Was in der deutschen Gegenwartsliteratur seit längerer Zeit eingeklagt wird, erfüllt das Theater. Hier werden vor großem Publikum aktuelle Themen besetzt, neue Utopien entworfen: Wie kann eine Gesellschaft nach 2015 aussehen? Was ist männlich, was weiblich? Wie verhalten wir uns zu den ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer, zur Piraterie an der Küste vor Somalia? Wie kann die vom kulturellen Bereich nahezu ausgeschlossene Unterschicht zurück ins Rampenlicht gebracht werden? Für den neuen Zündfunk Generator „Utopia Stage“, der am morgigen Sonntag, 7. Juni ab 22:05 Uhr in Bayern 2 gesendet wird, fragte ich erfolgreiche Newcomer der Szene wie die beiden Theaterautoren Ferdinand Schmalz und Wolfram Lotz. Ich sprach mit Christina Zintl, der jungen Dramaturgin des Berliner Stückemarkts, mit Hanser-Verleger Jo Lendle und mit der mehrfach ausgezeichneten Theaterregisseurin Jessica Glause. Gerade erhielt die 35-Jährige den Publikumspreis beim Münchner „radikal jung“-Festival für ihre Inszenierung von „Und jetzt: die Welt!“, geschrieben Sibylle Berg. Wir trafen uns direkt nach der Aufführung im Theater.
Es ist eine Figur, geschrieben wurde es für vier Stimmen – warum sind es dann drei Schauspielerinnen? Theater hat mittlerweile sehr viele Formen. Es ist nicht mehr ein Theater, das nur Klassiker mit klaren Rollenaufteilungen inszeniert. Daran sieht man auch, wie vielfältig Theater sein kann. In dem Stück von Frau Berg gibt es diese Textfläche und dann gibt es die Entscheidung des Regisseurs – der Regisseurin in meinem Fall: Wie besetzt man das? Für mich war der Zugriff über drei Schauspielerinnen, oder man muss sagen: drei Performerinnen, die eine Figur spielen. Und zwar mit sehr verschiedenen Varianten und sehr verschiedenen Zugriffen.
Ist die Figur eigentlich männlich oder weiblich? Das schien mir nicht ganz klar zu sein. Sie hat ja ein Problem damit, dass da jemand ist, der ihr die ganze Zeit dann eben schreibt, wie er ein Date hat. Es ist immer die Frage, wie man diese Texte liest. Ich finde auch, dass es heute eine große Frage ist: was ist männlich, was ist weiblich? Wenn man von der klassisch heteronormativen Setzung ausgeht, von Mann und Frau als einer Paarkonstruktion, dann haben wir hier auf jeden Fall eine Figur. Das ist wichtig, um diesen Text zu analysieren.
Was ist das für ein Text? Bei dem Stück ist es so: Es ist eine Textfläche. Betitelt hat Sibylle Berg es mit den Worten: „Ein Stück für eine Person und mehrere Stimmen – oder anders.“ Was erst einmal die klare Aufforderung gibt, das Stück eigenmächtig zu besetzen. Es gibt quasi nicht Figur X, die einen Text spricht, sondern eben die benannte Textfläche, die man frei zuordnen kann.
Auch wenn der Begriff der „Textfläche“ inzwischen durch das so genannte „postdramatische Theater“ bekannt zu sein scheint – was unterscheidet so ein Stück von Goethes „Faust“ mit seinen klar zugewiesenen Rollen? Das Theater hat sich in den letzten Jahrzehnten ziemlich verändert. Es ersucht, sich auch auf der Textebene der Gesellschaft, die da draußen stattfindet anzunähern oder sie abzubilden. Wir sind gerade in einer Kultur verhaftet, die sehr viel mit Texten konfrontiert ist. Allein durch die digitalen Medien haben wir sehr viele Textformen. Es gibt Stücke, die rein aus SMS-Dialogen oder Twitter-Nachrichten geschrieben sind. Was Frau Berg macht würde ich fast beschreiben als „Stream of consciousness“ einer Figur. Das heißt: Das, was wir uns als Kopftheater vorstellen können, als unaufhörliche Gedanken, die permanent rattern und losrasen und sich selber reflektieren und zu einer Welt dort draußen.
Wie ist „Und jetzt: Die Welt“ entstanden? Das ist ein Stückauftrag des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin gewesen. Sibylle Berg hat diesen Text für vier Schauspielerinnen geschrieben, inspiriert aus Gesprächen mit diesen Schauspielerinnen. Der erste Zugriff der Autorin ist der, zu sagen: man versetzt sich in die Rolle einer jungen Generation – viel jünger als Sibylle Berg – und schreibt aus deren Perspektive ein Stück über „das Ich“ heute. Von daher ist es auf jeden Fall ein Stück für junge Frauen.
Die Figur schein zu zweifeln. Sie wirkt auch ein wenig irre. Die Figur, die da auftritt, ist verliebt in eine andere Frau. Sie ist lesbisch, hat aber auch was mit Männern. Die Frage von Sexualität ist einfach ein großes Fragezeichen, auch eine große Suche nach dem „Was kann eigentlich heute noch eine Beziehung sein? Welche Wertemuster kann man da leben?“ Der Rückgriff auf das, was die Generation vor uns gelebt haben, klappt nicht mehr richtig. Wo orientiert man sich eigentlich damit? Warum klappt der nicht mehr?
Ja, warum klappt das denn nicht mehr? Wenn ich das wüsste! Das hat wahrscheinlich sehr verschiedene Ursachen. Es kommt sehr darauf an, wo man sozialisiert ist. Dieses Stück ist für ein Ich in einer Großstadt geschrieben. Ich glaube, dass ist wesentlich. Was als Kultur da verhandelt wird, ist sicherlich keine Kultur, die in meiner Heimatstadt Nordheim in Niedersachsen so auftreten würde. Das bedeutet: Das ist eine Figur, die sehr stark an einer subkulturellen Szene teilnimmt, die vermutlich studiert hat, die sich mit einem Großstadtleben auseinandersetzen muss, wo es permanente Partnerwechsel gibt, wo alle Leute studieren und Praktika machen und danach arbeitslos sind. Das bedeutet: man ist in einem gewissen Klima unterwegs. – Was uns alle betrifft, fernab des Alters, ob man 20 oder 40 oder 60 ist, und das hat zu tun mit einer Überforderung von Medien, von Informationen und auch der Frage danach, welches Wertesystem noch gelten kann.
Du sagst, es ist für das Maxim-Gorki-Theater in Berlin geschrieben. Die Figuren sind aus einer Großstadt. Großstädter können also in ein Großstadttheater gehen, um die Verdopplung ihres Großstadtlebens zu sehen. Warum brauche ich dafür das Theater, wenn ich das selber so lebe? Bei dem Stück tritt auf sehr unterhaltsame Art ein Spiegelungseffekt ein. Was ich selber bei mir und auch bei den Zuschauern wahrnehme, ist, dass man sich merkwürdig ertappt fühlt. Man fühlt sich einerseits unterhalten, weil man auf etwas drauf guckt, eine Figur, die etwas erlebt – man ist nah dran. Es ist eine kleine Bühne. Man hat fast das Gefühl, man ist bei denen. Vielleicht nicht in der Küche. Aber mit ihnen zusammen in einem Raum. Man wird oft angesprochen. – Ich glaube, im Spiegel des anderen können wir uns selber mit Ironie und Humor entdecken, dann auch die Hände überm Kopf zusammenschlagen und denken: „Oh mein Gott, was ist das denn!“ Es gibt viele Sätze, die habe ich nicht mehr aus dem Kopf bekommen.
Könnte ich dann das Stück nicht einfach lesen? Der Mehrwert ist natürlich einerseits in der Bebilderung, der Verkörperung, dass man einen Erfahrungsraum aufmacht, also in einem ästhetischen Erfahrungsraum. Es gibt Licht, Musik, Bühne, Kostüm, die Schauspielerkörper. Man durchlebt kurz mit diesen Schauspielern in dieser 1:10 Stunde ihren Gedankenfluss, ihre Auseinandersetzung und ihre Welt.
Es gibt diese schöne Formulierung „die Anschauung zum Begriff erheben“. Daran habe ich immer wieder gedacht. – Zum Schluss ruft die Mutter an – übrigens eine grandiose Szene. Wenn Karolina auf dem Kühlschrank sitzt.
Was passiert da eigentlich? Wird da wirklich geweint? Und wie bringt man sie zum weinen? Das ist nicht inszeniert. Es gibt keine Inszenierungabsprache, dass Karolina weint. Wir haben ehrlich gesagt nie drüber gesprochen. In manchen Momenten habe ich gemerkt, dass ihre Augen glasig werden. – Es gibt diese sehr merkwürdige Beziehung zu der Mutter, die nie liebevoll war. Doch auf einmal nennt diese Ich-Figur die Mutter „Mama“. Mit diesem Nennen des „Mamas“ bricht eine ganze Welt ein. Dadurch werden Dinge geäußert, die bis dato so nie geäußert wurden bis dato. Mir war es wichtig, dass die Schauspielerinnen das auf eine Art zu sich ran holen und über das Zu-sich-ran-holen sagen: „Die größten Konflikte, die wir hier auf Erden haben, sind die mit unseren Eltern.“
Weshalb? Das sind in den meisten Fällen unsere ersten Bezugspersonen. Das sind Konflikte, die sehr archaisch sind und sehr tief sitzen. Man muss auch den Zuschauer auf diese Ebene mitnehmen. Da passiert gerade etwas, was tiefer ist als die Gedanken, die die ganze Zeit durchrattern. Das hat ja eine große Oberfläche, was Frau Berg uns da aufs Tablett gibt.
Es zeigt aber auch noch etwas anderes, nämlich: Was passiert eigentlich, wenn wir alle Beziehungen kappen? Es gibt keine einzige empathische Beziehung in diesem Stück. Man weiß ja auch nicht, ob die eigentlich wirklich da sind. In den Proben gab es auch immer wieder die Frage: „Gibt’s die da draußen überhaupt? Gibt’s diese Personen mit denen diese Figur spricht oder sind die nur in ihrem Kopf?“ – Aber wenn wir etwas über die Mehrheitsgesellschaft erzählen wollen, dürfen wir aus der Figur keinen Pathologiefall machen. Aber die Frage, mit wem wir Gespräche führen und an wen wir uns gedanklich oder sprachlich adressieren, ist interessant. Viele Gespräche und Konflikte, die führen wir mit Menschen, die wir imaginieren. Oder mit Menschen, die wir kennen, aber die Gespräche mit denen sind imaginiert. Es gibt die schöne Zeile „Und du bist ruhig, das war der Deal!“ Was für mich auf die klassische Theatersituation anspielt: Wir sind hier auf der Bühne und ihr seid im Publikum und habt die Klappe zu halten. Eine dankbare Situation für Performer: “Ok, das ist der Deal, auf den wir uns eingelassen haben und ich mach jetzt hier die Show und du bist still!“
Sind die meisten Kommunikationsformen inzwischen flüchtig, unbewusst, unreflektiert? Das weiß ich nicht. Ich bin natürlich in einem Beruf unterwegs, der extrem auf Kommunikation ausgerichtet ist und auch darauf, Gedanken, Gefühle, Emotionen, Ahnungenin Sprache zu übersetzen. Bei mir ist Denken sehr stark an Versprachlichung gebunden. Bestimmte Gedanken werden erst weiter gedacht, wenn ich sie versprachlichen muss, weil mich dann selber auf meine Sprache rückbeziehe, auf das Ausgesprochene. Dadurch bildet sich immer mehr ein Text, der sich selbstreferenziell beurteilt, bewertet, weiter analysiert. – Da sind wir jetzt sehr auf anderen Fährten unterwegs. – Das ist auch die Qualität des Textes. Ein Gedanke wird geäußert und er wird sofort wieder kommentiert. „Opfer. Ach. Opfer sage ich ja gar nicht mehr. Einkommensstruktur, Darf man das noch sagen?“ Das ist eine tolle Beobachtung unserer jetzigen Sprachkultur. Ich weiß nicht, wie die da draußen alle kommunizieren, ich kommuniziere sehr stark über Sprachnachrichten, das bedeutet SMS, Whatsapp, E-Mails – ich liebe es, E-Mails zu schreiben.
Die Angela Merkel des Theaters. Das ist etwas, was in diesem Stück permanent verhandelt wird: Das In-Beziehung-Sein durch Medien. Skypen, parallel einen Blog schreiben, noch Simsen und schon kommt wieder die nächste Chatnachricht. Es geht auch um die Parallelität der Texte, die sich permanent überlagern und beeinflussen. Ich nehme auch bei mir wahr, dass sich meine Auseinandersetzung mit Texten verändert hat. Ich lese parallel Bücher, ich lese parallel Stücktexte und ich schreibe natürlich immer während des Lesens SMS und gucke kurz nach, was Spiegel Online veröffentlicht hat.
Ist es nicht verrückt, dass auf einmal wieder der Text da ist? Während man in den 90ern noch gesagt hätte: Ab jetzt kommt das Bild. Man hatte den Text ja eigentlich tot gesagt. Ich würde dagegen sprechen. Ich würde sagen, die Bilder sind definitiv die stärksten Medien unserer Zeit. Aber es gibt Twitter, eines unserer größten Kontrollmechanismen. Dort twittern gerade Leute aus dem Jemen oder sonst wo her. Mein Schwager arbeitet im Bundesministerium und ist gerade für Jemen zuständig. Der ist nächtelang auf Twitter unterwegs, um sich ein Bild der aktuellen Lage zu machen. Dennoch glaube ich: Die Bilder eines geköpften Journalisten haben die größte Kraft und die größte Wucht. Dennoch ist der Text nicht verschwunden. Der Text wird aber durch diese Überlappung vermutlich peripherer, unwichtiger. Das heißt, der einzelne Text geht eigentlich auch in eine Masse von Textkulturen ein. Aber das ist jetzt auch gerade nur ein Denken.
Welche Utopie wird denn im Stück erzählt? Das Stück heißt „Und jetzt: die Welt“, Untertitel oder zweiter Titel, je nachdem wie man das wertet: „Es sagt mir nichts, das so genannte Draußen“. Ich weiß gar nicht, ob da eine Utopie oder eine Dystopie verhandelt wird. Ich hab das Gefühl, es ist wenig Utopie darin. Eher wird eine Gesellschaft gezeigt, die entwurzelt, die in der Schwebe, die suchend ist. Das wäre vielleicht das Utopische: Dass es noch etwas gibt, was eine Sehnsucht hat, eine Sehnsucht nach einer anderen, auch nach einer größeren Gemeinschaft.
Wir haben also das Subjekt auf der einen Seite, das entwurzelte Subjekt, auf der anderen Seite, die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach etwas Größerem und zwar nach etwas Größerem einer Gemeinschaft. Wir haben nicht den Übermenschen von Nietzsche. Wir haben nicht das nationalsozialistische Heldensubjekt – da kommen wir doch zu einem Punkt, der hochinteressant ist: Kommunismus. Es gibt in Italien bereits um Elena Esposito, eine Systemtheoretikerin, herum seit einiger Zeit Bestrebungen, eine neue Form von „communitas“ zu denken. Es gibt mit dem #Akzelerationismus eine Philosophie, die marxistisch ist… Gibt es eine Sehnsucht nach einem Kommunismus, der in seiner eigentlichen Form noch nie realisiert worden ist? Ich habe diese Sehnsucht auf jeden Fall. Und da sind wir wieder beim Theater, bei der Inszenierung. Denn wo legt man seine Schwerpunkte drauf? Was liest man an Texten? Wie liest man Texte? Was ist die eigene Lesart? Was ist der Zugriff? Ich würde sagen, dass diese Figur das hat. Die ist unglaublich intelligent. Das ist ein geistreicher Textstrom, der sehr gut und intelligent komponiert ist. Das eigene Denken, das quasi ausgestellt wird, ist auf sehr hohem Niveau und bedient sich trotzdem permanent des Vokabulars der Pop- und der Subkultur. – Ich würde behaupten: Es gibt diese Sehnsucht der Figur nach irgendetwas, das längeren Bestand hat, etwas, das mehr erzählt als die Konsumgesellschaft. Konsum ist immer wieder einer der großen Begriffe und es geht dabei nicht um den Kulturkonsumenten, den guten Konsumenten, sondern es geht um den Überflusskonsum. Heute geht man nicht mehr einkaufen, nein, man geht shoppen und das ist auch die Bürgerpflicht, das ist total ok. So steht es auch im Stück. Das hat natürlich viel von einer Tinder-Gesellschaft. Wenn wir nicht so viel Zeit darauf verwenden würden, mit Leuten zu ficken, denen wir keine Bedeutung zumessen, dann hätten wir die Kraft, daraus utopische Lebensgemeinschaften zu errichten. – Gibt es mehr als flüchtige Bekanntschaften, die dann wieder weggehen im Strom der Masse? Man kann die eigene Spaßkultur nicht mehr ertragen. Geht es hier also um die Suche nach etwas, was vielleicht noch nicht denkbar ist?
Diese Suche nach dem Ewigen, Flüchtigen – das hatte schon Goethe. Der wollte schon berührt sein von der Ewigkeit. Vielleicht sind wir wirklich nicht weiter. Das kann gut sein, dass der Mensch auf eine Art sich von seiner Evolution überholt, aber einfach nicht hinterher kommt. Eine bestimmte Evolution können wir nicht mehr stoppen. Wir können einen gewissen technischen Fortschritt nicht mehr stoppen. Das ist eine Illusion. Das läuft ab. Das ist schneller, als wir es reflektieren können. Solche Dinge denke ich, wenn ich mit meinen Physiker-Freunden spreche. Dann versuche ich immer, dagegen zu halten und denke zugleich: „Ok, wir können mit Lasern das Wetter steuern.“