„Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.“ (Martin Heidegger: „Vorträge und Aufsätze, Bauen Wohnen Denken)
Grenzen können gesetzt und übertreten werden. Grenzenlos fühlen wir uns, wenn wir verliebt, wenn wir frei sind. An Grenzen treffen oft zwei Welten, zwei Ideen, zwei Identitäten aufeinander. Es gibt bewachte oder unbewachte Grenzen. Manchmal haben wir Sehnsucht nach einer Grenze. Und manchmal verfluchen wir auch alle Grenzen, die uns gesetzt werden.
Ich habe mir für euch eine ganz spezielle Grenze angeschaut, die Grenze zwischen Bochum und Herne, eine freundschaftliche Grenze, ein grüner Streifen, der zwei Ruhrgebietsstädte aneinander setzt. Ich bin die Strecke von Westen nach Osten, von Falk-Stadtplanquadrat D87 bis B97 abgegangen und -gefahren. Ein kleiner Erlebnisbericht über das Nicht-Erleben:
„Da hinter der Halde quasi“, sagt der alte Herr, rückt seine Schiebermütze zurecht und deutet über das weite, abgeerntete Feld, „da beginnt sie, deine Stadtgrenze, direkt am Friedhof.“ Dann dreht er sich weg und fegt das Bürgersteigstück vorm Haus. Im Blick sind jetzt nur ein kleiner Ackerweg und blauer Himmel über dem Knotenpunkt Gelsenkirchen-Bochum-Herne. Es ist früher Vormittag, ein Freitag mit eisigem Wind und Fishermans Friend frischer Luft. Im Gras liegen immer noch versprengte Böllerreste von Silvester, Knallteufel, Super-Silber-Kaskaden. Über dem Wirsingfeld kreisen Krähen. Die Rauchschwaden weiter hinten, das ist Bochum. Der Motorsägenlärm von vorn, weist Richtung Kommunalfriedhof Günningfeld, dem ersten Ereignisort unserer Grenzwanderung.
Dramaturgisch gesehen ist dieser Ort perfekt, weil unspektakulär. Hier, wo nur ein paar Gärtner im Holz arbeiten und das Surren der Hochspannungsmasten beruhigend wirkt, kommen die einst lebenden Bochumer und Herner im Tode zusammen. Doch wer vorher in welcher Stadt gewohnt hat, kann man nicht erkennen. Bis zur ersten Siedlung ist es ein gutes Stück zu Fuß, aus dem Friedhof raus, die gelbe Schranke passierend, durch den Matsch, tatsächlich über eine Halde, Richtung Hochwasser-Rückhalltebecken Hüller Bach, am Herner Tierheim vorbei.
Das zweite Ereignis hat ebenfalls mit Tod zu tun, wie der Friedhof zuvor. Es ist die stillgelegte Zeche Hannover, das Erholungsgebiet am Malakow-Turm, wo Hunde freien Auslauf und Ruhrpott-Nostalgiker mit der „Route Industrie-Natur“ einen Wallfahrtsort aufsuchen können. Tafeln informieren, dass hier einst Felder, Wiesen und Äcker waren, später Zechen, Bergehalden, Stahlwerke und Deponien. Und nun, nun sind es eben wieder Felder, Wiesen, Äcker und ein paar Gebäude die außerhalb ihrer Öffnungszeiten verlassen an hochindustrielle Zeiten erinnern. Eine Grenze, die findet man hier nicht, nur eine Erinnerung, die viele Herner mit noch mehr Bochumern teilen, die Erinnerung an harte Arbeit unter Tage.
Auf dieser Grenze, weiter im nächsten Wohngebiet, stehen nicht nur Trinkhallen, kleinere Geschäfte, viele Mietshäuser, sondern auch ein verlassener Bretterverschlag in blau weiß, der VFL Fan-Club Bochum-Hordel, Sichtweite Malakowturm. Das Dach fehlt ebenso wie jeder Hinweis, ob hier etwas aufgebaut oder abgerissen wird. Wenige Meter weiter bremst ein getunter Golf an einer der vielen Straßenschwellen, doch er hält nicht an, man kann nicht nachfragen. Überhaupt ist alles leer, verlassen. Mittagszeit. Die Leute sitzen am Essenstisch, die Grenze scheint unbewohnt.
So geht es weiter, den gesamten Tag über trifft man auf vereinsamte Stellen. Da ist eine ehemalige Bochumer Wohnunterkunft Richtung Hiltroper Landwehr, nur noch Backstein und Beton, die Türen mit Spanplatten verriegelt. Ein streunender Hund verrichtet kläglich sein Geschäft auf einem kleinen Rasenstück. Wenige Autominuten weiter erinnert ein Kreuz am Fahrbahnrand an Gregor und Marcus, die am 17. Januar 2004 hier verunglückt sind. Verwelkte Blumen stehen neben roten Tulpen, einem kleinen Zierkürbis. Selbst am Ende der Strecke verläuft sich ein Waldweg im Nichts.
Ist sie also tot, die Grenze zwischen Bochum und Herne? Nein, wahrscheinlich weniger. Aber sie behält keine Relevanz. Auch wenn Identitäten aufeinanderprallen mögen, man bemerkt es nicht am roten Grenzstrich im Stadtplan. Im Ruhrgebiet gibt es bekanntlich keine wirklichen Städtetrennungen, alles wird eine große Megacity. Somit war der Spaziergang entlang unserer Planquadrate nur ein kleiner Einblick in zwei Viertel einer Metropole, der Metropole Ruhrgebiet. Und dass nicht alles gestorben, das parallel auch viel Leben gefunden werden kann, zeigen die netten Menschen, die wir auf diesem Wege dann doch gefunden haben.