In David Fincks Debüt „Das Versteck“ verschwindet ein Mensch von heute auf morgen – und niemand weiß, wo er ist. Noch fünf Jahre später hinterlässt er eine Lücke: bis etwas ganz und gar Unheimliches geschieht.
Im Kino-Blockbuster „Prestige – Die Meister der Magie“ erklärt Michael Caine das Geheimnis eines jeden Zaubertricks mit den Worten: „Es reicht nicht, etwas verschwinden zu lassen. Man muss es auch zurückholen.“ Denn niemand begeistert sich für einen Wellensittich, der unterm Tuch verschwindet und dann nie wieder gesehen wird. Nur wenn der Vogel an einer anderen Stelle auftaucht, klatschen alle Beifall. In gleicher Weise, wie einen Zaubertrick, hat David Finck seinen Debütroman „Das Versteck“ aufgebaut.
Im ersten Akt werden Jonas und sein jüngerer Bruder Bernhard vorgestellt. Das kennt man auch von Zaubertricks: Die Instrumente werden präsentiert. Man wundert sich ein bisschen, hat aber noch etwas Überblick. Bernhard und Jonas sehen beinahe gleich aus. ‚Die Alben mit Kinderfotos belegen das Drama. Mit vier sah ich ihm ähnlich. Mit zwölf wirkte ich wie ein verkümmerter Zwilling. Spannend wird es mit sechzehn.“ (32) Jonas verliert beim Münzwurf und muss sich den Schädel rasieren. So sind die beiden optisch auseinanderzuhalten. Ihr Interessen entwickeln sich entgegengesetzt. „Jonas wollte Philosophie studieren, weil er Spezialisierungen für Kleinkrämerei hielt und zudem der Auffassung war, man könne nicht ein Leben lang Mensch sein und auf der Welt sein und von Mensch und Welt keine Ahnung haben.“ (17) Bernhard entscheidet sich für ein Jurastudium.
Eine Exfreundin wird sich irgendwann erinnern: „Ihr wart ein Pärchen: der Spinner und der Saubermann. So hat Jonas es beschrieben. Du mit deinem Jura und er nur Schwachsinn im Kopf. Der eine säuft sich unter den Tisch, der andere durchkämmt die Kneipen der Stadt, um seinen Bruder an die mündliche Prüfung am nächsten Tag zu erinnern.“ (199) Doch nach Jonas’ Geburtstagsparty ist er verschwunden. „Ein Sektkorken knallte, prallte im richtigen Winkel an der Wand ab, traf ein Weinglas und zauberte eine Explosion roter Tropfen in den Raum.“ (29)
Es gibt keine Nachricht. Nur: Ratlosigkeit. Wie im zweiten Akt eines jeden Zaubertricks. „In den ersten Wochen hatte Bernhard nicht wahrhaben wollen, dass ein Mensch so vollständig verschwinden kann. Im Land der Tellerwäscher, Tramper und Trailerparks vielleicht, aber nicht in Deutschland.“ (55) Als einzige Verbindung der beiden bleibt die gemeinsame Freundin Gabriele, in die sich Bernhard verliebt, mit der er zusammenziehen und noch fünf Jahre leben wird. „An Gabriele war alles ein wenig zu klein geraten, Mund, Nase und Ohren. Einzig ihre Hände hätten besser zu einem Mann mittlerer Größe gepasst, weshalb sie der festen Überzeugung war, dass irgendwo auf der Welt ein Mann versuchte, mit den lächerlich schwachen und zarten Händen einer Frau zurechtzukommen, während sie einen überraschend festen Händedruck hatte.“ (10)
Hier ist etwas vertauscht: Die Hände. Tatsächlich ist alles in diesem rätselhaften Roman vertauscht, nichts komplett da. Fünf Jahre nach Jonas’ Verschwinden wird Bernhard plötzlich einen linken und einen rechten Schuh verlieren. Er wird mit einem brauen und einem schwarzen Exemplar in jene Kanzlei gehen, wo er eine gute Anstellung als Anwalt gefunden hat. Die Kanzlei hat einen Doppelnamen, Ackermann & Dombek, wobei Dombek ebenfalls fast verschwunden ist, wie Bernhards Bruder: „Dombek und ich haben zusammen studiert. In Kiel. Er hat die Rechtswissenschaften von Anfang an geliebt. So wie ich die Frauen. Ohne ihn hätte ich keins der Examen geschafft. Als ich weg wollte, kam Dombek mit, ohne Fragen zu stellen. Diese Kanzlei haben wir zusammen aufgebaut“(76), erinnert sich Ackermann.
Inzwischen ist Dombek dement, was sein Sozius nicht wirklich wahrhaben will: „Ich kenne Dombek so gut wie mich selbst. Er ist ein feiner Kerl. Es ist nur – er vergisst Sachen und erfindet neue hinzu, um die Lücken zu füllen. Vollkommen harmlos.“ Er füllt die Lücken: Wie ein Erzähler. Etlichen Romanen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur folgend kommt auch „Das Versteck“ nicht umhin, immer wieder seine Narration auszustellen: „‚Ist das eigentlich Jonas’ Geschichte oder meine?‘ fragte Gabriele. Ein berechtigter Zwischenruf. Aber Bernhard hatte sich damit abgefunden, dass seine Autorität als Erzähler in Frage gestellt wurde. ‚Eigentlich ist es meine‘, sagte er.“ (20) „Als die Mutter Bernhard in Jonas’ Büchern lesen sah, ohrfeigte sie ihn. ‚Du bist nicht Jonas, also versuch auch nicht, Jonas zu sein!“ Sie war eine unglückliche Frau. Zweimal die Woche ließ sie sich ihr Unglück für teures Geld von einem Psychiater bestätigen.“ (97) Oder gleich zu Beginn: „Fest steht aber, es werden keine Bücher über Milch trinkende Männer geschrieben, nur weil sie nicht schlafen können. Und so sei noch der Juckreiz zwischen den Augenbrauen erwähnt, der Bernhard befällt, sobald er unter die Bettdecke kriecht.“ (8)
Nein, es werden Bücher geschrieben, die sich mit konstruktivistischen Theorien auseinandersetzen (was das mit Juli Zehs Roman „Schilf“ zu tun hat, der ebenfalls konstruktivistisch angelegt ist und wieso hier Juristen auftauchen, thematisiere ich weiter unten). Zudem sind alle allein. Eigentlich sind alle in diesem Debütroman allein. Bernhard hat keine Freunde, Gabrieles Familie ist schon lang zerbrochen.
Ackermann selbst ist Witwer. Seine Frau ist vor Borkum ertrunken. Gabriele dagegen ist „Einzel- und Scheidungskind (…) Der Erstgeborene beschloss nach drei Tagen zu sterben. Eine Frühgeburt.“ Das sind sehr viele Dopplungen für ein Debüt – und hinter diesen Dopplungen steht ein fürchterliches Geheimnis, das am Ende auch nur ansatzweise gelüftet wird, das im Numinösen bleibt, wie bei den Zaubertricks, wenn der Vogel zwar da, die Rätselhaftigkeit, das Erstaunen geblieben ist. Das erste Zauberkunststück David Fincks ist trotz der einen oder anderen dramaturgischen Schwächen und seiner doch sehr gebauten histoire und seinem nicht weniger konstruierten discours gelungen.
David Finck: „Das Versteck“, Schöffling & Co, 256 Seiten, 19,95 Euro
Addendum
Vor neun Jahren habe ich Juli Zeh (die damals noch nicht als Juristin promoviert war) unter „Sehr verehrte Frau Zeh“ angeschrieben, nachdem ich ihren Roman „Spieltrieb“ gelesen und diesen Text geschrieben hatte (zuvor hatte ich „Adler und Engel“ in einem Seminar kennengelernt). Ich erinnere mich, dass sie damals sehr freundlich antwortete, mir sagte, dass es gar nicht so häufig vorkäme, dass sich Leser bei ihr meldeten, sie sich sehr freuen würde und unterschrieb dann mit: „Juli!“ Inzwischen ist sie, wie ich hörte, mit David Finck verheiratet. Die beiden haben ein Kind, leben gemeinsam in Brandenburg, für ihr „Kleines Konversationslexikon für Haushunde“ hat Juli Zeh geschrieben und David Finck fotografiert. „Das Versteck“ eröffnet mit der Widmung „Für Juli“ – doch in Interviews sprechen sie nie namentlich übereinander. In besagtem Konversationslexikon scheint zu stehen, dass sie zusammen leben. Ausgerechnet dieses Buch habe ich nicht gelesen, stattdessen „Nullzeit“ besprochen (das ich hier aufgegriffen und dort rezensiert habe), „Corpus Delicti“ angehört, „Schilf“ gelesen und mich über Juli Zehs politischen Aktionen teilweise sehr gewundert.
Ihr privates Leben ist eine Blackbox für mich. Ist es nicht egal? Nach den Hinweisen habe ich mich gefragt, quasi zurückgefallen in die Neugierde zu „Adler und Engel“-Studienzeiten, wie sie und David Finck zusammenstehen. Ein Posting an meine Freunde, Bekannten, Verfolger auf Facebook bestätigte jedenfalls, was ich vermutet hatte, führte aber auch zu der Nachfrage, ob dergleichen relevant sei, ich nun in den Boulevard abtauchen würde. Ich glaube: In diesem Fall ist es relevant, weil man sich notwendigerweise beim Lesen des Buches wundert und ein Journalist eventuelle Fragen stellvertretend für seinen Leser, den Käufer des Buchs oder den interessierten Literaturfreund beantworten sollte.
Für die ästhetische Qualität des Buchs ist es freilich irrelevant. Nur so viel: David Finck hat seine Frau nicht kopiert (trotz der vielen Juristen, die auftauchen). Auch stilistische Ähnlichkeiten, wie sie beispielsweise bei Siri Hustvedt und Paul Auster nachweisbar sind, konnte ich nicht zwingend erkennen. „Das Versteck“ ist keinesfalls, wie beispielsweise „Untergrundbahn“ von Gottfried Benn, eine Art öffentliche Antwort an die Geliebte. Aber es ist ein Liebesroman, der sich (hier dann doch „Corpus delicti“ von Juli Zeh folgend) am Konstruktivismus abarbeitet. Eine Nachfrage beim Verlag ergab übrigens: Die Ehe ist kein Geheimnis. Man schrieb es nur deshalb nicht in die Vita, weil Familienkonstellationen bei Schöffling & Co nie in der Buchklappe thematisiert werden. Dort steht stattdessen ganz schlicht: David Finck „wurde 1978 in Düsseldorf geboren und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Unter anderem ist er Co-Autor des Drehbuchs zu dem Kinofilm »5 Jahre Leben« (2013). Er lebt in Berlin und Brandenburg, ist verheiratet und hat ein Kind. „Das Versteck“ ist sein erster Roman.“
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