kant sagt, Aufklärung ist der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, dann braucht das eine Ergänzung: Auch die Haut mit ihren Allergien können protestieren. Auch die Fußsohle hat eine Intelligenz, die nicht lebenslänglich eingekerkert gehört in einen Schuh. Das heißt, wir haben so viele Sinne, so viele Eigenschaften, und alle zusammen würden es nicht aushalten, ein Exekutionskommando zu befehligen. Das heißt, es gibt schon in uns Aushilfen gegen das Unheimliche. Und die muss man aber immer wieder ausgraben.
Erinnern Sie sich an Momente, in denen Ihr Körper Ihnen gesagt hat, das möchte ich jetzt nicht, obwohl Ihr Verstand etwas ganz Anderes oder Ihr Herz etwas Anderes zu sagen meinte? Ich kann da sehr viele Beispiele aufzählen. Ich kann aber auch Geschichten darüber erzählen. Da gibt es einen Piloten, einen US-Piloten im Irak, der greift ein Haus an, in dem sich eine Hochzeitsgesellschaft befindet. Er greift das Haus an, weil er meint, dort sitzen Rebellen. Sein automatisches Geschoss, das ist sein Jagdflugzeug, mit Bomben versehen, fliegt darauf zu. In dem Moment löst sich bei ihm etwas im After – und er macht in seine Flugzeugkombination. Schämt sich. Er kann sie ja nicht wechseln während des Flugs, und muss nach Hause kommen und sagen, ich hab’ mir in die Hose gemacht. Dieser Schrecken, dieses Schamgefühl führt dazu, dass er die Maschine verreißt. Die Hochzeitsgesellschaft ist gerettet. Da war der Darm klüger als der Kopf. Ich könnte so etwas jetzt in kleiner Münze aus meinem Leben erzählen, wobei ich natürlich kein Pilot bin und nicht in so dramatischen Verhältnissen lebe. Aber es ist wichtig zu beobachten, wie reich eigentlich ein Mensch oder überhaupt Lebewesen sind. Das ist der Anker gegen das Unheimliche.
Wie trainiert man Fiktionsfähigkeit? Wie schafft man es, so wie Sie auf so unterschiedliche Arten und Weisen die Anschauung immer wieder neu zum Begriff zu erheben? Also – Erzählen. Fiktion ist das ja nicht. Mein Kindermädchen hat mir Geschichten erzählt am Abend, die haben mich berührt. Bin eingeschlafen. Ohne das, die Geschichte, konnte ich schwer einschlafen. Meine Mutter erzählt am laufenden Band, mein Vater liebt Opern und ist Arzt und erzählt auch. Ganz anders als meine Mutter. Diese Stimmen sind in mir. Ich muss mich da gar nicht viel konzentrieren, sondern ich muss nur diesen Stimmen zuhören und sie zulassen. Ich darf sie nicht mit Sinnzwang zumüllen. Ich darf sie aber auch nicht sozusagen oberflächlich behandeln. Die wollen gehört werden. Und eigentlich erzähle nicht ich, sondern es ist etwas in mir, welches erzählt. Darauf muss man hinhören. Das ist wiederum relativ. Nur auf den Verstand würde ich mich nicht verlassen. Sehen Sie, es gibt viel Verstandestätigkeit im Jahr 1932, zu meiner Geburtszeit, und die hat 1933 nicht verhindert. Das genügt also allein nicht. Sondern es ist etwas in der Gesellschaft zusätzlich nötig und im Individuum zusätzlich nötig. Das nennen wir erzählen. Der Luhmann zum Beispiel gilt als sehr sachlich. Ich hab’ einmal mit ihm ein zweistündiges Gespräch geführt, so wie wir hier reden. Das hat die Leute entzückt, weil ich es ganz und ohne Bild in Wien aufgeführt habe. Das ging über „Liebe als Passion“. Da ist dieser Systematiker und erzählt. Ausgedacht hat er sich dieses Buch in Frankfurt 1968, inmitten der Protestbewegung, als er den Lehrstuhl von Adorno – er wird immer als Gegner der Kritischen Theorie gehandelt, aber nein, er vertritt den Lehrstuhl von Adorno mit dem Thema Liebe als Passion. Mitten im studentischen Protest, die doch das entsetzlich und irgendwie unverständlich finden, dass man sich mit Liebe als Passion befasst, wenn es doch eigentlich um Vietnam und den Klassenkampf gehen soll. Sie merken, da liegt die Erzählung.
„Liebe als Passion“, ein Buch, in dem es den schönen Satz gibt: „Lieben bedeutet, dem anderen die Möglichkeit zu geben, etwas Gutes zu tun dadurch, dass er ist, wie er ist.“ Sehen Sie, das ist eine wunderbare und poetische Formulierung. Das ist übrigens das Interessante, dass das eigentlich Wissenschaftliche und Exakte etwas Poetisches ist, genauso wie Poesie theoriefähig ist. Dass es nicht so ist, dass man über Blätter im Herbst und so weiter dichten muss, sondern man kann über Gedanken auch formulieren. Das ist das Schöne: dass das Poetische vom Besonderen ausgeht. Es sucht die Begriffe nicht im Allgemeinen, oben im Himmel, sondern auf Erden, in den Löchern, wo die Maulwürfe sitzen, da liegt das Besondere. Das kann nur das Poetische.
Luhmann beschreibt in „Liebe als Passion“, möglicherweise philologisch nicht ganz korrekt, wie unsere Idee von Liebe in die Welt gekommen ist. Er beschreibt beispielsweise, dass die französischen Liebesromane nicht die Lebenswirklichkeit der damals Liebenden abgebildet haben, sondern Frauen, die diese Romane lasen, wollten auf einmal auch so geliebt werden wie die Heldinnen in den Romanen. Deshalb wurde gewarnt vor den Frauen, die lesen. Das ist doch interessant. Das ist Hoffnungsliteratur, wenn Sie so wollen, Erwartungsliteratur. Normalerweise würde man sagen, hier sind die französischen Philosophen, Derrida, Deleuze, Guattari, dort sind Luhmann, Parsons und die Systematiker, und dort ist Habermas, Adorno und die kritische Theorie, und Benjamin liegt irgendwo dazwischen. Unsere Aufgabe in unserem 21. Jahrhundert ist eigentlich, diese alle zusammenzuführen. In nährstoffarmen Meeren nährt sich das Leben auf Korallenriffen. Wie vielfältig und gegensätzlich ist das, was auf so einem Korallenriff zusammenlebt. Ein Heringsschwarm, das ist bei Neufundland, wo die Meere reich sind an Nahrung. Da kann man sich eine Masse leisten. Wo es eher arm vor sich geht wie in unserem 21. Jahrhundert, in der Silicon-Wüste, da kann sie nur Oasen auf das Besondere gründen und auf die Zusammenarbeit. Deswegen bin ich zum Beispiel als Kuppler tätig, zusammen mit Lerner und anderen, diese ganzen Schulen unterirdisch durch Tunnel zu verbinden. Das sind poetische Tunnel.
Adorno war für Sie auch ein Kuppler. Er hat Sie mit Fritz Lang bekannt gemacht. Das hat er. Er wollte mir die Literatur abgewöhnen. Er fand mich einen sehr guten Juristen, brauchbar. Warum macht der so einen Unsinn wie Literatur, die doch nach Proust, sagt Adorno, abgeschlossen ist. Das ist überflüssig. Deswegen hat er mich dahingeschickt, mehr zum Abgewöhnen, damit ich wieder als Jurist zurückkomme. Das war nicht Kuppelei, sondern das war List. Ich hab’ allerdings bei Fritz Lang, den ich sehr respektiere und bewundere, gelernt, dass man den Autorenfilm braucht. Nicht, dass man den Studiofilm weitertreiben soll in den großen Ateliers, nicht die Filmkunst sozusagen, sondern die Beobachtungsfähigkeit des Films. Das ist meine Republik. Davon bin ich Patriot.
Dann haben Sie Papas Kino für tot erklärt. Na ja, das war hochmütig. Aber das haben wir von den Franzosen übernommen. Gucken Sie mal, die haben uns zwei Jahre vorher alles vorgemacht, Godard, Truffault und so weiter, die großen französischen Autorenfilmer, und wir haben das fleißig nachgemacht. Haben allerdings, im Gegensatz zu dem nach acht Jahren gewissermaßen abbrechenden Aufbruch der Franzosen, zwanzig Jahre durchgehalten, bis zu Fassbinders Tod. Ich würde behaupten, dass ich immer noch durchhalte, denn das, was ich mache, ist Autorenfilm, das mache ich neben dem Bücherschreiben, weil ich da keinen Unterschied sehe. Beides ist Autorentätigkeit.
Es ist kein Unterschied. Das ist interessant, weil Sie sich ja auch medientheoretisch… Ja, das Metier ist völlig verschieden. Ich schreibe nie gleichzeitig ein Buch und mache einen Film. Wenn ich über eine Geschichte von mir einen Film mache, werden Sie es nicht wiedererkennen. Also meinetwegen „Anita G.“, das ist eine Geschichte. Daraus ist „Abschied von gestern“ entstanden, der Film. Aber ich habe von der Erzählung nur zwei Absätze übernommen und verfilmt. Das reicht. Der Film ist ein vollkommen anderes Metier als das Buch. Die Haltung, die man einnimmt, sich nämlich im Vaterland des Besonderen aktiv zu halten und zu sagen, ich erzähle jedes ganz genau als Geschichte, und nicht als Begriff in abstrakter Weise. Das ist in beiden Medien gleich. Deswegen würde ich mich auch nicht so furchtbar verführen lassen vom Drama im Film. Man muss irgendwann aus dem Drama raus, wieder in die wirkliche Beobachtung. Das Drama, die Handlung, das Sprechtheater. Das heißt, mit dem Tonfilm ist die eigentliche Freiheit in der Filmgeschichte unterbrochen worden und gewissermaßen ein Stück Theaterkunst da reingerutscht. Das kann man wieder unterbrechen. Daran bin ich fleißig tätig.
Im frühen Fernsehen wurden Theaterstücke abgefilmt, und im Radio, selbst im Deutschlandfunk, wurde bis 1989 sogar noch Zeitung vorgelesen. Aber Radio kann was ganz Anderes. Die Mündlichkeit in unserem Jahrhundert lebenswichtig. Wir glauben, Digitalität ist eine Form der Schriftlichkeit. Der Mensch wird nicht schriftlich geboren. Und digital; ich hab’ noch kein Kind gesehen, dass im Mutterleib digital auftrat. Das heißt, es gibt mündliche, persönliche, auf Berührung, Taktilität beruhende Tätigkeiten in unserer Gegenwart, so wie in der Stammesgesellschaft vor 40.000 Jahren. Da sind gewaltige Kontinuitäten. Das sind große Anker, Rettungsanker. Sodass die Moderne zwei Gesichter hat. Sie mag Fortschritt bringen, aber sie hat auch Anker und Glücksengel in der Vergangenheit. Das heißt, die Nachhut ist genauso modern wie die Vorhut. Das ist in der Poetik ein ganz wichtiger Punkt.
Deshalb ist es möglicherweise sinnvoll, sich auch nach wie vor mit alten Texten zu beschäftigen, mit älterer Literatur, weil man dort etwas findet, was die Zeitgenossen Goethes beispielsweise gar nicht finden konnten im Goethe. Ich lese Goethe ganz anders. Wenn ich es mit Ben Lerners Augen mache, kommen neue Geschichten heraus. Nehmen Sie „Die Wahlverwandtschaften“. Das ist eine der klügsten Novellen von Goethe. Er beschreibt das: Wenn Wahlverwandtschaften, also die Art, Liebesverhältnisse zu knüpfen, die Chemie zwischen Menschen in Gang zu bringen, wenn das dazu führt, dass das Kind dort im See unrettbar ertrinkt, dann können die beiden Liebenden nur im Jenseits zusammenkommen. Das ist die feine Gesellschaft, die sich nach den Romanvorschriften verliebt und verhält. Und dann gibt es die beiden Nachbarskinder. Das ist eine kleine, versteckte Passage in demselben Stück bei Goethe. Da springt der Junge, der kommt aus einfachen Verhältnissen, dem Mädchen, das er liebt, ins Wasser nach, rettet es, und die werden glücklich. Die können im Diesseits sogar zusammenfinden. So was sind Goethe’sche Pointen, und die können wir hervorziehen. Dann ist der „Faust“ siebenstündig bei Castorf noch mal so schön, weil Sie einen praktischen Goethe haben. Sie merken, was für ein toller Erzähler er ist, wenn man ihn nicht mit Abitursinteresse betrachtet.
Jetzt sind wir bei den „Wahlverwandtschaften“ von Goethe, sprachen zu Beginn darüber, dass der Tristan in „Schnee über Venedig“ vorkommt. Ohne den Tristan wäre wiederum „Die Wahlverwandtschaften“ gar nicht denkbar. „Die Wahlverwandtschaften“ beziehen sich auf Tristan. Richtig. Wenn Sie jetzt davon ausgehen, dass in der Evolution Nachkommen erwünscht sind, dann würden Sie sagen, „Tristan und Isolde“ genügen allein nicht. Denn die kriegen keine Kinder. Romeo und Julia haben auch keine Kinder gehabt. Es muss irgendeine Form von praktischem Glück geben, sagt meine Großmutter. Und schon fangen Sie an zu erzählen. Das heißt, Sie müssen Geschichten haben, wo dramatische Lieben dazu führen, dass Kinder entstehen und glücklich werden und Erfahrung weitergeben; und nicht, dass im fünften Akt die Soprane ermordet, dass das Unglück der Liebe gefeiert wird. Meine Großmutter würde hier widersprechen als innere Stimme. Ich weiß ja, dass es so ist und dass sich Liebe in einem Labyrinth bewegt. Aber gleichzeitig gibt es im Labyrinth Auswege, Ariadnefäden. Die müssen wir suchen. Das nennt man „Die poetische Kraft der Theorie“, und die gehört zur Poetik.
Weil dann jemand kommen muss wie Walter Haug, der Mediävist, der einen schönen Aufsatz mal geschrieben hat über die sieben Liebesdiskurse des Tristan, in dem er beschreibt, wie durch die Fiktion Ideen in die Gesellschaft gebracht werden konnten, die man damals schlechterdings nicht aussprechen durfte, beispielsweise jene, dass die Liebe zu einer Frau durchaus größer sein kann als die Ehre der Frau. Das war vorher anders. „Tristan“ ist der erste Roman, der Liebe auf eine Ich-Du-Beziehung umstellt und damit etwas Konstruktives hat. Nehmen Sie zum Beispiel die Geschichte einer jungen Frau in der französischen Revolution. Ihr Mann ist eingekerkert, und sie weiß oder nimmt an oder ahnt, dass der Gefängnisdirektor, der der gegnerischen Fraktion angehört, ihren Mann morden wird. Sie verkleidet sich als Mann und bringt es fertig, im richtigen Moment zu intervenieren, ehe ihr Mann gemordet wird, und holt ihn aus dem Kerker. Das ist Leonore bei Beethoven. Das ist einfach der Typ von Geschichte, den ich noch mehr liebe als die sehr verschlungene Geschichte eines Besatzers, der seinem König eine Frau als Beute bringt – das ist nicht mal Heiratsvermittlung, sondern das ist einfach Entführung. Daraufhin gibt sie ihm einen Liebestrank, beide verschmelzen im Wahnsinn und sterben. Ob das mein Idol im praktischen Leben ist, bezweifle ich. Mein Vater würde sich da reinversetzen. Aber meine Mutter und meine Großmutter würden sagen: „Ist nicht praktisch.“ Sie würden sagen: „Muss man noch mal neu erzählen. Wo ist der Ausweg?“ Brangäne, die Gefährtin von Isolde, die weiß Auswege.
Sie haben dann dieses Problem, dass auf dem Schiff, auf der Überfahrt, Isolde ihre Jungfräulichkeit verliert. Ab da wird es ja hochkomisch, weil sie überlegen: wie schaffen wir es, König Marke so zu täuschen, dass er es nicht bemerkt. Da muss die arme Brangäne ran, stellvertretend im Dunkel der Nach herhalten und sich entjungfern lassen. Das ist aber witzig, der Witz als Ausweg. Das ist etwas, was mich fasziniert. Ein Stück Till Eulenspiegel, mitten im Drama. Das liebe ich.
Man hat die unglaublich schweren Minnegesänge auf der einen Seite, und man hat Moriz von Craûn auf der anderen Seite. Das ist alles ganz modern. Eigentlich müssen wir etwas wiederholen, was Benjamin schon gemacht hat im „Passagen-Werk“. Er hat da als Mensch von 1929 gesagt, wir verstehen unser Jahrhundert und uns selbst nicht, wenn wir nicht das 19. Jahrhundert auf den Prüfstand stellen und darstellen. Das Eisen, die Fotografie, die Revolution und was es gibt. Das hat er bewundernswert gemacht. Ich sage Ihnen, wenn wir davon das Achtzigfache gehabt hätten, hätten wir Hitler 1933 nicht gesehen als Kanzler. Das heißt, Aufklärung muss auch eine gewisse Masse haben. Wir könnten heute zu mehreren die Arbeit von Benjamin wiederaufnehmen. Er ist zu Unrecht gestorben, zu früh gestorben. Wir können jetzt mit dem Blick vom 21. Jahrhundert die Erfahrung des 20. Jahrhunderts auf den Prüfstand stellen und das „Passagen-Werk“ fortsetzen. Wenn das Humboldt-Forum so etwas tut, dann hat das einen Sinn. Wenn es nur Berlin-Tourismus fördert, hat es keinen Sinn. Beim Humboldt-Forum können Sie sagen, der Stolz der Republik ist: ‚Wir geben der Welt was.‘ Nicht, ‚Wir berichten über uns.‘ Das ist ein poetischer Auftrag. Der hat diesen Kern, Arbeiten, die liegengeblieben sind in der Geschichte, neu aufzugreifen. Sie nannten vorhin Goethe. Der hat es am wenigsten nötig. Aber bei Benjamin zum Beispiel ist es aktuell. Da kommen wir mithilfe von früheren Erzählungen dazu, die Jetztzeit überhaupt erzählbar zu machen.
Und stellen Sie sich vor, wie wunderschön das jetzt gerade war. Wir hätten nicht zusammengefunden heute, an diesem Tag, wenn es nicht einen Dichter gegeben hätte, Ben Lerner, der begeistert war von dem, was Sie gemacht haben, daraufhin geschrieben hat. Sie haben wiederum ihn gelesen… und beschrieben …
Der auch mit ihm gesprochen hat. Sie haben „Tristan“ mit reingebracht, über den Tristan kamen wir zu Goethe, wieder zurück zum Tristan, sind dann bei Benjamin, der wiederum über „Die Wahlverwandtschaften“ einen wunderschönen Aufsatz geschrieben hat. Das heißt: das Alles, dieses Erzählen, ist reich. Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Das ist sehr angenehm. Wie bei „Tausendundeiner Nacht“. Es hält ein Stück Unheil in der Welt auf. Das Poetische ist nicht zu unterschätzen. Das ist keine luxurierende Tätigkeit und ist noch nicht mal bloß Kunst, sondern es ist praktisch notwendig. Das ist nämlich die Verbindung von Empfindung und Realität. Realität, das ist eine Sache, das beobachten wir mit Sinnen. Ob mein Kopf gegen eine Wand stößt, das werde ich merken, das sagen mir meine Sinne, das tut weh. Auf der anderen Seite gibt es diese subjektive Seite. Die kann, das habe ich in meinem Leben beobachtet: zäh sein, konsistent sein und hart sein und entschlossen wie Beton. Liebe lässt sich nicht betrügen.
Alexander Kluge, Ben Lerner: „Schnee über Venedig“, mit zahlreichen Schwarzweiß- und Farbabbildungen von Gerhard Richter, Thomas Demand und R.H. Quaytman, Spector Books, Leipzig, 300 Seiten, 28 Euro