Texte werden auf besondere Weise inszeniert im Wiener Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek – auch mit kuriosen Exponaten, denn „das ist eine Ausstellung und kein Buch, und auch kein literaturwissenschaftlicher oder literaturhistorischer Essay“, sagt der Leiter Bernhard Fetz. (Das Beitragsbild ist von der Homepage des Literaturmuseums, hier)
Im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek sind unter anderem zu betrachten: Wanderstöcke von Peter Handke, das Arbeitsheft von Marlen Haushofer zu „Die Wand“, ein Brief von Ingeborg Bachmann an Paul Celan, die Fieberkurve des Patienten Franz Kafka oder auch ein Theaterzettel zur Erstaufführung von Wolfgang Amadeus Mozarts „Die Zauberflöte“ am 30. September des Jahres 1791. Auf die Reise mitgenommen werden wir von Bernhard Fetz, dem Leiter dieses Museums, der beginnen wird mit einer Vorstellung der imposanten Räume, die besichtigt werden können im 1. Wiener Gemeindebezirk.
„Hier waren die Finanzakten der österreichisch-ungarischen Monarchie aufgestellt, nach Kronländern geordnet und bis ins 18. Jahrhundert zurückreichend. Franz Grillparzer, das war der bedeutendste Dramatiker des 19. Österreichischen Jahrhunderts und auch einer der Klassiker, obwohl ihn heute kaum mehr jemand kennt, war hier Hofkammerarchivdirektor. Schönes, langes österreichisches bürokratisches Wort. Und hat hier geschrieben und gelitten und dieses Direktionszimmer ist Teil des ganzen Ensembles. Das ist ein denkmalgeschütztes historisches Verwaltungsarchiv und das wurde 1848 im Revolutionsjahr bezogen. Von außen, wenn man Wien kennt, sieht’s aus wie ein Palais. Es war aber ein Archiv. Und dann war eben die Frage, was macht man mit so einem sehr auch theatralischen Raum als die Akten abgesiegelt wurden aus konservatorischen Gründen – und wir haben von der Nationalbibliothek den Vorschlag gemacht, wir machen hier ein Literaturmuseum rein und machen es aber ganz anders auch vielleicht als vertraute Dichterhäuser oder andere Museen, die in modernen White Cubes untergebracht sind oder in architektonisch neuen Räumen – und versuchen auch, das zu inszenieren.
Franz Kafka: Sterbehaus Kierling
Man hört bereits im Hintergrund eine Toncollage und man sieht die ersten Exponate, bei denen sich der Leser fragen wird, was eben diese ersten Exponate mit Literatur zu tun haben: Wir sehen eine Schellackplatte, wir betrachten staunend ein Springseil und eine Plakette ist ausgestellt, auf der steht: „Franz Kafka: Sterbehaus Kierling“. Bernhard Fetz ordnet diese ersten Schaustücke ein:
„Zu jedem dieser Objekte kann man Geschichten erzählen, also die angesprochene Schellackplatte hat der Emigrant Hermann Broch in Amerika besprochen mit dem Beginn seines Romans ‚Verzauberung’. Was er da liest kann man dann an anderer Stelle im Museum auch hören. Das Springseil diente während des Ersten Weltkriegs zur Ertüchtigung der Offiziersanwärter, der österreich-ungarischen Monarchie, die mussten ihre Sprungkraft trainieren, um sich ohne am Sattel oder Pferd festzuhalten aus dem Stand aufspringen zu können. Diese Springschnur stammt von einem österreichischen Schriftsteller, Alexander Lernet-Holenia, aber auch Heimito von Doderer, der große Wien-Romancier mit der Strudelhofstiege hat so eine Springschnur verwendet. Was mir auch gut gefällt ist Thomas Bernhard, also der ja wahrscheinlich bekannteste österreichische Autor nach 1945. Wir sehen hier zerfetzte Arbeitshosen. Bernhard hat sich in vielen Rollen gezeigt und es gibt Fotos. Unter anderem hat er sich auch als Bauer und Förster weiter gesehen in Oberösterreich. Und hat sich Anfang der 70er Jahre beim Versuch, mit einer Motorsäge Holz zu schneiden oberhalb des Knies verletzt. Und einer seiner besten Bekannten, Freunde, ein Immobilienmakler Ignaz Hennetmair von dem hat er auch seine Häuser gekauft, der hat diese Hose wie eine Reliquie an sich genommen, hat sie auf so querformatige Kartons aufgeklebt und hat sie beschriftet und hat draufgeschrieben: Hier drang die Säge oberhalb des Knies in das Bein des Dichters und so weiter.“
Wie ein Sturmwind aus Süden
101 Objekte und Geschichten – so ist der Katalog der Wiener Literaturmuseums betitelt, und dort bekommt man einen ersten Eindruck von der Besonderheit der ständigen Ausstellung. Die begnügt sich nicht mit faksimilierten Manuskriptseiten, mit jenen literaturwissenschaftlichen Traktaten, die in anderen Ausstellungen dieser Art zu sehen sind. Es gibt zwar auch zu sehen: Die Korrekturfassung von Hugo von Hofmannsthals legendären „Chandos-Brief“ von 1902, in dem ein junges Dichtergenie klagt: „Es ist mir völlig die Fähigkeit abhandengekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ Damit steht der erfundene Autor Lord Chandos in Differenz zu den Ausstellungsarchitekten in Wien. Denn ihnen gelingt es beispielsweise, einen Zauberstab der Batak auf Sumatra in einen Sinnzusammenhang zu bringen mit der allgemeinen Inszenierung von Gefahr oder Exotik in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts. Bernhard Fetz:
„Und dann beginnt’s eben in einer Verschränkung von thematischen und historischen Kapiteln. Hier mit Aufklärung, Biedermeier in einem österreichisch-deutschen Kontext ist das sehr interessant und auch witzig, sich das vor Augen zu halten. Ende des 18. Jahrhunderts hat der berühmte Reformkaiser Joseph der Zweite, der auch auf deutsche Autoren eine Sogwirkung ausgeübt hat, weil Wien da plötzlich als Hort der Aufklärung und Freiheit erschien, in den 1780er Jahren, hat hier die Zensur aufgehoben und wie ein Sturmwind heißt es hier in einem zeitgenössischen Bericht, wie ein Sturmwind aus Süden haben sich so Broschüren auf den Straßen Wiens ausgebreitet, die oft einen ganz surrealen oder fast dadaistischen Charakter haben.“
Die Philosophie der Modeschnallen
Diese Broschüren wurden billig verkauft auf den Straßen Wiens, und sogar religionskritische Texte konnten hier angeboten werden, die Titel trugen der Art: „Wie wird der Antichrist aussehen. Blau oder grün?“, oder „Lobgesang an den Teufel“ und von 1781: „Die Philosophie der Modeschnallen“. Ebenso ist hier zu sehen das von einem Joseph Richter verfasste „Taschenbuch für Grabennymphen“, ein satirischer Text von 1787, der den Prostituierten am Wiener Graben – sogenannte „Maximen und Lehren zu Verdienstmöglichkeiten und professionellem Verhalten in Form eines Kalenders erteilt“. Da fragt man sich unweigerlich: Was hat diese Handreichung für Prostituierte aus dem späten 18. Jahrhundert mit Literatur zu tun? Bernhard Fetz erläutert:
„Literatur ist ja mehr als ein einzelner Roman oder als der klassische Kanon. Dieser Joseph Richter, von dem das stammt, war Schriftsteller. Das ist ein satirischer Text, der mit literarischen Mitteln arbeitet, natürlich die Doppelmoral aufgreift, der durchaus auch zur Sittenverbesserung beitragen möchte, gleichzeitig gewissen Skandaleffekt erzielt. Wir stellen sehr viele Themen oder Autorinnen und Autoren in kulturhistorische, politische und auch ästhetische Kontexte.“
Das Wiener Literaturmuseum ist Teil des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek. Dort werden die Nachlässe und Vorlässe und Sammlungen österreichischer Autorinnen und Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts archiviert. Aus dieser Sammlung und aus weiteren Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek werden die Ausstellungen im Museum bestückt. Es gibt zahlreiche Leihgaben von weiteren österreichischen und auch von internationalen Archiven – weil die österreichische Literatur – gerade die habsburgische – in einem gesamteuropäischen Kontext steht. Sie ist vielsprachig, sie ist multimedial, es gibt Doppelbegabungen, man trifft auf Künstler, die ebenso gut zeichnen wie schreiben konnten.
Eindrucksvoll ist vielleicht das Stehpult
Musik spielte eine ganz große Rolle. Man denkt hierbei möglicherweise an die Oper „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss mit dem Libretto Hugo von Hofmannsthals, der durchaus das Format hat zum Nationalschriftsteller – doch gebührt dieser Ehrenplatz seit dem 19. Jahrhundert einem anderen, vor allem als Dramatiker bekanntgewordenen Autor, nämlich Franz Grillparzer, der, wie vorhin bereits angemerkt, an jener Stelle wirkte, wo jetzt das Literaturmuseum beheimatet ist; und sein Arbeitszimmer kann eben hier besichtigt werden.
„Eindrucksvoll ist vielleicht das Stehpult. Also: der österreichische Beamte Grillparzer hat, wie es sich gehört für einen österreichischen Beamten, gelitten unter der Fron seiner Tage und dass er seiner Bestimmung, dem Schreiben, nicht so nachkommen konnte, wie er wollte. Er hat im Stehen geschrieben. Er hat nachweislich in seiner Arbeitszeit geschrieben – und dahinter ein Schreibtisch mit einem Aufbau, wo die Akten abgelegt waren und wir demonstrieren das auch: wenn man etwas aus diesem Hofkammerarchiv wollte, und Einsicht nehmen wollte und nach 1848 hat sich sowas wie öffentliche Nutzung, ein Publikumsverkehr auch entwickelt, dann gab’s einen großen Aktenlauf. Grillparzer hat zugestimmt, aber das ging bis in die Vorzimmer des Kaisers. Und dann gibt es natürlich ein Sofa, beziehungsweise einen Besuchertisch. Es gibt über dem Stehpult ein Kruzifix. Und der Blick, den Grillparzer hatte, der ist interessant, weil er eben auf diese Regalreihen mit den Finanzakten hinausgeht und wir haben dieses „Grillparzer als Beamten“ und als wirklich auch großen Schriftsteller hier etwas inszeniert.
Handkes Held in unbekannten Gegenden
Nachdem wir die Melancholie kennengelernt haben hören wir nun aber Rockmusik aus dem Jahr 1969. Da stellt sich unweigerlich die Frage, weshalb in direkter Nähe von Grillparzer nun „Drei amerikanische LPs“ zu sehen ist, der erste Film, den der Regisseur Wim Wenders mit Peter Handke gedreht hat.
„Also gut, wir haben uns schon ein bisschen von Grillparzer wegbewegt und stehen jetzt in einem Kapitel, das wir Imaginationen des Fremden genannt haben. Ein ganz wichtiger Punkt ist der Wilde Osten. Galizien hießen diese Kronländer, Galizien, Bukowina, und man muss sich vorstellen, was für einen Eindruck diese in ihre Kaftane gekleideten zum Beispiel ostjüdischen Menschen auf den Straßen Wiens gemacht haben. Da gab es viele Ressentiments. Es gab auch Anfeindungen der assimilierten jüdischen Bevölkerung in Wien. Und das thematisieren wir hier. Also, ein bisschen der Wilde Osten. – Und Handke war in Amerika. Eines meiner Lieblingsbücher von Handke ist „Der kurze Brief zum langen Abschied“ von 1972 – wir haben hier eine Karte eingezeichnet, und daneben hängt ein Brief von Peter Handke an seinen Freund, den legendären Herausgeber der Literaturzeitschrift ‚Manuskripte’, Alfred Kolleritsch, wo er sagt: ‚Bis hierher bin ich gekommen. Ja, ich schreibe ziemlich heftig. Eine zeitlang hat es in Provedence gespielt, dann in New York und Philadelphia, dann ist mir das auf die Nerven gegangen und habe den Helden in mir unbekannte Gegenden geschickt.’“
Doppelbegabungen in der österreichischen Literatur
Das ist, in Differenz zu Kafkas „Amerika“, der nie dort gewesen ist, die Amerika-Imagination Peter Handkes, Und man hat das Gefühl, ein Road-Movie zu sehen, das irgendwo im Mittleren Westen der USA spielen könnte, aber tatsächlich sehen wir Bilder aus dem Umland von Köln. – Womit wir einige Meter weiter in der Geschichte zurückgehen, zu einem anderen österreichischen Künstler, dessen Doppelbegabung bis heute staunen macht, denn nun steht man vor dem „Rosenhaus“, gebaut nach Adalbert Stifters „Der Nachsommer“.
„Sie haben gerade von den Doppelbegabungen gesprochen, und das ist wirklich ein Phänomen in der österreichischen Literaturgeschichte, dass so viele Autorinnen und Autoren sich auch noch auf anderen Gebieten hervorgetan haben – und Stifter war Maler, war Dichter als Maler und Maler als Dichter – das sind beispielsweise Skizzen Stifters. Stifter hat sich auch sehr stark für konservatorische Belange eingesetzt. Man könnte ihn auch als einen der Ahnherren der Denkmalpflege ansehen. Und dieses Modell ist eine Leihgabe der Technischen Universität München – in den dreißiger Jahren gab es einen Stifter-Afficonado, der Pläne gezeichnet hat nach Stifters großem Roman „Der Nachsommer“. Jedenfalls: dieses Rosenhaus spielte eine ganz besondere Rolle und ist bis zum ersten Stockwerk von Rosen bedeckt. Sehr viel später haben Studierende der TU München nach diesen historischen Plänen aus den 30er Jahren das in ein Modell umgesetzt. Das ist nachgebaute Literatur.“
Das ist eine Ausstellung und kein Buch
Wenn man durch die Regalarchitektur des Literaturmuseums in Wien schlendert, Filme auf Bildschirmen ablaufen sieht, Tondokumente hört, die Stimmen unterschiedlicher Dichterinnen und Dichter, wenn man sich zu jeder der beinahe zu Reliquien erhobenen Exponate beugt, entsteht unweigerlich der Eindruck echter Überfülle. Dieses Museum inszeniert Literatur – und zum Abschluss dieses Rundgangs, in dem nur einige wenige Stellen besprochen werden konnten, bleibt die ketzerische Frage, ob es sein kann, dass hier auf engstem Raum allzu viel ausgestellt wird. Bernhard Fetz hat eine klare Antwort:
„Das ist eine Ausstellung und kein Buch – und das ist eine Ausstellung und keine Literaturgeschichte und auch kein literaturwissenschaftlicher oder literaturhistorischer Essay – und ich sage das ganz bewusst, und auch provokant: Wir inszenieren Literatur mit Bildern, Zitaten, Tönen, und was die Fülle anbelangt, die ist natürlich durch diese Regalstruktur und durch die Räume vorgegeben, aber erstens sollen die Leute auch beim dritten oder beim vierten Mal hier noch was entdecken können, dann war es wirklich der Anspruch, was für alle zu machen, also: es gibt von Ernst Jandl, dem großen Lyriker, der ja zu seiner Zeit eine große Breitenwirkung hatte, den schönen Slogan: „Mein Tisch ist gedeckt für alle.“
„101 Objekte und Geschichten“, herausgegeben von Bernhard Fetz, Jung und Jung Salzburg/Wien, 280 Seiten, 24,90 Euro