„Als wir das erste Mal miteinander schliefen war ich überrascht von ihrem Pornogesicht.“ Thomas Pletzinger hat fürs Debüt einen interessant beobachtenden Helden erfunden: Daniel Mandelkern ist Mitte 30, infantil, intellektuell und schwer verwirrt. Warum?
Daniel Mandelkern ist studierter Ethnologe und Kulturjournalist. „Ethnologie ist eine Wissenschaft, es geht um das Auge eines Fremden auf Menschengruppen“, erklärt er im Roman. Für eine Wochenzeitung soll er den öffentlichkeitsscheuen Kinderbuch-Bestsellerautor Dirk Svensson am Luganer See (auf der italienischen Seite) besuchen und mit dem Auge eines Fremden auf einen Menschen blicken, als teilnehmender Beobachter.
Er weiß: „Was man nicht festhält, verschwindet.“ Diese Expedition schaut vorderhand nach Urlaub aus, nach Erholung vom Streit mit Freundin Elisabeth, anstrengende Chefin einer Wochenzeitung. Der Trip klingt: nach freier Zeit. Svensson lädt Daniel auf eine Bootsreise ein, gemeinsam mit einer schönen jungen Frau, ihrem Sohn und einem dreibeinigen Hund („wie wegretuschiert“).
Die Geschichte schneidet, Daniels Gedanken folgend, hin und her zwischen den Erlebnissen am oder auch auf dem See, zwischen Erinnerungen an Elisabeth und einem Reisetagebuch Svenssons, der 2001 in New York lebte, Brasilien bereiste und schmutzige Hahnenkämpfe suchte. Etliche Themen, viele Ebenen. Aber alles wird eins, ein Blick, Daniels Blick, während es kreist, in seinem Kopf. Daniel beobachtet (am See), erinnert sich (Elisabeth in Hamburg), liest (das Reisetagebuch). Unheil zieht auf, aber es lässt die Dinge klarer werden. In dem Reisetagebuch häufen sich Todesfälle. Am See überschlagen sich die Ereignisse, es wird gruselig: Daniel leidet an einer Fischvergiftung. Etwas sträubt sich in ihm. Was ist es genau? Sein Übergeben ist ein „Nicht-einverstanden-sein“ mit der Situation, ganz klar, aber fort kann keineswegs, bestimmt keinen Rückzieher machen: Die Redaktion wartet auf seinen Artikel.
Was hilft im Chaos? Ordnung! Daniel Mandelkern ist, auch hier ethnologisch, ein Sammler. Er notiert die Pflegeartikel in Svenssons Badezimmer, Zeitungsüberschriften („Risiko Kaiserschnitt“), Quittungen, sieben Postkarten, das bemalte Reisebuch-Cover, das auf Seite 163 abgedruckt wird: eine Achterbahn, Typ Cyclone, dazu Svenssons Schrift: „Erzählen hilft nicht. AUFHÖREN!“.
Daniel transkribiert typische Bestsellerautorenfragen, die er Svensson beim Kochen stellt: „Nehmen Sie in der Abgeschiedenheit dieses Hauses überhaupt Notiz vom Erfolg ihres Buches?“ – „Ich lese keine Zeitungen, Mandelkern, ich besitze keinen Fernseher.“ Er denkt nach: Über seinen Kollegen, der zur gleichen Zeit einen Text über Urin und Moral (es geht um einen Dopingskandal) ersinnen muss, über Tuuli, die alleinerziehende Mutter und Mätresse des Kinderbuchautors ist, über ihren Sohn, und über die Frage: „Ist das, was Svensson erzählt, erfunden?“ Er hat 16.000 Zeichen für das Porträt und vier Tage, um sich nebenbei klar zu werden: „Wer ist Daniel Mandelkern?“ Wer bin ich?
Das Reisetagebuch: Junge Menschen tragen in New York Shirts mit „Super-Gay“-Aufdruck, „einer kriegt das Koks, einer kriegt Tuuli“, auf CNN (im Hintergrund) rauchen die Türme des World Trade Centers. Paaaarty! Der Kulturteil, für den Daniel Mandelkern schreibt, stellt einen Kinderbuchautor vor, aufwändig präsentiert, als sei Svensson der Wiedergänger von Bert Brecht. „Bestattung eines Hundes“ erzählt auch vom Spaß angesichts einer überaus ernsten Lage.
Thomas Pletzinger ist als Schriftsteller versiert genug, dem Leser keinen Spaß zu nehmen, während er über die Infantilisierung unserer Mitt-Dreißiger räsoniert (die Kinderbücher lieben, siehe die zum All-Ager hochgejazzte „Harry Potter“-Reihe, die es inzwischen als Erwachsenenausgabe mit ernstem Titelbild gibt). Wenn der Autor den Finger mahnend erhebt, kann das manchmal auch der Mittelfinger sein. Das ist erfrischend. Pletzinger vermeidet Oberflächlichkeit nicht nur, indem er weibliche Körperkonturen beschreibt. Er vermeidet Oberflächlichkeit, weil er, ethnologisch geschult wie sein Held, hinschauen, entdecken, beschreiben kann. „Bestattung eines Hundes“ ist ein abwechslungsreicher Roman, ein bisschen avantgardistisch, mal PopPopPop, dann wieder Feuilletonzitat und Seminararbeit, dabei permanent blühend wie das Terrassenbäumchen auf dem schönen KiWi-Cover.
Einmal haben Thomas Pletzinger und sein Kollege Saša Stanišić („Wie der Soldat das Grammophon repariert“) über das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig geschrieben. Es ging um den alten Vorwurf, Absolventen wie sie würden blutarm über ihr eigenes Leben, nach Lehrbuchschema schreiben. Dieser Roman ist die Antithese.
Goethe hat über sich selbst und das überaus selbstverständlich geschrieben, und ein Roman wie „Wahlverwandtschaften“ ist (auch) Reißbrettliteratur. Es soll sogar Rockstars geben, die Lieder über sich, über ihre Welt verfassen, Stichwort „My Generation“ oder auch (My) „Umbrella“ (Ella ella eh eh eh), immer in die gleichen Akkorde greifend. Nahezu jeder Kinofilm folgt einem identischen Muster – Ausnahmen gibt es so selten, dass sie nur das gängige Paradigma bestätigen. Maler malen Selbstportraits. Graffitikünstler taggen ihre Persönlichkeit an Großstadtwände. Aber ständig halten es Leser mit Theodor W. Adorno und seiner „Minima Moralia“, wo steht: „Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ Meinetwegen. Nein… Das war, glaube ich mich zu erinnern, doch völlig anders gemeint. Thomas Pletzinger darf das, er darf „ich“ sagen. Auch im nächsten und übernächsten, in allen Romanen. Wenn jemand wie er „ich“ sagt, ist das „Uns“ gleich mit ausgesprochen, dann ist das keine Unverschämtheit, sondern nachgerade: applauswürdig.
Thomas Pletzinger: „Bestattung eines Hundes“, KiWi, 352 Seiten, 19,95 Euro