„Ich habe das geliebt“, sagt Peter Stamm, „du fährst dich mit diesem Kran selbst in die Höhe. Alles dampft, von der Kälte. Du gleitest über die Tragfläche des Flugzeugs hinweg.“
Es riecht nach Kerosin, nach Glykol, in der Luft das Dröhnen der startenden Flugzeuge. „Du stehst in diesem Schneesturm, enteist einen Jumbo-Jet. Und alles pressiert, diese Hektik, weil die Maschinen weiter müssen. – ich habe es geliebt, diese Atmosphäre auf dem Flughafen. Und dieses heroische Bild von mir im Schneesturm.“ Anfang der 90er Jahre beschließt der frühere „Swiss Air“-Betriebsbuchhalter Peter Stamm: „Ich werde Schriftsteller.“ Er schmeißt, 27-jährig, sein Studium der Anglistik, Psychologie und Psychopathologie. Stattdessen wird er Ramper am Zürcher Flughafen, wo Flugzeuge be- und entladen werden, wo man abgelenkt ist, von den Schreibversuchen in der Mansarde. Peter Stamm lockt der Kranwagen, mit dem er an Schneesturmtagen über die vereisten Tragflächen schwebt, mit dem Gefühl stiller, weltentrückter Erhabenheit. Es sind die richtigen Gefühle für einen Schriftsteller auf dem Weg nach oben. „Wie naiv ich damals war, das hätte auch alles schiefgehen können“, sagt Peter Stamm und macht eine Pause, überlegt. „Andererseits kann man nicht immer Angst haben“, sagt er dann.
„Wir fliegen“, der Titel von seinem aktuellem, völlig zu Recht hochgelobtem Erzählungsband wirkt wie eine Reminiszenz an diese glutvollen Lehr- und Kunstjahre. „Wir fliegen“ ist der augenblickliche Höhepunkt von Peter Stamms Schriftstellerkarriere. Auf knapp 170 Seiten sind hier zwölf Geschichten versammelt, die wundersam schwebend von suchenden, von neugierigen, von entdeckenden Menschen berichten.
Im Eröffnungstext „Die Erwartung“ sehnt sich die alleinstehende Frau nach nahezu erlösender Liebe. Sie wartet, wie einst ihr Autor in seinem Mansardenzimmer auf den „Durchbruch“ gewartet, zu diesem hingearbeitet hat. Über der Wohnung dieser Frau knarren Dielen, als erste Indizien eines höheren, auch weiter oben denkbaren Lebens: „Es ist seltsam, dass man durch den größten Lärm hindurch ein ganz leises Geräusch hört, wenn man darauf gewartet hat“, denkt sie. Sollte man jetzt hochgehen, zu diesem neuen Leben hin? Oder warten, bis es hinabsteigt und an der eigenen Wohnungstür klingelt? Nur so viel sei verraten: Zum Schluß wird diese Frau den Atem ihres Liebhabers, ihres Nachbarn, dieses Weiter-Oben-Wohnenden im Ohr, am Ohr spüren, durch den profanen Lebenslärm hindurch, und „er ist so nah, ich kann ihn fast berühren.“
Diese Spannung, zwischen Erwartung und Erlösung, zwischen Hoffen und Haben, hat Peter Stamm sie in seinen Anfangsjahren ähnlich empfunden? Er wusste, er ahnte jedenfalls als Erster, dass es sich lohnt, an den Texten zu arbeiten, kompromisslos, Tag für Tag, jahrelang. „Sowas Schwieriges wie das Schreiben, das muss man ins Zentrum des Lebens stellen.“ Diese Einstellung beweist Courage vorm eigenen Talent. Und sie beweist Zuversicht. Der junge Autor besitzt Anfang der Neunziger „lange genug fast kein Geld“. Peter Stamm trägt und erträgt diese Rückschlags- und Vorkriechzeit, als wüsste er, dass sich alles zum Guten wendet. „Ich habe meine ersten Texte immer wieder von den Verlagen zurückgeschickt bekommen“, erinnert er sich. „Zwischendurch wird man paranoid und fängt an, Pseudonyme zu erfinden, damit die Verlage nicht sehen, dass es wieder der gleiche Autor ist wie vor einem Jahr.“ Peter Stamm arbeitet stoisch weiter. Langsam kommen andere Angebote, Aufträge aus dem sogenannten „journalistischen Bereich“, Reportagen für die Neue Zürcher Zeitung und Geschichten für das Satiremagazin Nebelspalter.
Vor wenigen Jahren hat ein Freund Peter Stamms zwei rare Werke neu aufgelegt. Die beiden Groschenroman-Satiren „Schwester Erna – Lieben und Leiden einer edlen Dulderin“ und „Herbert – Sie liebten sich nur einen Sommer“ aus dem Nebelspalter-Jahrgang 1994. „Die Liebe ist mächtig, aber der Hass ebenso“, steht auf einem Cover. Abbildungen zeigen kitschig frisierte Frauen, kitschig fotografierte Alpen, kitschig verhangene Schulmädchenaugen, kurz vor Oswald-Kolle-Drehbeginn. In diesen „Romanen des Herzens“ hat Peter Stamm all jene Floskeln abgeladen, die in seinen späteren, ernsthaft gestalteten Veröffentlichungen nicht einmal erahnt werden können. „Wo Glück ist, ist auch Schatten“, heißt es wort- und sinnschief auf Seite 24, und ein paar Spalten weiter sagt die schüchterne Sandra zu ihrem Geliebten: „Wenn du es für richtig hältst, so wird es wohl richtig sein.“
Das ist Schwarz-Weiß. Das ist absichtlich stilunsicher. Das ist bisweilen grotesk. Und im Erzählband „Wir fliegen“ gibt es, vierzehn Jahre nach den Groschenromanen, wieder einen grotesken Augenblick. Er persifliert, passend zum neoreligiösen Zeitalter, den antiaufklärerischen, im Kern bereits grotesken Kult um die jungfräuliche Muttergottes Maria. In der Religionssatire „Kinder Gottes“ muss sich der neue Gemeindepfarrer Michael mit Mandy auseinandersetzen, die behauptet, den neuen Heiland unter ihrem Herzen zu tragen. „Es gebe keinen Vater, behauptete diese Mandy.“ Und zunächst deutet ebenso wenig auf eine Satire des Autors, wie auf eine Lüge dieser Mandy hin. Die Dorfgemeinschaft will an ein Wunder glauben und es gab überraschte Erstleser, die sich ebenfalls wunderlich fühlten. „Nein, Peter Stamm ist nicht religiös geworden“, sagt der Schriftsteller lachend, „bestimmt nicht!“
Er ist jedenfalls im klassischen Sinne nicht religiös geworden. Aber etwas Religiöses steckt in seinen Geschichten, eine fast sakrale Demut vor dem Leben, die nur bei diesem doppelsinnig herausragenden „Kinder Gottes“ konterkariert wird. Die anderen Texte erzählen, mit gebotenem Abstand des Beobachters, von Lebenseinbrüchen, von Trennungen, von halben Beichten und einmal auch von der „Welt unter uns im Stein, einer Welt voller Wunder und Geheimnisse“. Soetwas klingt schon fast wie die Poetik des Autors. Seine Bücher waren stets empfänglich für die Wunder und Geheimnisse dieser modernen, angeblich längst entmystifizierten Welt.
Der glänzende, 1998 erschienene Debütroman „Agnes“ folgt einer unglücklichen Liaison zwischen einer amerikanischen Physikstudentin und einem jungen Journalisten. „Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet.“ Mit diesen beiden Sätzen über ein Ende beginnt der Roman über das Sterben einer Liebe. Es ist, bis jetzt, Peter Stamms erfolgreichste Veröffentlichung. Ihr folgt im Jahr darauf der melancholische Erzählband „Blitzeis“, der in New York, Schweden, in der Schweiz spielt, und als Pendant zu Judith Hermanns zeitgleich virulentem „Sommerhaus, später“ gelesen werden kann. 2001 kommt der Roman „Ungefähre Landschaft“, eine Polarkreis-Geschichte, das kühle, nordlicht-beschienene Portrait über die 28-jährigen Zöllnerin Kathrine. Als 2003 der weltumspannende Erzählband „In fremden Gärten“ erscheint, kann Peter Stamm bereits auf etliche Preise zurückblicken: Darunter den Rauriser Literaturpreis 1999, den Rheingauer Literaturpreis 2000 und den Preis der Schweizer Schillerstiftung 2002. Aus diesem Hochgefühl heraus schreibt er „An einem Tag wie diesem“, die atmosphärisch brillante Reise eines Liebesgetriebenen, romantisch verblendet, sehnsüchtig, wahnbesessen – dieses Kunstwerk wird 2006 für den Deutschen Buchpreises nominiert.
Inzwischen ist die Karriere des 45-Jährige Bestsellerautors auf Reiseflughöhe angekommen. Seine Mansarde hat Peter Stamm längst hinter sich gelassen und stattdessen mit seiner Familie ein Doppelhaushälfte in Winterthur bezogen. Er hat zwei Kinder. Lebensgefährtin Stefania Samadelli entwirft Mode für ihr eigenes Label „Paradis des Innocents“. Es gibt eine Vereinbarung, dass Papa exakt vier Monate im Jahr auf Stipendien-, Lese-, Recherchereise gehen darf. Und das Telefoninterview musste für zwei Stunden unterbrochen werden, weil Peter Stamm Spaghetti für die Kinder kochen wollte. Sein Leben ist gut. In Deutschland, wo Peter Stamm mit seinen Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Hörspielen atemraubende Erfolge feiert, ist er bekannt wie Max Frisch. Aber sein Schweizer Ursprung ist unauffälliger. Warum? „Ich vermeide solche Wörter“, sagt Peter Stamm, „alles, was mir zu schön, zu auffällig, zu regional erscheint.“ Es ist das Globalisierte in seinen Geschichte, es ist Welt-Literatur im ursprünglichen Sinn. Dazu der schlichte, klare Ton, der zurückhaltende, leuchtende Stil – das kommt gut an, beim nervösen, meist inidifferenten Nachbarn.
Während in Deutschland ein Clemens Meyer mit seinen makellos gestalteten Kurzgeschichten „Die Nacht, die Lichter“ abräumt, bekennt sich Peter Stamm zu einer Literatur, die ohne Geschrei und ohne Pointen auskommt. „Pointen entwerten doch den ganzen Text. Das ist dann wie die Mona Lisa mit Clownsnase“. Solche Sätze beweisen einsame Größe, als stünde Peter Stamm weiterhin auf diesem Kran, im Schneesturm, allein, mit Blick über die vereisten Flugzeuge, die für einen kurzen Augenblick gelandet sind, bevor sie weiterfliegen werden, in die Höhe, wo eine ewige Sonne scheint.
Peter Stamm: „Wir fliegen“, S. Fischer, 176 S., 17,90 Euro
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