„Daheim“, der aktuelle Roman von Judith Hermann ist eine der herausgehobenen Veröffentlichungen dieses Jahres. Er war bereits nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse – 23 Jahren nach dem Rummel um „Sommerhaus später“, jenen Debüt-Geschichtenband, der mittlerweile in anderthalb Dutzenden Sprachen übersetzt worden ist und hat im November den bremer Literaturpreis zugesprochen bekommen. (Das Beitragsbild hat Judith Hermann selbst fotografiert)
Die Ich-Erzählerin von „Daheim“ ist 47 Jahre alt. Sie hat mit ihrem Ex-Mann Otis eine Tochter großgezogen und sich eine Zeitlang im Gesicherten gespürt. Seit einem Jahr wohnt sie allein an der Küste, hat ein Haus im Dorf ihres Bruders gemietet: „Es liegt einsam, es ist baufällig und winzig und steht an einer ungepflasterten, sandigen Straße, die am Deichpolder endet“, also knapp vor der letzten Schutzmauer. Weiter geht es nicht. Die Frau spricht es nicht aus, doch im Text allgegenwärtige Kisten und Fallen deuten Gefangenschaft an, wobei lange unklar ist, seit wann diese Frau oder etwas von ihr feststeckt.
„Daheim“ erzählt, wie ein knapp abgestecktes Terrain besiedelt, langsam zum Leben erweckt werden kann, wie Begegnungen die Melancholie erträglich machen, wie ein Weitergehen aussieht, wenn zunächst jeder Neuanfang undenkbar erscheint, wenn das alte Leben mit seinen vergangenen Hoffnungen unweigerlich Teil des neuen Abschnitts ist. „Du fängst selten das, was du fangen willst. Du fängst mitunter was ganz anderes. Dann musst du sehen, was du damit machst.“ Ein Gespräch.
Judith Hermann, der Anfang Ihrer Geschichte nimmt den Handlungsverlauf in nuce vorweg. Eine Ich-Erzählerin berichtet von einem Sommer vor fast dreißig Jahren. Damals hatte sie eine Einraumwohnung im Neubaugebiet einer mittleren Stadt und Arbeit in der Zigarettenfabrik. Die erste Seite endet mit dem Wort „Rauch“. Dieser Rauch verschwindet schnell und auch ihre Figur wird verschwinden. Welcher Reiz liegt für Sie als Schriftstellerin in der Poetisierung eines Verschwindens? Das ist ja eine sehr komplexe und schwierige Frage. Es kann sein, dass das Verschwinden von Dingen eine Initiation fürs Schreiben ist, dass das Schreiben eine Art Gegenbewegung oder eine Gegenwehr zum Verschwinden ist. Ich habe auf eine bestimmte Weise damit zu tun, dass die Dinge vorübergehen oder dass sie verschwinden, dass Zeit verschwindet, dass das das ganze Lebensalter sich irgendwie immerzu ändert. Und das ist etwas, was mich sehr beschäftigt, im gutem wie auch im schwierigem Sinne. Ich glaube, das Schreiben ist ein Versuch, Dinge festzuhalten, sie zu bedenken und aufzubewahren, indem ich sie schreibe, bevor sie ganz und gar verschwunden sind.
Bleiben wir gern bei dieser ersten Seite, denn bereits hier wird ein Gefühl von Enge erzeugt durch jenen Tabakstrang der aus einer Zigarettenmaschine gepresst wird. Kästen kommen mannigfaltig in ihrem Roman vor, permanent kippt und klappt es, überall sind Kisten, Eistruhen, die Zauberkiste für den Trick der zersägten Jungfrau kommt ebenso vor, wie, natürlich: ein Klappsofa. Was wir hier haben ist das Gegenteil eines weitläufigen Reisepanoramas. Was interessiert Sie am Fallenaufstellen? Es ist in der Arbeit am Buch so gewesen, dass dieses Intro, dessen erste Seite Sie jetzt zitieren oder ansprechen, dass das im Grunde so etwas gewesen ist wie eine Kurzgeschichte, also eine ganz klassische Short Story, die eigentlich eine ein bisschen mehr oder weniger klassische Geschichte erzählt – also eine junge Frau, die vor eine Entscheidung gestellt wird und diese Entscheidung gewisser Weise fällt dadurch, dass sie einfach gar nicht tut – und die Entscheidung zieht so an ihr vorüber. Und dann geht das Leben aber natürlich trotzdem weiter, aber die Geschichte erzählt das nicht mehr, sondern geht so ins Ohr und hört auf. Und der Leser ist dazu aufgefordert, sich diese Geschichte selber so weiter zu erzählen. Im Fall der Arbeit an diesem Text war es für mich so, dass ich selbst am Ende der Geschichte dachte: Wie geht das jetzt eigentlich weiter? Anders als bei anderen Geschichten wusste ich es nicht und hatte das Bedürfnis, es zu erzählen.
Die erste Kiste, die in diesem Text aufgetaucht ist, ist diese Kiste für die zersägte Jungfrau gewesen. Dann gab es einen Effekt wie den der russischen Puppe, wo die kleinste ganz zuinnerst ist und die anderen Puppen sich der Größe nach um diese kleinste Puppe herum schließen. Es tauchte aus dieser aufgeklappten Kiste für die junge Frau eine weitere Kiste auf. Das war die Falle für einen Marder, und aus dieser Marderfalle trat eine weitere Kiste auf. Das war die Kiste für ein junges Mädchen und so weiter und so weiter. Ich hatte am Ende plötzlich tatsächlich, wie Sie richtig sagen, ein Sammelsurium von Kisten um mich herum, die ich dann alle wieder ineinander gestapelt und die eine in der anderen verborgen habe. Jetzt sagen sie: Fallenstellen. Ich glaube, das Fallenstellen interessiert mich nicht so sehr beim Schreiben, aber es interessiert mich schon, Dinge zu verstecken und im Text zu verbergen, also einerseits kenntlich, aber andererseits auch ganz unkenntlich zu machen, sich zu tarnen und zu kostümieren. Natürlich kann man am Ende sagen, damit stelle ich dem Leser eine Falle, aber das ist eigentlich nicht meine Absicht. Ich möchte gerne, dass der Text sehr weit ist und sehr offen ist, dass ich aber trotzdem so viele kleine Sachen wie möglich im Text sagen kann, also: kann ich Fallen stellen, aber sie zugleich verstecken?
Verzeihen Sie, dass ich noch einmal auf Ihre erste Seite zurückkomme, ich mache das um zu zeigen, wie bewusst dieser auf den ersten Blick eher leichtgängige Text konstruiert wurde. Da sind die oppositionell gesetzten Bilder des einfach Gegebenen und kontrastierend jene des Kompliziert-Verwickelten. Wir haben eine mittlere Stadt, eine simple Arbeit, eine gerade Tabakschnur und gleichzeitig die Unterbrechung, den unmittelbaren Stopp der Produktion, den entsetzlichen Ruck und vom Ruck ausgehend die poetische Entrückung Ihrer Figur, die sich vorstellt, in welchen Situationen die hier gefertigten Zigaretten möglicherweise geraucht werden. Kann die Poesie als Medium der Transzendenz ein Ausweg sein – und wenn ja, wie wird dieser Ausweg für Sie zu Literatur? Also ich finde, dass die Poesie durchaus ein Ausweg sein kann. Ich hatte das Wort Flucht im Kopf. Es ist ja vielleicht auch ein bisschen dasselbe. Poesie ist ganz oft ein Ausweg aus Situationen, die für mich sehr eng sind oder schwierig oder traurig, vielleicht auch ernst. Dann bedeutet es mir etwas, das zu lesen. Einen poetischen Text zu lesen, ein Gedicht zu lesen oder überhaupt zu lesen. Eine Umsetzung der Wirklichkeit in ein poetisches Material. Das hat etwas Entlastendes, etwas Tröstliches und oftmals auch etwas sehr Befreiendes. Umgekehrt ist die Frage nach er eigenen Poetik sehr schwer zu beantworten. Es ist etwas, was ich tatsächlich einerseits gar nicht beantworten kann und wenn ich es beantworten könnte, müsste ich es vermutlich im Innersten für mich behalten.
Ich kann diese Dinge nicht benennen. Ich möchte sie nicht benennen. Das ist so etwas, was ich gelernt habe, dass man das nicht tut als Autor; als würde ich die Trickkiste aufmachen und zeigen, wie der Zaubertrick funktioniert. Das kann ich nicht benennen, oder ich will es nicht benennen. Aber ich kann es darüber hinaus auch gar nicht benennen, weil ein bestimmter Teil der Arbeit tatsächlich so sehr ganz abgewandt von aller Ratio und aller Bewusstheit stattfindet. Ich sitze nicht abwesend am Schreibtisch. Das tue ich nicht. Aber es gibt einen bestimmten Teil der Arbeit und eigentlich tatsächlich den, in dem ich wirklich anfange zu schreiben.
Wenn ich nachdenke über das Schreiben, über das, was ich machen möchte, bin ich sehr bewusst. Ich konstruiere. In gewisser Weise. Aber in dem Moment, in dem ich anfange zu schreiben, tauche ich ab. Dann möchte ich nicht mehr darüber nachdenken, wie der Text funktioniert, sondern ich möchte dem Text in sein Bergwerk folgen und dann die Augen zumachen auf eine Art. Das bedeutet ganz am Schluss, wenn ich durch den Text, durch das Bergwerk, durch bin, dass auch das eigene Schreiben mir einen Ausweg gezeigt hat aus einer Situation, die mich beschäftigt hat und die mein Leben längere Zeit dann auch so bestimmt hat oder so. Aber wie dieser Weg durch das durch die durch die eigene Befindlichkeit und die Arbeit mit der Befindlichkeit aussieht, das kann ich nicht sagen.
Ihre Ich-Erzählerin verharrt in selbstverschuldeter Unmündigkeit, ist anfangs nicht gewillt, Freiheitsangebote anzunehmen, beispielsweise eine Kreuzfahrt, wo sie von ihrer Kabine aus aufs offene Meer blicken könnte. Doch fast 30 Jahre später ist sie am Meer, dorthin gezogen nach der Trennung von ihrem Mann. Es ist kalt, kalt wie in Puccinis Oper „La Bohéme“ und ebenfalls wie in dieser Oper klopft es und sowohl bei Puccini als auch in Ihrem Roman steht eine Mimi vor der Tür. Wer ist diese Frau und in welchem Verhältnis steht sie zu „La Bohéme“ und, falls Sie darauf nicht antworten möchten: Wie stehen Sie zu dieser Oper? Also ich freue mich darüber, dass Sie diese sehr große Aufmerksamkeit für die Figuren und sich den Assoziationen da offenbar sehr weit geöffnet und sich mit den Namen und den Wiedergängerinnen außerhalb dieses Buches beschäftigen oder beschäftigt haben. Ich schreibe, auch, um solche Dinge aufzuheben. Es gibt viele kleine Sachen, die mit dem Buch und im Buch versenkt sind. Als hätte das Buch ganz viele verschiedene kleine Schubladen, kleine und größere Schubladen. Und in den einzelnen Schubladen steckt etwas, das mir etwas bedeutet. Weiter will ich das gar nicht sagen, nur dass ich mich freue, wenn so ein Resonanzraum, den ja so eine Figur durchaus haben kann, wenn man sich mit ihr beschäftigt und sich auf sie einlässt; dass der dann so klingt, zum Klingen kommt.
Lassen Sie und kurz am Ende dieses Gesprächs zum Anfang Ihrer literarischen Karriere zurückkehren. In Ihrem neuen Roman gibt es elegische Bilder von Fledermäusen „after midnight“, vom enigmatischem Leuchten während der Dämmerung, es gibt Nixen und die nackt Aprikosen essende Mimi. Wie stehen diese in „Daheim“ poetisierten Bilder zu jenen Zuschreibungen der späten 1990er Jahre, als Sie mit „Sommerhaus, später“ international erfolgreich waren, Sie rubriziert wurden unter dem extrem klebrigen Etikett des sogenannten „Fräuleinwunder“ und in Artikeln ähnliche Bilder und Zuschreibungen verwendet werden, wie jene, die Sie nun in „Daheim“ vorstellen? Ich glaube, dass das sicherlich eine Alterserscheinung ist, sich über diese möglichen Koinzidenzen zwischen den Bildern und den Texten keine Gedanken mehr zu machen. Wenn ich schreibe, dann lasse ich all diese klebrigen Zuordnungen und die frühen Jahre und den damit verbundenen Erfolg und die damit verbundenen Erwartungshaltungen, die möglichen Fragen und Anforderungen des Literaturbetriebs und so weiter draußen vor der Tür. Ich versuche, das nicht zu bedenken, das nicht zu verhandeln, während ich schreibe, sondern ich versuche, mit mir und den Figuren und dem weißen Blatt Papier ganz alleine zu sein. Je älter ich werde, desto besser gelingt mir das. Das Schreiben bleibt gleich schwer oder es wird von Buch zu Buch schwieriger oder auf eine neue Weise schwierig. Es gibt Dinge, mit denen ich mich beschäftigen muss, die mich ganz und gar in Anspruch nehmen. Das Alleinsein und das Mit-sich-Sein ist das Allerwichtigste. Und die Frage, ob diese Bilder ein Zitat sein könnten oder so, die stellt sich dann für mich nicht.
Judith Hermann: „Daheim“, S. Fischer, Frankfurt, 192 Seiten, 21 Euro / das Hörbuch, gesprochen von der Autorin, ist erschienen bei der Hörverlag, München