Vor wenigen Tagen ging die Geschichte der drei entführten Frauen aus Cleveland durch die Medien. In trauriger Übereinstimmung mit diesem Ereignis erscheint nun Alexa Hennig von Langes „Atem der Angst“.
Als Vierjährige ist Alexa Hennig von Lange beinahe entführt worden. „Ich war mit meiner Schwester einkaufen. Plötzlich riss mich eine Frau auf der Straße an sich, sagte mir, ich solle mitkommen. Ihr Mann warte mit einer Überraschung auf mich. Zum Glück haben andere Alarm geschlagen und sie hat von mir abgelassen“, sagte die inzwischen 40-Jährige vor Kurzen in einem Zeitungsinterview. Diese Angst, der ihr wie ein Atem im Nacken zu stecken scheint, war Antrieb für ihren neuen, sehr bedrückende gestalteten (Jugend-)Thriller. Denn hier mischt sich niemand ein. Kurz vor Halloween verschwindet ein Mädchen, wird von der Dorfgrundschule in den Wald gelockt. Es wird in einem Erdloch gefangen gehalten, es weiß nicht, warum es hier, wie es dorthin gekommen ist, wie es sich befreien soll. Die Ermittlungen beginnen in genau der gleichen Dunkelheit, in der das Mädchen steckt: irgendwo im Nichts.
Sofort kommen einem Parallelen mit dem tödlichen Fall des Bankierssohnes Jakob Metzler in den Sinn. Es ist ohnehin atemraubend, wie Alexa Hennig von Lange mit dem medialen Schockwissen ihrer Leser spielt und eine Entführungsgeschichte inszeniert, die sich nicht nur Urängste verarbeitet, sondern ebenso Anleihen nimmt an Natascha Kampuschs Gefangenschaft, an Filme wie „Wer ist Hanna“ oder „Buried – Lebendig begraben“. Diesem kleinen Mädchen wird nicht mehr zu helfen sein. Es wird schon im ersten Viertel des Buchs erstickt aufgefunden. Doch das ist nur der Anfang. Durch seinen Tod kommt eine verdrängte Entführungsgeschichte zu Tage, es gibt also eine Verbindung von dem ausgegrabenen Entführungsopfer und dem ebenfalls an die Oberfläche tretenden „Düsteren“ dieser Dorfgemeinde, die einen ähnlichen Fall schon einmal erlebt hat. Etwas kommt ans Licht – Stück für Stück für Stück.
„Atem der Angst“ ist ein „detective thriller“, der einerseits genregerecht inszeniert ist, andererseits mit alptraumhaften Abweichungen daherkommt. Es gibt ein verwildertes Mädchen, das durch die Wälder streift, wie im Film „Wer ist Hanna“. Es gibt ein entlegenes Sägewerk, den Einbruch des Ursprünglichen in die Einfamiliensiedlung, die sich zwar auf Halloween vorbereiten mag, aber mit dem realen Horror kein bisschen umgehen kann. Denn das Mädchen wird nicht das einzige Todesopfer bleiben. Auch das kennt man: Ist das erste Grab geöffnet, braust der Schrecken ungezügelt durch die Gemeinde. Hier bedroht der Fluch den kleinen Sohn der alleinerziehenden Kommissarin, die Familie der Entführten, das wilde Mädchen im Wald und den ungezügelten, 16-jährigen Bruder des allerersten Opfers von einst. Wo Frieden und eine Landstraße war ist nun Furcht und Schrecken.
Es gibt eine Verbindung zwischen allen Figuren, und nur wenn diese rechtzeitig erkannt ist, werden weitere Morde verhindert. Die Kommissarin hat wenig Zeit. Wie lange hält es ein Mensch in einer Holzkiste aus, bevor er erstickt? – Alexa Hennig von Lange hat „Atmen der Angst“ (man glaubt es kaum) so konstruiert, dass ihre 14-jährige Tochter das Buch ebenfalls lesen kann. Dafür ist das Buch übrigens verdammt krass gemacht.
Alexa Hennig von Lange: „Der Atem der Angst“, cbt, 416 Seiten, 14,99 Euro