Brauchen wir im Jahr 2015 den Begriff oder die Vorstellung von Nationalliteratur? Was unterscheidet Konzepte der Multi- oder Interkultur? Gab es früher eine gesamteuropäische Literatur? – Im Rahmen meines einstündigen Features über „Weltliteratur statt krachdeutsche Parolen“, das am kommenden Sonntag um 22:05 Uhr als Zündfunk Generator auf Bayern 2 gesendet wird, bin ich genau diesen Fragen hinterher; und musste in einem Fall lediglich zur Wuppertaler Uni auf den Berg hochfahren, um Julia Abel zu treffen. Abel (40) ist Literaturwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an der Bergischen Universität Wuppertal für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literaturgeschichte. Sie ist Mitherausgeberin eines „Text & Kritik“-Bandes zu Literatur und Migration. (Das Portraibild ist von Annika Kipper.)
Julia Abel, die deutschsprachige Gegenwartsliteratur wird an vielen Stellen von Literatur so genannter Migranten geprägt. In den Bestsellerlisten lesen wir Namen wie Zaimoglu, Trojanow, Vertlib, Bronsky. 2015 wurde Navid Kermani der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Die deutschsprachige Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller kommt aus Rumänien. Wird es langsam Zeit, in den Beschreibungen von National- auf Weltliteratur umzustellen? Der Begriff der Nationalliteratur wird schon seit einigen Jahren kritisch gesehen und auch nicht so gerne verwendet. Man spricht stattdessen inzwischen eher von verschiedenen „Literaturen“. Das hat auch damit zu tun, dass der Begriff der Nationalliteratur nicht nur über die Sprache definiert wird, sondern auch eng mit der Vorstellung einer Nation verknüpft ist und diese wird wiederum assoziiert mit einem Volk, womöglich sogar mit ‚Abstammung‘. Diese Assoziationen sind natürlich problematisch.
Der Zusammenhang von Literatur und Migration wird seit vielen Jahren diskutiert. Wie kann dieses Feld umrissen werden? Es geht um Kultur- und Sprachkontakte, um die Vermittlung von Literatur über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg, etwa in Form der literarischen Übersetzung. Es geht um die Frage, wie literarische Kulturkontakte aussehen und dann kommt man von da aus relativ schnell zu dem Thema: Was bedeutet es eigentlich, mit einer einzelnen Literatur zu tun zu haben? Sind das Inseln? Natürlich sind das keine Inseln.
Autoren stehen im Kontakt mit anderen Autoren, das Goethe-Institut schickt permanent Schriftsteller auf Reisen durch die Welt. Genau, auch um solche Formen des Austauschs geht es. Wenn man sich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur anguckt, fällt einfach ziemlich schnell auf, dass es sehr viele Autoren gibt, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.
Wieso werden in der Literaturwissenschaft Texte überhaupt unter dieser Differenz beobachtet? Konzepte der Interkulturalität (ein anderes wäre das der Transkulturalität), werden in der modernen, heutigen Zeit in Anschlag gebracht, in der wir durch Globalisierung und Emigrationsbewegung veränderte Gesellschaften haben. Betrachtet man durch diese Brille den Begriff der Nationalliteratur genauer und auch, welche Texte jeweils dazugehören, wird im Rückblick mittlerweile gesehen, dass die Gesellschaften und Literaturen auch vor 100 Jahren keine Inseln waren. Autoren wie Adelbert von Chamisso sind zu nennen, Kafka gehört in diesen Zusammenhang natürlich, Paul Celan. Wenn man sich das dann in der Literaturgeschichte anschaut, findet man mehr Autoren dieser Art, als man meinen würde.
Das Phänomen ist also nicht genuin modern? Nein. Aber da hierzulande der Anteil an Menschen mit Migrationshintergund erheblich größer geworden ist, hat sich die Situation verändert. Man kann damit rechnen, dass in zehn, fünfzehn Jahren ungefähr die Hälfte aller Grundschulkinder Migrationshintergrund haben wird. Das bedeutet, dass wir dann auch mehr Autoren haben werden, die zum Beispiel in Deutschland aufwachsen sind, aber vielleicht zu Hause zusätzlich eine andere Sprache gesprochen haben.
Wie stehst Du zum Adelbert von Chamisso-Preis, der „herausragende auf Deutsch schreibende Autoren“ ehrt, „deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist“; laut Eigenbeschreibung? Diese Preise sind Förderinstrumente und eine wichtige Möglichkeit, Autoren zu finanzieren und öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Werke zu schaffen. Insofern finde ich sie eigentlich immer gut. Wenn allerdings Literatur von Nicht-Muttersprachlern separiert betrachtet wird, ist das natürlich auch eine Form der Ghettoisierung.
Feridun Zaimoglu hat im Interview immer wieder bekräftigt, er sei ein deutscher Autor, da er nicht in der Mongolei lebe. Er kritisiert den Interkulturbegriff. Feridun Zaimoglu ist interessanter Fall. Der kommt mit Kanak Sprak ursprünglich aus einer anderen Ecke. Damals hat er sich nicht eigentlich als deutschsprachigen Autor oder als deutschen Autor betrachtet, also als Schriftsteller im emphatischen Sinn, sondern eher als eine Art Dokumentarist, man kann seine frühen Arbeiten mit der so genannten Dokumentarliteratur vergleichen. Mitte der 90er Jahre hat Zaimoglu seine Aufgabe also noch ganz anders gesehen, er stellt in Interviews und selbstreflexiven Texten immer wieder klar, dass er da eine Entwicklung gemacht hat. Inzwischen hat er ein ganz anderes Selbstverständnis und auch eine ganz andere Position im Literaturbetrieb.
Bildet der deutsche Buchmarkt die Migrationsliteratur auf eine repräsentative Weise ab? Ob das repräsentativ ist, kann ich nicht sagen. Aber wenn man sich die Entwicklung in den letzten zwanzig, dreißig Jahren anschaut, dann sieht man, dass sich das, was als „Gastarbeiterliteratur“ begann, ins Zentrum der deutschen Literatur bewegt hat. Man muss nur ins Feuilleton schauen: Autoren wie Zaimoglu oder Trojanow werden immer und vor allem auch hervorragend besprochen.
Wie verändert sich durch die Forschung der Blick auf unsere Literatur? Der Kulturbegriff wird neu definiert. In den letzten dreißig, vierzig Jahren gab es da eine Entwicklung, die vom Begriff der Multikultur über den Begriff der Interkulturalität bis zur Transkulturalität reicht. Anfangs ist man davon ausgegangen, dass in einer Gesellschaft zwei oder mehrere Kulturen nebeneinander existieren, dafür steht das Konzept der Multikultur. Über den Begriff der Interkulturalität, wo man sich das als Begegnung, aber auch als Konflikt vorgestellt hat, ist man zu einem Begriff von Transkulturalität gelangt, den Wolfgang Welsch prominent gemacht hat, mit der Aussage, wir müssten den Begriff der Kultur neu konzipieren und nicht mehr davon ausgehen, dass eine Kultur etwas Homogenes ist, das sich sauber separieren lässt von anderen Kulturen, sondern dass Kulturen immer schon sozusagen „unrein“, also hybrid, d.h. eben permanent anderen Kultureinflüssen ausgesetzt sind. Mark Terkessidis hat den Begriff der Interkultur eingebracht, der in den letzten Jahren ziemlich prominent geworden ist. Terkessidis sagt: Wir leben in einer Kultur des Dazwischen – er nennt das Interkultur. Ihm geht es dabei um ein politisches Programm, nämlich darum, in unserer Gesellschaft Barrierefreiheit zu schaffen und die Institutionen unserer Gesellschaft so umzubauen, dass alle Zugang zu ihnen haben, natürlich auch Menschen mit Migrationshintergrund, die immer noch unterrepräsentiert sind.
Ist es falsch, Literatur mit einem Nationalgefühl aufzuladen? Der Gedanke, dass Literatur mit Nationenbildung eng verknüpft ist, hat eine lange Tradition. Man kann sehr schön im 19. Jahrhundert beobachten, z.B. wenn man die Literaturgeschichten aus der Zeit anschaut, dass man angenommen hatte, dass sich an der deutschen Literatur quasi das „deutsche Wesen“, der „deutsche Charakter“ ablesen lasse. Das hat auch mit unserer Fachgeschichte zu tun. In der Gründungszeit der Germanistik haben die Brüder Grimm alte deutsche Sprachzeugnisse auch deshalb erforscht, um das Nationalgefühl der Menschen zu stärken. Man muss das in historischem Zusammenhang sehen, vor dem Hintergrund eines zerrissenen Deutschlands haben sich die Brüder Grimm neben vielen anderen für seine Einheit eingesetzt, unter diesem Vorzeichen steht nicht zuletzt auch ihre philologische Arbeit als Germanisten.
Auf gut deutsch: Unser Kanon der Nationalliteratur ist keineswegs natürlich aus einer tief liegenden Wurzel erwachsen? Das sind Konstruktionen. Kanonbildung hat sehr viel mit Nationenbildung zu tun. Das Studium der Literatur und überhaupt Literatur selbst wurde als identitätsstiftend betrachtet. Deswegen ist der Begriff der Nationalliteratur im 19. Jahrhundert so wichtig, Literatur war für die nationale Identitätsbildung von großer Bedeutung und ist das noch bis in 20. Jahrhundert geblieben.
Kann man davon ausgehen, dass die Literatur des Mittelalters paneuropäisch betrachtet werden muss? Die Mediävisten würden immer sagen, dass wir es damals mit einer europäischen Kultur zu tun hatten. Die Ausdifferenzierung in Nationalliteraturen über die verschiedenen ‚Volkssprachen‘ ist relativ spät erfolgt. In der deutschen Literatur beginnt das erst im Barock, mit Opitz, dass wir überhaupt von einer eigenständigen deutschsprachigen Literatur sprechen können. Bis dahin war ein großer Teil der Literatur in lateinischer Sprache verfasst. Das war für mich zu Beginn des Studiums eine Überraschung, als ich erfahren habe, dass es selbst im 17. und noch im 18. Jahrhundert durchaus üblich ist, auch in lateinischer Sprache zu schreiben.
Hängt Nationalliteratur ganz elementar an einer Sprache? In erheblichem Maße schon, ja. Dennoch unterscheidet man zwischen englischer und englischsprachiger Literatur. Der Begriff der Nationalliteratur läuft also nicht nur über die Sprache. Im 19. Jahrhundert ist zentral, dass mit dem Begriff die Vorstellung einer Volksgemeinschaft verbunden ist. Und das lässt sich nicht ganz lösen, auch wenn man immer sagt, man versteht darunter nur die Literatur einer bestimmten Sprache. Die Wirksamkeit solcher Konzepte und ihrer Geschichte ist natürlich groß. Wenn wir von Nationalliteratur sprechen und dieses Konzept verwenden, dann handeln wir uns bestimmte Probleme ein, die mit seiner Geschichte zu tun haben.
Wäre es dann nicht einfacher, auf den Begriff der Nationalliteratur zu verzichten? Wenn man das problematisiert, gibt es schon gute Gründe, ihn abzuschaffen. Aber wissenschaftsorganisatorisch ist das gar nicht so leicht. Dann hätten wir eben keine Germanistik, Anglistik, Amerikanistik usw. Wir bilden ja immer noch Deutschlehrer und Englischlehrer aus und nicht „Literatur-“ und „Sprachlehrer“, die sozusagen jenseits solcher Grenzen operieren. Wissenschaftsorganisatorisch ist es also schon praktisch, mit diesen Begriffen zu operieren. Wenn ich Germanistik studiere, weiß ich sofort ungefähr, mit welchem Textkorpus ich es zu tun haben werde. Wenn ich diese Begriffe einfach verabschieden würde, würde das natürlich einiges verändern.
Literatur: Julia Abel: „Ansichten vom Nicht-Bürgerlichen„. Modelle von Autorschaft und Schreiben bei Feridun Zaimoglu. In: Feridun Zaimoglu – in Schrift und Bild. Beiträge zum Werk des Autors und Künstlers. Hg. v. Rüdiger Schütt. Edition Fliehkraft, Kiel 2011. / Julia Abel u.a. (Hg.): Literatur und Migration. Sonderband Text + Kritik IX/2006. / Julia Abel: Konstruktionen ‚authentischer‘ Stimmen. Zum Verhältnis von ‚Stimme‘ und Identität in Feridun Zaimoglus „Kanak Sprak“. In: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. De Gruyter, Hg. v. Andreas Blödorn, Daniela Langer, Michael Scheffel. Berlin; New York 2006. / Julia Abel: Erzählte Identität. Mündliches Erzählen in der neueren deutschen Migrantenliteratur. In: Der Deutschunterricht 57 (2005), H. 2 / Michael Hoffmann, Iulia-Karin Patrut: „Einführung in die interkulturelle Literatur“, WBG, 168 Seiten, 12,95 Euro
[…] sind allesamt von Annika Kipper. Ein Interview mit der Literaturwissenschaftlerin Julia Abel gibt es hier, einen längeren Text über das neue Buch von Cornelia Tracvnicek […]