Hochbegabt ist der vierjährige Junge, der dem niederländischen Pfarrer Hobrech im 18. Jahrhundert anvertraut wird. Doch er bringt eine teuflische Gabe mit – in David Schönherrs Debüt „Der Widerschein.“
Die Eltern des kleinen Ferdinand Meerten sind tot, der Onkel ein trinkender Taugenichts; deshalb erbarmt sich Hobrecht und lässt dem Jungen die denkbar beste Erziehung angedeihen. Der Kleine ist ein Musterschüler, doch „keines der anderen Kinder konnte mit seiner Aufmerksamkeit und Begabung mithalten – im Gegenteil: Dieses Wunderkind ließ durch sein begnadetes Können die anderen nur durchschnittlich oder gar schlecht aussehen und brachte letztlich Hobrecht in Verruf,nicht richtig unterrichten zu können – ja, ein einfacher Hochstapler zu sein.“
Ferdinand Meerten kann die Welt Eins zu Eins abzeichnen, doch in seine Abbildungen schleicht sich ein mystisches Element. Es ist, als kopiere er nicht nur die sichtbare, sondern auch die unsichtbare Welt, als entzaubere er die Gegenstände und Personen, die er (zunächst heimlich) auf Zeichenpapier wiedergibt.
Der Widerschein seiner Werke besitzt dämonische Kraft, was im Folgenden sein mittelbegabter Lehrmeister Bros erfährt, der sich „geradezu aufgesogen“ fühlt, ebenso die ersten Käufer von Ferdinands Werken, deren Heim wenige Wochen nach dem Kauf in Flammen aufgeht, die ohnmächtig werden, an seltsamen Krankheiten sterben, von Unfällen heimgesucht werden.
„Ich habe ein tolles Zitat während des Schreibens gelesen“, sagt David Schönherr im Interview, „die Menschen leben nicht mehr in der Welt, sie leben vielmehr in den Bildern, die sie sich von der Welt gemacht haben. und aus dieser Bilderhölle gibt es keinen Ausweg, denn die Rückseite der Bilder ist mit Ungeheuern besetzt, was ich gefunden habe in einem sehr ernsten Philosophieaufsatz von Dietmar Kamper zum Thema des Bildes.“
Gleichzeitig wird erzählt, welche Kräfte walten, wenn der Mensch der Wirklichkeit etwas hinzustellen will. „Gott erschuf die Welt; die Niederländer erschufen die Niederlande.“ Mit diesem Sprichwort beginnt der Roman, um dann auf 250 Seiten verschiedene Schöpfungsgeschichten zu berichten. Die Zeichnungen und Gemälde des genialen Ferdinand sorgen für reale Katastrophen, Brände, Mordanschläge.
Dass Abbilder Feuersbrünste nach sich ziehen, weiß jeder, der 2003 gesehen hat, wie der damalige US-Außenminister Colin Powell Satellitenbeweise für Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen herbeihalluzinierte und durch diese Fotos den dritten Irakkrieg legitimierte.
„Der Widerschein“ erzählt eben nicht nur von einem wandernden, dämonischen Maler im 18. Jahrhundert, sondern auch von der Kraft aktueller Bilder, von Täuschungen und Memen, vom „Second Life“ und „Augmented Reality“, von „Computer Generated Imagery“-Tricks und einer Zivilisation, die in Auflösung begriffen ist: „Der Widerschein“ ist unfassbar brutal. Tiere werden gequält, Unschuldige gehenkt, Kinder eingekerkert, Zivilisten überfallen und gefoltert, Kranke zu perversen Kriegsspielen gezwungen.
Gleichzeitig spielt dieser Roman mit etlichen popkulturellen Motiven. Es gibt Anlehnungen an Patrick Süskinds „Das Parfüm“, an Horrorfilme wie Steven Spielbergs „Poltergeist“, Wolf Rillas „Das Dorf der Verdammten“ oder Williams Friedkinds „Der Exorzist“. Hier klingen Stellen wie aus Maarten ‘t Harts Bestseller „Die Netzflickerin“, dort sieht man sich in Ron Howards „A Beautiful Mind“ versetzt. Szenenabfolgen erinnern an Otfried Preußlers „Krabat“, das Thema eines magischen Bildes an Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“, ebenso an die fabelhafte Kunst des autistischen Städtemalers Stephen Wiltshire. Was wie ein wilder, kaum nachvollziehbarer Genremix klingt, kommt ganz schlicht erzählt daher.
„Jeder liest in dem Text eine andere Interpretation, das ist meine bisherige Erfahrung aus Rückmeldungen“, sagt David Schönherr, „das ich eine indirekte Perspektive gewählt habe, erschien mir als Begründung für diese Beobahtung am logischsten. Dazu gehörte auch, eine schreckliche Geschichte mit leichten Worten wiederzugeben, die immer schlimmer, absurder wird, aber trotzdem irgendwie lustig, belustigend bleibt.“
Sprachlich verzichtet der Autor auf Experimente. Es gibt keine Spielereien im Erscheinungsbild des Romans, keine Schriftgrößenwechsel oder Konkrete-Poesie-Stellen wie in Mark Z. Danielewskis „Das Haus – House of Leaves“, keine Zeichnungen, die Ferdinand Meertens Kunst abbilden, kein erweiternden Links ins Netz, keine Kursivierungen oder Unterstreichungen.
Aber inhaltlich steckt die halbe Weltliteratur in den 250 Seiten, von den Aventuiren eines Erec, Iwein, Siegfried über Grimmelshausens derbe „Courasche“, die Märchen der Brüder Grimm und Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ – was man aber alles nicht gelesen haben muss, um David Schönherrs Roman genießen zu können. Denn „Der Widerschein“ funktioniert wie ein Schachspiel, das dem Anfänger die gleiche Freude bereitet wie dem täglich trainierenden Virtuosen, der dutzende Schritte im Voraus bedenken kann. Gott erschuf die Welt, die Niederlände erschufen die Niederlande und David Schönherr erschuf einen wunderbaren Roman – aus dem man sich niemals vertreiben lassen will.
David Schönherr: „Der Widerschein“, FVA, 254 Seiten, 19,90 Euro