Manchmal reicht ein ICE-Ticket 2. Klasse, gebucht am Wuppertaler Hauptbahnhof, um die frühlingstypische Sonntagsschläfrigkeit in große Begeisterung zu verwandeln. Heute wurde im Schauspiel Frankfurt das eben dort seit einem Jahr erfolgreich laufende Stück „Kunst“ von Starautorin Yasmina Reza gegeben, in einer Inszenierung, die selbst der stets grantelnde F.A.Z.-Theatergroßkritiker Gerhard Stadlmaier (man muss sich nur einmal dieses Bild hier ansehen) nicht in den Boden stampfen wollte – wie es scheint mitgerissen von der reinen Freude, die alle Zuschauer auch an diesem Sonntag hatten. Um Stadlmaier mit seinem Text aus dem Mai 2014 zu zitieren: “Und spätestens dann, als dies dem Glücks- und Glucksgelächter im Publikum über die Pointen im Text des Stücks keinen Abbruch tat, spürte man, dass Yasmina Reza jetzt endgültig den Status einer Klassikerin erreicht hat.“ (Bilder unten: Birgit Hupfeld)
Das Stück, 1994 uraufgeführt, mittlerweile in über 40 Sprachen übersetzt, erzählt von drei alten, bürgerlichen Freunden: Luftfahrtingenieur Marc (gespielt von Wolfgang Michael), ein Verfechter des Alten und Kanonischen, eine konservative Thomas-Mann-Figur, die es vom Zauberberg in die Moderne verschlagen hat. Dann Serge (gespielt von Martin Rentzsch), seines Zeichens Kunst sammelnder Dermatologe und rein äußerlich angelegt wie eine Karikatur des Bunker besitzenden Werbemannes Christian Boros, tätig im Jetzt stehend, aber tragischerweise in einem Jetzt, das ihm das neueste iPhone oder eben besonders belanglose Malerei andrehen will. In diesem Fall ist es eine weiß grundierte Leinwand, auf die drei weiße Striche aufgebracht sind.
Kostenpunkt für „diese weiße Scheiße“, wie es Marc zu Beginn bereits von oben herab benennt: 100.000 Euro (im Original 200.000 Francs). Vermittelnd zwischen Serge und Marc steht der glücklose Papierhändler Yvan (Sascha Nathan), der nach vertändelten Jahren als steter Hagestolz bald einfahren wird in den Hafen der Ehe, um Kinder zu zeugen, um sich auf den Tod vorzubereiten, um endlich abzuschließen mit allem Neuen, Kontingenten, Unvorhersehbaren.
Drei Freunde sind ein Topos in Literatur, Film, Kunst, Musik. Man denkt an die drei Musketiere oder etwas elaborierter vielleicht an die Dreifaltigkeit, an die Dreiheit der Götter Zeus, Poseidon und Hades, die sich die Herrschaft über Menschen und Götter aufgeteilt habe, oder ganz banal: an „Die Drei ???“, an den Film „Drei Mann in einem Boot“ mit Heinz Erhardt, Hans-Joachim Kuhlenkampff und Walter Giller. Drei bilden eine Harmonie, etwas Eingeschworenes, Unzertrennliches. Bei Yasmina Reza werden sich dagegen drei Freude zerstreiten und so scharf beleidigen, dass nicht einmal Halt gemacht wird vor Familie, Gattin, Lebensträumen der Anderen.
Sie keifen und wüten und schimpfen und plustern sich auf. Serge und Marc sind extrem narzisstische Charaktere, die ihren Hahnenkampf über die Bedeutung des sündhaft teuren Gemäldes sogar körperlich austragen und stets den fragilen, seit sechs Jahren in der Psychoanalyse Rat suchenden Yvan nötigen, Position zu beziehen. Ein jeder kommt mit seiner Argumentationsweise ans Ende aller Plausibilität und die Form, in der die „Freunde“ ihre Meinungen vorbringen lässt zum Ende vollends unwichtig werden, ob möglicherweise einer Recht haben könnte. Sie scheitern alle an eben jener Kommunikationsunfähigkeit, die Yasmina Reza immer wieder in ihren Stücken auszustellen weiß: Man muss nur Roman Polanskis großartige „Der Gott des Gemetzels“-Verfilmung mit Christoph Waltz anschauen. Hier wie dort attestiert jeder dem anderen eine Erbärmlichkeit, die ihm selber allzu eigen ist.
Natürlich erhellt es den Tag, wenn sich wie in Frankfurt drei Schauspieler vom Publikum befeuern lassen und in überzeichneter Manier Selbstrechtfertigung betreiben. Passend ist, dass ausgerechnet Senecas Buch über das glückliche Leben herangezogen, als höchst moderne Lektüre bezeichnet wird, die „man“ gelesen haben muss. Passend ist es, weil es Seneca war, der in „De vita beata“ seinen dekadenten Lebensstil rechtfertigte, nachdem er für seine Verschwendungssucht angefeindet worden war. Auch er gelangte, wie die drei Freunde in „Kunst“, an die Grenzen seiner Kommunikationsfähigkeit – und wurde von Nero verurteilt, sich selbst zu töten. Diese Auslöschung der eigenen Identität soll auch in Yasmina Rezas Stück den Status quo herstellen. Doch während Seneca tatsächlich starb, ist die Lösung auf der Bühne von einer ganz und gar aktuellen Mentalität, die Slavoj Žižek unsereins unterstellt: Bier ohne Alkohol, Fleisch ohne Fett, Kaffee ohne Koffein.
Doch nicht nur aus diesem Grund ist Yasmina Reza weiterhin interessant, die Frankfurter Inszenierung sehenswert: Reza gehört nämlich zu jenem (Theater-)Autorentyp, auf dessen Spuren ich mich in den kommenden Monaten begeben möchte, für den Rolling Stone und für die Sendung BR 2 Zündfunk (allein der Frankfurter Besuch war rein privater Natur). Ich suche nach dem neuen Autorentheater, nach der Figur des Autors und dessen unterschiedliche Bedeutung oder auch Wahrnehmung in Literatur, Musik, Film, Theater. Ich suche nach etwas Neuem.
Es gibt viele Schriftsteller, die aus dem Theater kommen, wie Hartmut Lange, über den ich meine Dissertation schreibe – aber auch der gerade bei Rowohlt veröffentlichte Dirk Laucke oder sowieso: Helene Hegemann. Auch gibt es etliche Schauspieler, die sich als Schriftsteller eine Namen machen, wie Robert Seethaler oder Joachim Meyerhoff. Dennoch wundere ich mich, dass der Transfer nicht größer ist, dass im Vergleich dazu viel mehr Musiker von Literaturagenturen und Verlagen gecastet werden – Musiker, die aber selten das poetische Niveau ihrer schreibenden Kollegen von der Theaterbühne erreichen. Deshalb geht es, wenn ich nicht mehr spontane Fahrten nach Frankfurt brauche, um den Sonntag gut zu finden, nach Heidelberg zum Stückemarkt, zu „Radikal jung“ am Münchner Volkstheater – und wohin noch? Das schlagt mir gerne vor und geht zuvor in „Kunst“, fahrt nach Frankfurt, schaut Euch Yasmina Reza an. Es lohnt.
Yasmina Reza: „Kunst“, Schauspiel Frankfurt, ca. 1 Std. 50 Min., keine Pause / Weitere Termine: So 22.03.2015 18.00 Uhr – 19.50 Uhr / Sa 04.04.2015 19.30 Uhr – 21.20 Uhr / Sa 11.04.2015 19.30 Uhr – 21.20 Uhr / Mi 15.04.2015 19.30 Uhr – 21.20 Uhr / Sa 18.04.2015 19.30 Uhr – 21.20 Uhr / Mi 06.05.2015 19.30 Uhr – 21.20 Uhr / Do 07.05.2015 19.30 Uhr – 21.20 Uhr / Regie: Oliver Reese, Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüme: Elina Schnizler, Musik: Jörg Gollasch, Dramaturgie: Sibylle Baschung.