Hard-Fi

„Mama, Arm!“ Paulo hockt auf dem weiß gekachelten Badezimmerboden. Er zettelt, zupft und zerrt weinerlich an Miriams Jeans. „Bin gleich bei dir, Schatz“, besänftigt sie den Zweijährigen. „Nur ein paar Sekunden, ja?“ – „Mag ich nicht.“ – „Ich mag auch vieles nicht, Paulo.“ Mit der rechten Hand tupft Miriam Lipgloss auf ihren Mund. Die Sterne verteilen sich ungleichmäßig, als schimmernde Inseln. „Ich sehe heute wie ein Flittchen aus“, denkt sie, langt, während Paulo versunken mit dem Plüschvorleger schmust, nach einem frischen Handtuch und wischt alles ab.  Sie kontrolliert ihren Scheitel im Badezimmerspiegel, quittiert kritisch den dunkleren Ansatz. „Seitdem der Junge da ist, fühle ich mich immer halbfertig, nach Montagmorgen“, denkt sie, „für nichts finde ich Zeit.“ Miriam kniet nieder, um ihren Sohn auf die Stirn zu küssen. „Lass mal den dreckigen Vorleger, bah!“ sagt sie in scherzendem Tonfall.  Der Kleine braucht ein paar Sekunden, um sich gedanklich von dem Spielgerät zu lösen. Dann schlingt Paulo seine Händchen um Miriams Kopf und küsst sie mit offenem Mund auf beide Wangen, die Nasenspitze, auf ihre Augen, Ohren, den Hals. „Mama lieb.“ – „Danke.“ Miriam überlegt unruhig, wo Julia bleibt. – „Hey, wir verwischen mein Make-Up …“  Sie hebt das Kind auf ihre Schultern, geht zurück, Richtung Küche, macht dabei „Pferdchen“, schnalzt mit der Zunge und wirft den lachenden Paulo wenige Sekunden später, aus überschwänglicher Laune, wie ein Päckchen in die Höhe. „Mama!“ – „Ja?“ – „Paulo fliegt.“ – „Magst du das?“ Der Kleine nickt eifrig. „Paulo mag das“, sagt er mit viel zu langen Pausen zwischen den drei kurzen Wörtern. – Endlich klingelt es an der Tür. Miriam setzt Paulo auf den Boden, zu den Bauklötzchen, „warte eine Sekunde“, sagt sie. Es ist Samstagabend, kurz vor zehn. Im Radio moderiert Roger Hunt seine Oldiesendung „Yesterday“.

Zwei Minuten bevor Joshua im Club die erste reguläre Platte des Abends spielt, schickt Miriam eine SMS auf Julias Mobiltelefon: „Bin angekommen und müde. Wäre gern daheim, bei euch. Habe das Handy vor mir liegen, falls was ist.“ Michael, der Veranstalter, öffnet das Eisengitter zum Kassenbereich und nickt euphorisch: „Alles gut?“ Er stellt einen Flyerkarton auf den Boden und wischt seine Hände an der viel zu weiten HipHop-Jeans ab, die nun noch tiefer hängt. Wenn er gleich rausgeht, wird Miriam seine Boxershorts sehen. „Alles gut“, antwortet sie. – „Heute wird voll, oder?“ Einfach nicht hinsehen, denkt Miriam. „Ja, kann sein.“ Sie blickt für eine Sekunde Richtung DJ-Pult. „Schön, dass Joshua wieder da ist“, sagt Miriam, „ernsthaft.“ Ihr Blick wandert ins rote Scannerlicht, zur Discokugel, die großen, von der Decke hängenden Quaderstalagtiten herab. „Kassieren, Mädchen, nicht knutschen!“ Michael lacht.

Um kurz vor vier, die Luft riecht unter anderem auch nach Alkohol, sortiert Miriam Scheine, Münzen und Freikarten. Sie schreibt Zahlenkolonnen auf ein kariertes DIN-A4-Papier und tippt Ziffern in den großen Taschenrechner. Auf dem Tisch steht eine leere Dose Red Bull, mit Strohhalm. Eigentlich mag sie keine Strohhalme, weil das nicht mehr süß, sondern infantil aussieht, bei 27-jährigen Frauen, Strohhalm und Dose, wie Fläschchen und Schnuller. „Welche Mutter will schon Lolita spielen?“ denkt Miriam, „irgendwann bedeuten kindlich und kindisch echt dasselbe.“ Im Club sind Strohhalme natürlich praktisch. Es ist unschön, mit klebrigen Fingern zu kassieren, bis hin und wieder die Toilettenablösung kommt. „Die haben kein Gefühl für Mädchen“, denkt Miriam. Im Kassenbereich ist nicht einmal ein Waschbecken installiert. Die Veranstaltung steht vorm Kipp-Punkt. Das Mischpult ist „englisch“ eingedreht, alle Regler stehen oben, auf zehn. Die sirenenförmigen Function-One-Boxen spielen etwas härtere Absackermusik, Beatsteaks, Klaxons, Simi-an Mobile Disco, Oasis-B-Seiten. Auf dem Podest knutscht eine Clique zu „Sleep Deprivation“ und am Tresen trinken drei Jungs grüne Schnäpse, mit Kay Shanghai, dem Besitzer der Diskothek.

„Hey, was machste?“ Miriam beobachtet, wie Joshua, die Zigarette im Mund (genauer: Mundwinkel) in diesen ekelhaft schwarzen Ledersessel sinkt. Er reibt sich mit beiden Händen erschöpft durchs Gesicht. Dann schaut Joshua zwinkernd hoch. Angeblich knutscht er schwarzhaarige Bettys, die dunkle Ringelshirts tragen, kommt Miriam in den Sinn, man sagt, er steht auf kleine Mädchen mit Indiepartypostern und UK-Fahnen überm Kinderzimmerbett. Was ebenso Gerüchte sein können. „Musst du nicht am DJ-Pult stehen?“ Joshua schüttelt den Kopf. „Hab Pau-se. Ist ‘n Acht-Minuten-Remix.“ Er richtet seinen akurat gebügelten Ben-Sherman-Kragen, renkt sich im Sitzen ein und fragt dann, mit Anlauf: „Fahren wir später wohin?“ Miriam blickt zur Tanzfläche, wo Kay Shanghai einen jungen Billy-Talent-Fan auf den Mund küsst. „Ich überlege es mir.“ – „Cool. Ich komm‘ dann mit den Taschen.“ – „Ich habe gesagt: ich überlege es mir.“ Miriam lacht. Joshua ist bereits aufge-standen und auf dem Weg zurück, Platten spielen.

„Paulo schaut total süß aus, die ganze Nacht, und er hat nur einmal kurz geweint“, schreibt Julia um viertel vor fünf, „ich penne jetzt auch, lass‘ Dir Zeit.“ – „Sagste deine anderen Rendezvous gerade ab?“ Joshua steht, den Platten-Trolley festhaltend, hinterm Barhocker. „Magste?“ fragt er und schnippt eine Camel aus dem gelben Softpack. Miriam schüttelt den Kopf und schaut leicht irritiert, weil Joshua schon wieder eine Frage gestellt, ihr aber keine Zeit gegeben hat, diese Frage zu beantworten. „Bist du noch bereit für eine kleine Fahrt?“ Da – schon wieder! „Gib mir zwei Minuten, ja?“

Wenig später rollt Joshuas Opel Corsa unter mattgelbem Bogenlampenlicht Richtung Peripherie. Fahrtwind, durchs Fenster wehend, brennt in Miriams müden Augen. Der Himmel atmet ein, atmet aus. Sie weiß nicht, wohin diese halb aufgenötigte Reise gehen soll. „Können wir das Radio anmachen?“ (Bitte.) Diese Frage soll eine Art Zweifel ausdrücken. Der Satz „mir ist unwohl“, fettgedruckt, wäre angemessener. Der junge Mann hat die Beifahrertür beim Einsteigen nicht aufgehalten, sondern von seiner Seite aus nur „ist zentralverriegelt“ rübergerufen. „Bist du betrunken?“ fragt Miriam. „Immer erst nach, niemals während der Party!“ hat er, angeberisch, geantwortet.

„Geht gerade nicht“, sagt Joshua jetzt und meint das Radio. „Wohin fahren wir?“ fragt Miriam. – „Biste kaputt?“ – „Klar. Du nicht?“ – „Ich bin die ersten Stunden nach‘m Set aufgekratzt. Immer.“ – „Na dann.“ Sie fahren raus, auf einen Zubringer, Richtung Autobahn. Gemeinschaftlich fühlt sich das nicht an. „Vielleicht, weil du was erlebst, da hinten, am DJ-Pult?“ fragt Miriam. „Erlebst du nichts?“

Das könnte jetzt ein schönes Bild sein, auf die Autobahn rauf, aus dem stickigen Club hinaus, ins Freie, dem Sonnenaufgang, helleren Zeiten entgegen, aber Miriam wird, während die Leitplankenpfosten an ihr vorüber tracken still, fast beklommen. Sie findet die letzte Frage unfair. Es muss doch klar sein, dass man da vorne, am Eingang nichts erleben kann, außer Flirtversuche parieren, Rabatt abblocken, mit den Türstehern schäkern, aus Höflichkeit.

„Sagst ja nichts.“ Die junge Frau wird immer stiller, während der Drehzahlmesser am Armaturenbrett verrückt spielt, „du musst schalten“, denkt sie und Joshua langt mit einem beherzten Griff nach unten, zum Knüppel, wuchtet ihn in den vierten Gang, streckt seinen Arm tiefer, weiter Richtung rechts, nun zu Miriams Oberschenkeln, zu ihrem längst hochgerutschten Kleid. „Kerl, was machst du?“, denkt sie und weiß natürlich, was Joshua gerade macht; „lass das“ möchte Miriam eigentlich denken. Aber nicht mal das klappt selbstüberzeugend. Da! Seine Hand schnellt wieder zum Knüppel, in den Fünften. Joshua zwinkert Miriam zu, fährt die Seitenfenster elektrisch, von seiner Türkonsole aus nach oben. Er lächelt plötzlich so cineastisch, dass sie ihm verzeiht. „Du bist süß“, sagt Miriam, schüchern, quasi in Kleinbuchstaben, „hab‘ dich gern.“ Eigent-lich meint sie: „Du bist sehr ungeschickt.“ Da schaltet er doch das Radio an (funktioniert es wieder?) und tippt auf CD-Modus. Sie hören Hard-Fi, „Suburban Knights“. „Was trinken?“ fragt Joshua, hält Miriam einen Flachmann unter die Nase. Sie nickt, greift nach dem Silbergefäß, riecht Apfelkorn, „ist das Apfelkorn?“ fragt sie, „Calvados“, sagt er. „Komisches Frühstück.“ – „Immerhin Frühstück…“ – „Weißt du“, sagt sie, „das ist für mich gerade neu.“ „Was genau?“- „After Hour machen, mal wieder.“ Joshua setzt den Blinker, wechselt auf die rechte Spur, verlangsamt die Reise, biegt auf einen kleinen Rastplatz ein. „Eigentlich müsste ich schon zu Hause sein.“  Der Wagen rollt aus. „Bei meinem Kind.“ Joshua schlägt das Lenkrad ein, kuppelt aus, zieht die Handbremse hoch. „Hast du gehört?“ Er schnallt sich ab. „Miriam…“ – „Ja?“ Wohin mit dem verdammten Flachmann? „Ich möchte jetzt nicht küssen“, denkt sie. „Komm, gib her“, sagt Joshua.

Irgendwann, im Grundschulalter, nahmen Miriams Eltern die Kleine zum Brunchen mit. Vaters Vorgesetzter, Chefarzt am örtlichen Krankenhaus, jemand, der von gläubigen Patienten als „Koryphäe“ bezeichnet wurde, hatte das Ehepaar eingeladen, wie jedes Jahr zur Weihnachtszeit, aber jetzt, zum ersten Mal, mit Kind, mit „eurem Mädchen“. In gediegenem Villenambiente, bei ihm daheim, zwischen Tannenbaum und Floristendekor sollte die vorangegangene Stations-Weihnachtsfeier mit familiären Mitteln weitergeführt werden. Der junge Assistenzarzt Körberich war ebenfalls anwesend, im rabattierten SSV-Markenanzug, fröstelnd. Im Hinter-grund lief eine Weihnachtsschallplatte, natürlich Vinyl. Der Thorens-Apparat stand neben einem wuchtigen Tonbandgerät, dessen Form Miriam zunächst nicht einordnen konnte. Ein schwarz polierter Flügel heischte auf dem gewienierten Podest um erfurchtserbietende Aufmerksamkeit. Die vorbereitete Lachsplatte roch nicht nach Plastikverpackung, Industriesalzlake, sondern nach skandinavischem Meerwasser. Das Zimtgebäck kam vom Konditor. „Bitte, greifen sie zu“, forderte die Gastgeberin auf und obschon Miriam wenige Erinnerungen an diesen Vormittag abgespeichert hat; diese höflich trainierte Stimme der Mittfünfzigerin gehörte dazu, in ästhetischer Kombination mit dem ebenfalls gespeicherten Geruch eines schweren, sehr teuren Parfüms. „Na, junge Dame, was möchtest du denn trinken?“ In Kreisen wie diesen werden Kinder wie kleine Erwachsene behandelt, angesprochen, erzogen, wie übriggebliebene Vorbilder mittelalterlicher Tableaus. Dass diese Ansprachen keine Nähe, sondern Distanz markieren, „junge Dame“, das wissen diese Menschen selten. Sie ahnen es nicht einmal, ob-wohl sich die Kleinen nach diesen Fragen schneckengleich verziehen, meistens großäugig, schüchtern, schweigen. „Miriam trinkt gern Kakao“, sagte Mama und streichelte ihrer Tochter über das glänzend gebürstete Haar, „nicht wahr?“ Dieses „Nicht wahr?“ war eine rhetorische Frage, selbstverständlich. Undenkbar, dass Miriam jetzt „nein“ gesagt, protestiert hätte. Mamas Streicheln, über Miriams Haare, war eher als Ermahnung gemeint, „schön still sein, Kleine.“ Kinder merken das. Der heiße Kakao kam wenige Minuten später in einer großen Milchkaffeeschale. Miriam empfing das Getränk geradezu demütig, trug es vorsichtig zum Tisch und nippte zaghaft. Heiß! „Alles in Ordnung?“ fragte Mama. Und Miriam nickte brav. Obwohl es scheußlich, obwohl es bitter, obwohl es wie alles schmeckte. Bloß nicht wie Kakao.  Später, im Unterstufenalter, erfuhr Miriam, dass Trinkschokolade gezuckert wird, das pur-ölige Kakaopulver, zum Backen verwendbar, jedoch nicht, dass es deshalb so bitter schmeckt. An jenem Weihnachtsvormittag erschien es Miriam undenkbar, zu protestieren. Sie trank tapfer und glaubte, eine Schale fetten Lebertrans hinabwürgen zu müssen.

Damals… „Komm, gib her.“ Als Joshua das sagt, erinnert sich Miriam schaudernd an diese Adventsszene, an den widerlichen Backkakaoge-schmack, an das Gefühl, dass es eigentlich eine einfache Lösung geben müsste für das Ganze, einen Ausweg. Nur welchen? Joshuas Greifen, nach dem Alkohol, erscheint jetzt als Spiegelung des Bildes, auf dem Miriam die dampfende Kakaoschale empfängt. Aber dieses Mal sagt sie: „Bitte, nimm! Ich mag das sowieso nicht, Calvados und das Ganze, hier.“ Dann öffnet sie die Autotür, steht auf und geht, im diesigen Morgendämmer, über den Rastplatz, dorthin, wo die weiten Felder anfangen.

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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  1. […] „Mama, Arm!“ Paulo hockt auf dem weiß gekachelten Badezimmerboden. Er zettelt, zupft und zerrt weinerlich an Miriams Jeans. „Bin gleich bei dir, Schatz“, besänftigt sie den Zweijährigen. „Nur ein paar Sekunden, ja?“ – „Mag ich nicht.“ – „Ich mag auch vieles nicht, Paulo.“ Mit der rechten Hand tupft Miriam Lipgloss auf ihren Mund. Die Sterne verteilen sich ungleichmäßig, als schimmernde Inseln. „Ich sehe heute wie ein Flittchen aus“, denkt sie, langt, während Paulo versunken mit dem Plüschvorleger schmust, nach einem frischen Handtuch und wischt alles ab.  Sie kontrolliert ihren Scheitel im Badezimmerspiegel, quittiert kritisch den dunkleren Ansatz. „Seitdem der Junge da ist, fühle ich mich immer halbfertig, nach Montagmorgen“, denkt sie, „für nichts finde ich Zeit.“ Miriam kniet nieder, um ihren Sohn auf die Stirn zu küssen. (Hier geht es zum kompletten Text) […]

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