Der Vater von Martin Kordic ist bosnischer Kroate. Während des Krieges in Jugoslawien kamen etliche Familienmitglieder nach Deutschland. Über 20 Jahre später hat der mittlerweile in Köln lebende Lektor einen Roman über die Kämpfe um Mostar geschrieben: aus der Sicht eines kleinen Jungen.
„Als er ein anderes Mal erwachte, sah Lecha, wie es in der Kraterlandschaft, die früher sein Bein gewesen war, von Maden wimmelte – Dutzende, Hunderte weißer Würmer fraßen sein noch lebendes Fleisch. Er sah ihnen lange zu und begriff nicht, was sie wollten – wussten sie etwa nicht, dass er noch lebte? Dann packte ihn die nackte Angst – sie würden ihn hier auf dem Feld bei lebendigem Leibe auffressen.“ So schreibt der Russe Arkadi Babtschenko in seinem kraftvollen Band „Ein Tag wie ein Leben“ über die Gräuel des Krieges. Dass es auch anderes ebenso eindrucksvoll gelingen kann zeigt Martin Kordic in seinem Debüt „Wie ich mir das Glück vorstelle“: “Ich bekomme Hausarrest. Aber zum ersten Mal höre ich so spät noch die Kühe. Die stehen im Stall und muhen ganz laut. Das hört sich an, wie wenn die Verwandten alle weinen, weil da einer tot ist. Weil der sich mit einem Gewehr ins Gesicht schießt und jetzt zum Friedhof getragen wird. Die ganze Nacht bin ich wach und höre das Geheule von den Kühen.“
Martin Kordic, der den bosnischen Krieg aus Erzählungen seiner Verwandtschaft kennt, hat mehrere Jahre gebraucht, um eine angemessene, sehr knappe Form zu finden. 170 Seiten hat „Wie ich mir das Glück vorstelle“. – Sein Held, der „Junge“, wie er nur genannt wird, beobachtet „einigen Schaden am Körper. Als ich zur Welt komme, haben die Menschen gleich eine Menge mit mir zu tun.“ Er muss eine seltsame „Rückenspinne“ tragen, die seinen verwachsenen Körperbau korrigieren soll und eben diese Rückenspinne scheint in seinem kleinen Leben das Allerschlimmste zu sein. Dabei geht die Welt um ihn im Mörserbeschuss unter. – Wie viele Kinder hütet der Junge einen kleinen Schatz, der aus einem Foto, einem versteinerten Stück Holz, dem Grundig Yacht Boy 500 (einem Weltempfänger) und einem Zauberwürfel besteht.
In seinen Erinnerungen ist er bei der Großmutter, die Teigschnecken backt und bei der Mutter, die ihm einen hellblauen Pulli überzieht. Doch tatsächlich ist der Tod in seinem Leben bestimmend. Er nimmt diesen nur ebenso wahr wie den Moment, in dem er eine Schultüte mit Süßigkeiten in die Hände gedrückt bekommt. Genau darin liegt die große Kunst dieses überall hymnisch besprochenen Romans.
Wie der ebenfalls kleine und behinderte Oskar Matzerath in Günter Grass’ „Die Blechtrommel“ treibt dieser Junge durch die Wirren des Krieges, verliert seine Familie, geht verloren und wird später von den Nonnen einer ominösen „Gemeinschaft von den Söhnen Marias“ gefunden. Einen Geburtstag hat er seitdem nicht. „Die Schwestern kennen nur unseren Fundtag.“ Sie geben ihm den Namen Viktor. Deshalb ist dieser Text, den der Junge in ein kleines Notizbuch schreibt, nichts anderes als der Versuch, seine eigene Vergangenheit zu sichern. Deshalb erzählt er auch ausführlich von seiner Geburt, damit sein Leben nicht in die Zeit vor und nach besagtem Fundtag geteilt wird. Ein Schreiben „gegen das Vergessen“, nur eben viel sanfter als in den meisten Kriegsgeschichten.
Fremde Soldaten fallen immer wieder in sein Zuhause ein, durchsuchen die Kinderbettwäsche, essen das letzte Fleisch. „Wenn der Wind gut steht, können wir in der Gemeinschaft von den Söhnen Marias hören, ob die in der Stadt der Brücken kämpfen. Manche von uns können sogar am Knall erkennen, ob die Granaten auf unsere Seite fallen oder ob wir die Granaten auf die anderen schmeißen.“ Der Krieg: Ein Kinderspiel, das selbst rückblickend in der Gegenwart erzählt wird, wie so viele Geschichten, die von Traumata erzählen. Man spaltet den wahren Horror von sich selber ab, verwandelt ihn, erzählt sich selber Märchen, die bei Martin Kordic auch immer wieder angespielt werden, in Sätzen wie: „Die Schlange trinkt unsere Milch, die Ziege stirbt.“.
So steckt die Tristesse dieses Kinderlebens ganz besonders in einer Szene, über die Martin Kordic ein Wolfsgesicht gezeichnet hat: Da sitzt der Vater des Jungen stundenlang auf dem Klo und hört die Neuigkeiten des Krieges über einen Weltempfänger. Er ruft dem Jungen zu, er solle sich draußen erleichtern.
„Ich gehe hinters Haus, wo die Wäschestangen sind und ein paar angekettete Hunde von den Nachbarn. Wenn die Hunde nicht angekettet sind, fressen sie sich auf. Wie die Schweine im Dorf der Glücklichen. Nur ein Hund ist anders. Der hat das zottelige Fell. Zu dem Hund kannst du gehen und der lässt sich von dir streicheln oder sich die Haare abschneiden, wenn wieder viel Dreck drin ist. Ich ziehe die Hose runter, gehe in die Hocke und mache da hin, wo auch der Hund hinmacht. Ich fasse mit der Hand in den Wassernapf von dem Hund und mache mich sauber.“
Martin Kordic:“Wie ich mir das Glück vorstelle“, Hanser, 174 Seiten, 16,90 Euro
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