„Erst mal kauft man so viel Wodka wie ins Auto passt und dann halb so viel Rote Beete wie ins Auto passt, dazu ganz viele eingelegte Pilze.“ Mit dieser Einkaufsaktion beginnt eine richtige, russische Party, erklärt Schriftstellerin Merle Hilbk beim Ortstermin im russischen Supermarkt „Irina“. Trostlos ist der bedeckte Nachmittag am Halleschen Tor. Im Sozialwohnviertel, wenige hundert Meter von der SPD-Parteizentrale entfernt, züchtigt eine überforderte Mama ihr kleines Kind. Der betrunkene Herr, der sich vorm Straßencafé erste Startpils in den Rachen kippt, ruft: „Halt‘ die Klappe, du Brüllaffe!“ Wenige Meter weiter diskutieren jugendliche Hartz-IV-Empfänger, ob eine Rippenprellung ausreicht, um kostenlos in der Notaufnahme behandelt zu werden. „Ey, ich hab‘ doch ’ne verdammte Karte“, sagt der Rippengeprellte und zieht seine Camouflagehose zurecht.
„Umso besser, Alter“, meint sein Kumpel, „dann geh‘ doch, dann geh‘ doch, ey, Krankenkarte, ey, damit haste mal gar keine Probleme.“ Maulkorbpflichtige Hunde balgen sich unbeobachtet auf dem fleckigen Rasenstück. Der Hobbyimker aus Tempelhof, der am Tapeziertisch seinen selbstgeschleuderten Honig anbietet, macht gute Miene zum Spiel. Neben dem russischen Supermarkt „Irina“ lungern Bling-Bling-Mädchen, rauchen Zigaretten mit weißen Filtern. Das Kind hat aufgehört zu weinen. – Zehn Minuten später steht Merle Hilbk zwischen den Regalen, auf einem badezimmerbraunen Kachelboden und führt durch das russische Warensortiment. Meterhoch stapeln sich, dicht an dicht, DVDs mit kyrillischen Titeln, eingelegte Pilze, Dosenkakao-Konserven, Plastikspielzeug, Porzellanvasen, Wodka- und Krimsektflaschen. In Tiefkühltruhen lagern verschiedene Sorten Pelmini, gefüllte Teigtaschen mit Lauch, Fleisch, Fisch. Merles Freund hat heute Geburtstag und die junge Schriftstellerin organisiert zu seinen Ehren ein besonders charmantes Geburtstagsgeschenk.
Sie ist die denkbar beste Hilfe für diese Aufgabe. Denn die junge Autorin und DJane schreibt seit Jahren über Russland und über russisches Leben in Deutschland. Ihr aktuelles Buch „Die Chaussee der Enthusiasten“ ist eine rasante Suche nach deutsch-russischen Spuren in der Bundesrepublik, eine Reise zu Vertriebenenverbänden, russischen Clubs, Fußballvereinen, zu deutsch-russischen Familien und ihren ausgiebigen Abendmahlgelagen. Großartig geschrieben. Sicher recherchiert. – Eine Menge Arbeit steckt in den 280 Seiten. Nach so viel Mühe darf anständig gefeiert werden. „Ich gehe gleich auf eine echte russische Party, die ich selber vorbereiten muss“, sagt sie, „und diese Vorbereitung besteht in Folgendem: Erst mal kauft man so viel Wodka wie ins Auto passt, zweitens kauft man halb so viel Rote Beete wie ins Auto passt. Dann kauft man noch sehr viele Gurken und sehr viele Pilze, schneidet das alles klein. Möglichst isst man dann zuerst, und zwar in großen Mengen und sehr fettig, damit man hinterher auch sehr, sehr viel und sehr ausgiebig trinken kann.“
Aber bevor die flüssigen und festen Lebensmittel eingekauft werden können, schaut sich Merle Hilbk im Laden um, begeistert vom bunt gemischten Warensortiment. „Wow, was es hier an Videos gibt, unglaublich“, sagt sie vor einer riesigen Wand bunt hochgestapelter DVD-Hüllen. Sie geht einen Schritt näher: „Aah, russische Zeichentrickfilme, großartig. Und daneben sehen wir eine ganze Galerie von CDs, das sind alles so Mixtapes würde man sagen, und es gibt natürlich noch sehr viele Kassetten.“ In Russland hat Merle die beliebteste Mixkassette kennen gelernt, die es an jedem Büdchen und teilweise auch in der Steppe gibt und die sich vor allen Dingen Fernfahrer kaufen, „um sie dann stundenlang rauf und runter zu hören, Discoschnulzen, die so Titel haben wie ‚Frauen allein in der großen Stadt‘.“ – Ein paar Schritte weiter gibt es alte Orden aus Russland. „Die verscherbelt dort jeder Rentner“, erklärt Merle. „Hier: Großer Vaterländischer Verdienstorden, Roter Stern.“ Die Preise sind happig. Direkt nach der Wende haben diese Orden vielleicht ein, zwei Mark gekostet und jetzt liegen diese matt funkelnden Ehrenabzeichen bei stolzen 29,99 Euro.
„Wahrscheinlich, weil die so selten geworden sind“, sagt Merle. „Das ist jetzt aber, ehrlich gesagt, ein ziemlicher Preisaufschlag. Also, in Russland kosten die auch nicht viel mehr als drei, vier Euro.“ Und dann geht es zum wichtigsten Wässerchen russischer Lebensart, zum Wodka. Es sind sehr, sehr viele Flaschen. „Es gibt hier auch ‚Absolut‘, also – nichtrussischen Wodka – und dann sehe ich da meine Lieblingssorte Wodka“, sagt Merle und langt ins Regal, „das ist ‚Ruski Standard‘. Das ist diese silberne Flasche mit dem wunderschönen, verschnörkelten Etikett. Also für mich der beste Wodka.“ – Doch der wird heute nicht eingekauft, „zu teuer“. Außerdem wird bei russischen Partys gern die eine oder andere Flasche mitgebracht, als Gastgeschenk. Trockenfallen wird abends mit Sicherheit kein Gratulant. Draußen fängt es an zu regnen. Die Camouflage-Gang verzieht sich unter die Vordächer. Der Bierkumpan verlässt die Terrasse und lässt sich im Kneipenraum weitere Gläschen zapfen. Der Honigstand wird abgebaut.