Hartmut Lange: „Die Waldsteinsonate“

Ein Meisterstück der jüngeren Novellentradition ist diese 1984 veröffentlichte Gespenstergeschichte aus dem Führerbunker. Zwanzig Jahre vor Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“-Film und vierzig Jahre vor Nora Bossongs „Reichskanzlerplatz“ erscheint der Mord von Mutter Magda Goebbels an ihren eigenen Kindern als monströses, die Täterin selbst verstörendes Verbrechen.

Hartmut Langes Die Waldsteinsonate variiert Szenen seines Dramas Jenseits von Gut und Böse oder Die letzten Stunden der Reichskanzlei und beginnt mit dem rätselhaften Satz: “Franz Liszt starb am 31. Juli des Jahres 1886, an die näheren Umstände hierzu konnte er sich nicht erinnern.” Der österreichisch-ungarische Komponist, obschon tot, befindet sich “im Vollbesitz seiner Sinne und geistigen Gaben”. Er geht zielstrebig zu seiner Einladung: “Frau Magda G. bittet um Ihren Besuch im Bunker der Reichskanzlei, und zwar für den 1. Mai 1945.” Es ist jene historische Nacht, in der sich Adolf Hitler und Eva Braun richten, jene Nacht, in der Joseph und Magda Goebbels nicht nur sich, sondern auch ihre Kinder vergiften. Aus der Ferne ist das Donnern der Kanonen zu hören, Zeichen eines sinnlosen Kampfes.

Im Führerbunker angekommen, blickt Liszt in einen Raum, wo hinter dem Pianoforte, “dessen schwarzer Lack von staubigem Mörtel und von Stücken Mauerwerk dicht übersät war”, Magda Goebbels sitzt. Der Komponist ahnt nicht, weshalb er hierhin gerufen wurde, ebenso wenig weiß er, dass seine symphonische Dichtung Les Préludes seit Beginn des Russlandfeldzugs als Erkennungsmelodie für den Wehrmachtsbericht verwendet wird.

Liszt ist in eine Soutane gekleidet. Wenige Jahre vor seinem Tod hat er die niedere Weihe empfangen, darf sich seitdem Abbé nennen und als christlicher Amtströster auftreten. Als er gewahrt, dass die ihm noch unbekannte Frau weint, möchte er sie beruhigen, er will schon die Hände der Schluchzenden ergreifen, da “stand in der Tür, die mit einem unangenehmen, metallenen Klirrton geöffnet und wieder geschlossen worden war, ein schmächtig wirkender Mann, der ihnen mehrmals und mit heiterer Selbstverständlichkeit zunickte.” Es ist Joseph Goebbels. Er lächelt.

Liszt, der durch seine Anwesenheit das Verbrechen verhindern oder sich, sollte er erfolglos bleiben, nach dem Wunsch Magda Goebbels wenigstens der verstorbenen Kinder im Jenseits annehmen soll, setzt sich ans Pianoforte und spielt die ersten Takte der Waldsteinsonate, ein Klavierstück Ludwig van Beethovens, “bis zu jenem Triller, der den düsteren, melancholischen Auftakt ins Heitere zu wenden versucht.” Offensichtlich ist hier die phonetische Ähnlichkeit des Trillers mit dem Klirrton. Liszt spielt um das Leben dieser Kinder.

Ein Arzt soll helfen, die Kinder zu töten. Joseph Goebbels beobachtet seine Frau misstrauisch, ihr Schwanken spürend. Zunächst sitzen sie da, drei gänzlich verschiedene Menschen. Goebbels phantasiert über das nahende Ende: “Was ist schon der Sieg? Er ist billig zu haben.” Liszt, der vom anderen Zimmer aus Kinderstimmen hört, fasst seinen Plan: “Sie werden nicht so unhöflich sein, den Raum zu verlassen, solange ich auf dem Pianoforte spiele. Dies wäre mir in meinem Leben nie begegnet […] Wenn dieser Krieg in wenigen Stunden beendet sein soll‹, dachte er, muß die Musik sie bezaubern. Beethoven! Beethoven wird die Kinder retten. Er ist mächtiger als alles andere‹, dachte er, und: ›Der müßte erst geboren werden, der der Waldsteinsonate widerstehen kann.‹”

Liszt improvisiert, zieht das Stück in die Länge, setzt die Akkorde “besonders weich, in der Absicht, die düstere Entschlossenheit der beiden zu mildern.” Sein Spiel scheint zu verfangen, da kommt ein Arzt – vermutlich Dr. Ludwig Stumpfegger, Begleitarzt im Stab Adolf Hitlers –, der mit Joseph Goebbels den Raum verlässt. Magda Goebbels fleht Liszt an, sie zu begleiten. Der Komponist lehnt das ab. Die enttäuschte Frau geht allein aus dem Raum. Liszt fühlt sich schuldig, kehrt zitternd zum Pianoforte zurück und spielt auf eine Weise, “daß es schien, als würden der allzu enge Raum, die eiserne Tür, aber auch der Korridor wie durch die Wucht einer Posaune auseinandergesprengt. Aber dabei ließ er es nicht bewenden. ›Wagen Sie es nicht‹, rief er, ›wagen Sie nicht, den Kindern etwas anzutun! Es sind Geschöpfe Gottes!‹”

Am Ende ist Liszt klar, dass ihn niemand hört, “[u]nd auch, daß er der Waldsteinsonate zu viel, ja das Unmögliche zugemutet hatte.” Alle Himmel sind verschlossen, draußen beginnt der Frühling. “Die Kastanien blühten. Sie hatten Mühe, sich gegen den Geruch, der über der brennenden Stadt lag, zu behaupten.”

Zur Rezeption

Justin Rechsteiner schreibt in der Luzerner Zeitung Vaterland: “Was soll der ›priesterliche‹ Vermittlungsdienst zwischen Leben und Tod, geleistet von jenem Klaviervirtuosen, der als Kleriker mit den niederen Weihen gerne seine Soutane zur Schau trug? Wäre von ihm […] ernsthaft eine Lösung zu erwarten? Bedeutet das ›Versagen‹ der Waldsteinsonate den Bankrott der Kunst, das heißt die Unfähigkeit, einem unmenschlichen System und dessen Folgen beizukommen? Oder muss eben dieses Versagen gar als Komplizenschaft und damit Stabilisierung des Systems gedeutet werden?”

Positiv rezensiert Katharina Frass in den Salzburger Nachrichten: “Eindeutig und unmißverständlich das Wittgenstein-Motto, das Lange seinem Buch voranstellt: ›Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.‹ Mit sicherem Griff hat der Autor die Geschichte einiger der Unglücklichsten ausgewählt und sie in ihrem Endstadium beschrieben”.

Joachim Kaiser urteilt in der SZ: “Alle preußischen Figuren, die in Hartmut Langes bemerkenswertem, hochkonzentriertem und edel-verstörendem Novellenband […] vorkommen, mögen von einem solchen, sich sonnig selbstgenügenden Leben träumen. Aber weil sie diesen Traum nie und nirgends auch nur ein wenig in die Wirklichkeit übersetzen können, in der es kalt ist, in der ein leiser Regen niedergeht, wo man frierend das Zittern der Hände nicht zu unterdrücken weiß, darum begraben sie die Verwirklichung ihrer Träume und suchen den Tod. […] Novellen, die – ohne übermäßige Gespreiztheit – in jenem verhaltenen, edlen Ton geschrieben sind, wie wir ihn in der der deutschen Literatur etwa vom Neoklassizisten Paul Ernst kennen.”

Kompositorisch ist anzumerken, dass die unerhörte Begebenheit des Mordes an den eigenen Kindern außerhalb der Handlung und somit ebenso im Verborgenen liegt wie die Kinder selbst. Novellenfalke ist die Klaviersonate Nr. 21 Ludwig van Beethovens, die ebenso zur Öffnung des (weiblichen) Herzens funktionalisiert wird, wie die Zubereitung des Falken für die Geliebte in Boccaccios Dekameron. Charlotte Beckers weist nach, dass die Novelle selbst wie eine Sonate gebaut ist, und dass Liszt “als Gegensatz zum mythischen Orpheus – entmythologisiert [wird].” Zudem nennt sie intertextuelle Bezüge zwischen Die Waldsteinsonate und The Fall of the House of Usher von Edgar Allan Poe, sowie Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik (von Kleist. Ihrer Analyse nach können musikphilosophische Konzepte Schopenhauers und aus Thomas Manns Buddenbrooks parallelisiert werden.

Analyse

Deutlich ist die zum Wendepunkt hin- und von dort wieder wegführende Struktur. Auf der räumlichen Ebene bewegt sich der discours von der ebenen Erde über die Unterwelt zur Erde zurück. Diese Abwärts- und spätere Aufwärtsbewegung wird in Listzs Spiel auf musikalischer Ebene wiederholt, denn “er spielte die ersten Takte der Waldsteinsonate bis zu jenem Triller, der den düsteren, melancholischen Auftakt ins Heitere zu wenden versucht.”

In Anlehnung an die Systemtheorie Niklas Luhmanns beziehen sich Systeme innerhalb eines Inferenzverhältnisses aufeinander. Es sind die Systeme der “Familie”, repräsentiert durch Magda Goebbels, der “Politik”, repräsentiert durch Joseph Goebbels und jenes der “Kunst/Religion”, repräsentiert durch Franz Liszt. Er ist ins Priestergewandgekleidet. Sein Glaube ist offensichtlich geborgen in voraufklärerischer Zeit. Liszt erscheint als ein “Neuankömmling”, der seine kindliche Anschauung noch nicht zum Begriff erheben kann, der im ersten Drittel der Novelle als “verwirrt” und “erstaunt” beschrieben wird, als einer, der versucht, “die Umstände, in denen er sich befand, zu begreifen.”

Somit ist Liszt auch auf semantischer Ebene mit den Kindern verbunden. Als Künstler beobachtet er die Musik dagegen wie ein Gläubiger. Als er seinen beschwörenden Auftritt beendet, indem er das Pianoforte schließt, denkt er: “[G]ut. Dann habe ich meine Schuldigkeit getan und nun sind alle Himmel verschlossen.”

Das politische System beobachtet seine Umwelt mithilfe des binären Codes Regierung/Opposition und ist in Die Waldsteinsonate vertreten durch den kalkulierenden Machtmenschen Joseph Goebbels, der als Refiguration König Schahriyârs auftritt. Goebbels beobachtet seine Umwelt stets unter dem Aspekt der Gegnerschaft. Angesichts der Niederlage wird der Politiker und Familienvater als Despot im altrömischen Sinne dargestellt.

Der politische Wille zur Macht steht in Die Waldsteinsonate dem Familiensystem gegenüber, in dem nach Luhmann “Liebe” Medium der Kommunikation ist. Goebbels denkt Macht und Liebe auf paradoxe Weise zusammen, denn: “Wer sein Haus nicht retten kann, für den wird es zum Scheiterhaufen. Wer sich und seine Kinder opfert, adelt den Untergang.” Die Ermordung der eigenen Kinder resultiert aus dem Widerstreit der Systeme “Politik” und “Familie”. Das System der “Kunst” kann Goebbels ebenso wenig irritieren wie Beethovens Sonate hier das System der “Politik” nicht zu irritieren vermag; der in eine SS-Uniform gekleidete Arzt “schien das Klavierspiel nicht zu bemerken.”

Als Mutter hofft Magda Goebbels, Liebe als Medium der Kommunikation zu bewahren, und sieht sich in diesem Bestreben zwischen Liszt und ihrem Mann. Dieses Dazwischen-Sein wird im Text mehrfach markiert. Magda Goebbels ist “weder alt noch jung, weder schön noch häßlich, weder anziehend noch abstoßend.” Sie wendet sich an Liszt, damit er ihre Kinder rettet, und sagt im gleichen Moment, Joseph Goebbels Plan sei auch ihr Wunsch. Sie wird als ebenso anmutig wie verzweifelt beschrieben. Sie beobachtet sich innerhalb eines Absatzes zuerst als schuldig, dann wieder als unschuldig und wankt im Weggehen.

Dieses Motiv des Wankens wird variiert, denn auch Liszt “verfing […] sich mit den Schuhen im Saum seiner Soutane, konnte gerade noch verhindern, dass er stolperte”. Er bemerkt, auf welche Weise das Pianoforte “alles zum Schwingen” bringt. – Dramaturgische Spannung wird erzeugt, indem die konsequent aus Listzs Sicht erzählte Novelle ihren Fokus auf das Verhältnis zwischen Magda und Joseph Goebbels legt, “das seltsame Paar.” Magda und Joseph erscheinen so als Antitypen der biblischen Eltern Maria und Joseph.

Fazit

Lediglich in Langes Die Waldsteinsonate und in seiner Novelle Im Museum VI kommen Kinder vor, allerdings nicht als Symbol des Zukünftigen, sondern als Ermordete. “Jeder kennt die Dokumentaraufnahmen, in denen Kinder im Konzentrationslager zur Vergasung geführt werden, und dies war der Gipfel der Menschenverachtung und wahrhaft eine Demonstration des Bösen, die, koste es, was es wolle, überwunden werden musste”, schreibt Lange elf Jahre später in Die Welt, “Magda Goebbels hat mit dem Mord an ihren sechs Kindern diese Praxis bedenkenlos fortgesetzt. Aber auch jene, die die Kinderleichen als Trophäen mit sich herumschleppten und sie anschließend, als wäre da zwischen den Gebeinen der Mörder und den unschuldigen Opfern kein Unterschied, zu Asche verbrannten, auch jene haben es nicht vermocht, die willentliche Verwicklung des Bösen mit der elementaren Unschuld wenigstens im Tode wieder aufzuheben.”

Nachvollziehbar bleibt, dass bei der Uraufführung des Stücks 1975 wie auch bei Erscheinen der Novelle 1983 nicht nur ästhetischer, sondern auch moralische Einwände sowohl im theater-, als auch im literaturkritischen Feld artikuliert wird. Es ist ein Einspruch, der vermutlich anders geklungen hätte, nach der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäckers Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am 8. Mai 1985. Diese Rede bildet eine Zäsur in der bundesdeutschen Erinnerungskultur und straft jene Lügen, die 1975 nach der Uraufführung des Stücks Jenseits von Gut und Böse oder Die letzten Stunden der Reichskanzlei hochmütig argumentierten, die hier auftretenden Figuren “und das, was sie sagen (sei) keinesfalls neu, was sie uns sagen, ist längst erkundet.” (aus einem Artikel der NZZ vom 4.9.1975)

Der Text ist eine überarbeitete Fassung des gleichnamigen Kapitels aus dem Buch: „Literatur der Krise. Das Novellenwerk von Hartmut Lange“, Arco Wien, erschienen zum 85. Geburtstag Langes (hier erhältlich) – dort abgedruckt mit allen Zitatbelegen und zahlreichen Fußnoten.

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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