Opa und Freundin sind gestorben, das eigene Leben siecht ebenfalls. Florian Voß schreibt in seinem leisen Debütroman “Bitterstoffe” über einen Mittdreißiger, der Licht am Ende des Tunnels sieht, aber wie Tomte in ihrem Song “Korn & Sprite” feststellen muss: “Da kommt ein Zug ein Zug ein Zug ein Zug “.
Felix steckt in einer Sinnkrise. Zuerst muss er seinen geliebten Großvater beerdigen, dann fährt er weiter, um seiner Jugendfreundin Annemarie die letzte Ehre zu erweisen. Tristesse Royale. Der Mann ist Abschiede gewohnt, sie begleiten ihn, seitdem er denken kann. Denn auch seine große Liebe Julia hatte sich vor 15 Jahren abgewendet. “Wir schliefen das erste Mal in einer Nacht zusammen, das zweite Mal an einem Nachmittag. Dann blieb mir noch ein Jahr. Dann ging sie. Dann suchte ich sie. Dann ließ sie sich nicht finden. Dann war ich erwachsen.” Zu Annemaries Beerdigung ist Julia plötzlich wieder da, als Einzige ganz in Schwarz gekleidet, und Felix will aus der Trauer heraus das Gefühl von Früher zurückgewinnen. Felix kämpft.
”In der Straßenbahn saßen die schönen Frauen neben den schönen Männern, die hässlichen neben den hässlichen, und das Spätsommerlicht strahlte golden durch die Scheibe.” Alles hat seinen Platz in dieser Welt, auf die Felix melancholisch blickt, in der selbst wehende Plastiktüten eine Bedeutung erhalten, in der Passanten wie Statisten umherirren, in der es stets zwielichtig leuchtet und Zigaretten das letzte bisschen Halt ermöglichen. Felix steht also verloren in der ganzen Ordnung und fühlt das bittere Chaos. Gibt es Unschuld nach dem 30. Lebensjahr? Wird Julia ihm erlauben, sie ab jetzt festzuhalten, damit auch er neben ihr sitzen kann, in der Straßenbahn? Wer Artischocken, Eisbergsalat oder zu Kleinkindzeiten gar an Löwenzahn und der “Gemeinen Wegwarte” genascht hat, kennt Bitterstoffe. Seit dem Mittelalter gelten sie als appetitanregend. In ihrer bittersten Form hindern sie nassforsche Babys am Austrinken von Putzmittel- und Shampooflaschen. Wem Nägelkauen und Daumenlutschen verboten wurde, der hat Bekanntschaft gemacht mit einem ekeligen Bitterlack, der auf die Fingerkuppen gestrichen wird. Bitterstoffe können in kleinen Dosen helfen, genauso gut Traumata auslösen. Rühr mich nicht an!
So ergeht es auch Felix, dem seine Eltern diesen Namen bestimmt deshalb gegeben haben, weil er “der Glückliche” sein soll, der aber hoffnungslos ins Unglück stürzt, zwischen den Toten und abgelegten Lieben seines verpfuschten Mittdreißiger-Lebens. Es gibt zu viele Bitterstoffe für ihn. Ein bisschen Knutschen ist ok. Und Verwandte sterben manchmal. Aber wenn alles auf einmal kommt, dreht sich jedem Menschen der Magen um. Felix ist befindet sich in einer handfesten Sinnkrise und Florian Voß beschreibt auf wenigen Seiten eine Not, die jeden empfindsamen Typ erwischen kann. Dagegen helfen keine Drogen, die mit skandalöser Selbstverständlichkeit in diesem Roman geraucht, geschluckt, aufgewärmt werden. Dagegen hilft auch kein Absturzabend in den Kneipen oder Clubs von einst. Die jüngeren Besucher tragen die eigenen Klamotten, jetzt allerdings “ironisch” und wer möchte schon sehen, wie das, was einmal wichtig war, nicht mehr ernst genommen wird?
Bestes Beispiel hierfür ist der Auftritt von Winnetou-Darsteller Pierre Brice, der sich 2001 bei “Wetten dass…?” über Bully Herbigs “Der Schuh des Manitu” aufregte, weil der Film Karl Mays humanistischen Ideale verrate. “Bitterstoffe” möchte auch ernstgenommen werden und der Wahlberliner Florian Voß pirscht sich leise an seine traurigen Figuren, er beobachtet sie aus dem Versteck heraus, um anschießend im Flüsterton zu berichten, wie bitter das Leben in seinem Alter sein kann. Melancholie pur.
Florian Voß: „Bitterstoffe“, Rotbuch, 128 Seiten, 16,90 Euro