Finn-Ole Heinrich schreibt starke Texte über schwache Menschen. Mit seinen neuen Erzählungen bestätigt er mal wieder das Lob von Kollege Clemens Meyer: “Hard stuff, immer aktuell, sowas brauchen wir!”
”Man kann einem Hund nicht die Zähne wegflexen, das ist krank.” Dieser Satz aus Finn-Ole Heinrichs neuem Kurzgeschichtenbuch beinhaltet in wenigen Worten alles von ihm, dem großem Künstler. 1982 wurde er geboren. Doch kann er bereits auf drei Bücher als Autor und auf viele, viele Filme als Regisseur zurückblicken. “Gestern war auch schon ein Tag” erzählt in acht Stories eine ganze Welt. In der Geschichte “Wessi” verkaufen zwei Monteure illegal Pitbulls an furchtsame Neonazis, die sich vor diesen “Hundekampfmaschinen” beinahe in die Hose machen. Der eine Monteur züchtet diese Viecher heimlich im Wald. Der andere, für eine Hundeübergabe als Bodyguard engagiert, tapert wie Falschgeld durch die absurde Szene und will eigentlich nicht dazugehören.
Da sind die finsteren Nazis, die teuren, hysterischen Hunde, die vielen tausend Euro, die vermutlich aus dunklen Kanälen stammen und mit dem Deal in nicht weniger dunkle Kanäle zurückwandern. Und später wird der Aushilfsbodyguard die “Trainerin” sehen, ein besonders aggressives Pitbull-Exemplar, das den anderen Tieren das Kämpfen im Sparring beibringen soll. Damit sich die Tiere nicht totbeissen wurden der “Trainerin” alle Zähne knapp unterm Zahnfleisch entfernt, was den Bodyguard schier wahnsinnig macht, denn: “Man kann einem Hund nicht die Zähne wegflexen, das ist krank.”
Der Leiziger Underdog-Poet Clemens Meyer (”Die Nacht, die Lichter”) hätte diese Geschichte vermutlich nicht aus der Sicht des Mitläufers geschrieben, der aus Zufall angeheuert wird und geradezu entsetzt ist wegen der Nazis und des Geldes und der Brutalität, wegen so viel Krankheit, die plötzlich einbricht in sein Leben. Clemens Meyer hätte die andere, die weniger mitfühlende Seite gezeigt. – Das soll jetzt kein Argument gegen den einen oder den anderen Autor sein (beide schätzen sich ohnehin sehr), sondern nur beweisen, dass es gerade zwei junge deutsche Autoren gibt, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln begeisterungswürdige Geschichten über das Jetzt schreiben können.
In einer Geschichte (”Zeit der Witze”) zweifelt ein Freund an der Liebe zu seiner Freundin Susan, die seit einem Unfall körperlich behindert ist. Ihr fehlt ein Fuß. “Seltsam, ich vermisse nichts”, sagt sie und der Freund möchte antworten: “Ich schon.” Aber das sagt er nicht. Der Junge schließt die Augen und wenn er an Susan denkt, “sehe ich sie mit beiden Beinen.” Beim Sex kriegt er keinen mehr hoch. “Ich habe Angst, dass das, was ich fühle, Ekel ist.” Und genau dieser Ekel bringt eine Abiturientin, die ihren behinderten Bruder Tom betreut, in der letzten Geschichte (”Wenn man gesungen sagt”) zur Weissglut. Denn ihr großer Bruder hat seiner Gattin verschwiegen, dass es da einen Behinderten in der Familie gibt. “Das interessiert doch niemanden”, verteidigt er sich und sie schreit ihn an: “Das, ach so: Das Tom, das behinderte Etwas, häh? Du bist ein Arsch, echt.”
Finn-Oles Geschichten spielen in Heimen, Besserungsanstalten, zerbrochenen Familienhäusern, in Sozialwohnbausiedlungen. Die Menschen müssen sich mit Sozialgesetzen, Alkoholentzügen und Aufenthaltsgenehmigungen herumschlagen. In den 70er Jahren gab es massenhaft engagierte Literatur, die den Gestrauchelten, Unterdrückten, den Wahnsinnigen und Kaputten eine Stimme geben wollte. Diese Texte kamen oft pathetisch und politisch arg überhöht daher. Was man damals in Arbeits-, Feministen- und sonstigen Engagiertenkreisen debattiert hat, ist längst vergessen. Finn-Ole wird dieses Schicksal deshalb nicht ereilen, weil er ohne Parolen durch seine Welt führt, weil in seinem Geschichten keine Plakate in die Höhe gehalten werden. – Der Hamburger schreibt mitfühlend über seine Leute, er spannt sie nicht vor einen Karren, führt niemanden am Gängelband durch die Stadt. Wer einmal ins fabelhafte Hörbuch “Auf meine Kappe” (gerade erschienen) reingehört hat, der hört automatisch die zaghaften Zwischentöne. Er herrscht in diesem Best-of ein Flirren, das nicht allein vom Noise-Sound Ludwig Plaths kommt, der für Finn-Ole ein paar rätselhaft-schöne Stücke komponiert hat.
Die Stille ist beim Finn-Ole ein Geräusch, das nachsummt, tagelang. Seine Geschichten erzählen in Bildern, die alle von Regisseur Hans-Christian Schmid (”Crazy”, “Lichter”, “Sturm”) entworfen sein könnten, in einer Melancholie und Wucht, die an neuere Radiohead-Alben erinnert, in einer Sprache, die unvergleichlich ist. Beim ersten Lesen steht da nur ein simpler Satz: “Man kann einem Hund nicht die Zähne wegflexen, das ist krank.” Beim zweiten Lesen kommt die Wut. Finn-Ole Heinrichs Literatur ist über jeden Zweifel erhaben.
Finn-Ole Heinrich: „Gestern war auch schon ein Tag“, Mairisch, 156 Seiten, 16,90 Euro