Goethes Liebschaften sind Glücksfall für die Literatur, doch fatal für viele Frauen. Die Liaison zwischen dem Jurastudenten und der Landpfarrerstochter Friederike von Brion führte zu einigen der schönsten Gedichte. Theo Stemmler erzählt auf neue Weise vom Schönsten – und Schlimmsten zugleich.
In seiner uneingeschränkt empfehlenswerten Goethe-Einführung schreibt der Literaturwissenschaftler Peter Matussek im Jahr 1998, dass, wer alle Neuerscheinungen über den Nationaldichter sammeln wollte, jeden Monat ein weiteres Hochregal kaufen müsste. Da verwundert zunächst, dass den babylonisch ausufernden Goethe-Veröffentlichungen aktuell eine weitere hinzugefügt wird unter dem Titel „Goethe und Friederike. Wahrheit und Dichtung“. Darin geht es um die folgenreiche Landliebe des damaligen Jurastudenten Johann Wolfgang Goethe – aber eben nicht nur. Auf hundert Seiten eines schmalen Insel-Bändchens gelingt Autor Theo Stemmler etwas Herausgehobenes, etwas sehr Feines, mit geradezu goethescher Ironie. Deshalb lohnt sich nicht nur der erste, sondern auch der zweite Blick zurück in die Jahre 1770/71.
„Von den zahllosen Interpretationen, Analysen und so weiter, wollte ich Goethe befreien, zurück zu den Originaltexten, die wir ja zur Verfügung haben. Wir haben seine Briefe. Wir haben seine Gedichte, wir haben „Dichtung und Wahrheit“, wir haben Dokumente. Also mit anderen Worten: ich wollte einfach Goethe mal sozusagen nackt präsentieren, fern von aller philologischen Ausdeutung.“
Herausgekommen ist ein amüsant zu lesender Text, der leichtfüßiger ist als die respektable, doch schwerfällige Standard-Biographie von Nicholas Boyle oder das zwar informierte, aber streckenweise zähe Buch „Goethe. Kunstwerk des Lebens“ von Rüdiger Safranski.
Es ist’s wie mit dem Merseburger Bier
Stemmler, der als Anglist geschult sein dürfte im eleganten Zugriff selbst auf das Gewichtigste, steigt kurz vor Goethes Straßburger Zeit ein, und berichtet humorvoll über den geckenhaften 18-jährigen Frankfurter während seines ersten Studienanlaufs. Damals war Goethe in Leipzig, und von seinem Vater finanziell bestens ausgestattet mit stattlichen 100 Gulden im Monat. Zum Vergleich: die Köchin im Hause Goethe erhielt 24 Gulden, die Dienstmagd 18 Gulden – im Jahr! Teenager Goethe verprasst das Geld mit teurer Kleidung nach neuester Mode und täglichen Festmahlen. Stemmler berichtet:
„In einem Brief aus Leipzig an seinen Jugendfreund Johann Jacob Riese schwärmt Goethe von einem gargantuesken Speisezettel: ‚Hühner, Gänse, Truthahnen, Enten, Rebhühner, Schnepfen, Feldhühner, Forellen, Hasen, Wildbret, Hechte, Fasanen, Austern, pp. Das erscheint täglich. Nichts von anderm groben Fleisch – ut sunt Rind, Kälber, Hammel. Das weiß ich nicht mehr, wie es schmeckt.“
In Leipzig wird Goethe scheitern. Todkrank und niedergeschlagen lässt er sich darauf im Frankfurter Elternhaus aufpäppeln, bevor er einen zweiten Anlauf wagt, nun in Straßburg. Am 4. April 1770 trifft er im Elsass ein und steigt ab im Gasthaus „Zum Geist“ im Geistgässel Nr. 15. Sein Studium nimmt langsam Fahrt auf. Am 26. August 1770 berichtet er seiner Frankfurter Vertrauten Susanna Katharina von Klettenberg: „Die Jurisprudenz fängt an, mir zu gefallen. So ist’s doch mit allem wie mit dem Merseburger Bier. Das erste Mal schaudert man, und hat man’s eine Woche getrunken, so kann man’s nicht mehr lassen.“
Blonde Zöpfe, blaue Augen und so weiter
An den ausgewählten Textstellen lässt sich erkennen, wie heiter Theo Stemmler hier den wetterwendischen, den überheblichen, den heißspornigen Jung-Goethe charakterisiert. – Ähnlich wie in Leipzig, besucht Goethe auch in Straßburg einen akademischen Mittagstisch, der von zwei älteren Schwestern geführt wird. Vier Teilnehmer an dieser Runde sollen später wichtig werden, insbesondere für seine schon bald beginnende „Love Story“ mit dem Landmädchen Friederike aus Sessenheim – jenen eine Tagesreise entfernten Ort, den Goethe stoisch Sesenheim nennen wird. Die vier bedeutenden Teilnehmer des Mittagstischs sind Herder, Lenz, Weyland und Salzmann.
„Durch Johann Gottfried Herder lernt Goethe Goldsmith’ Roman ‚The Vicar of Wakefield’ kennen. (…) Der unglückliche Dichter Jakob Michael Lenz wurde später zu einem glühenden Verehrer Friederikes – und in Weimar von Goethe übel verleumdet. (…) Dr. Johann Daniel Salzmann war Goethes Vertrauensperson, an die er zahlreiche Briefe schrieb, die auch über die Sesenheimer Ereignisse Auskunft geben.“
Und der Medizinstudent Friedrich Leopold Weyland war mit Friederikes Familie Brion verschwägert: Seine Schwester ist eine Tante von Friederike. Weyland nimmt Goethe mit zu den Brions, an einem Tag Mitte Oktober 1770. In Sessenheim werden sie von der kompletten Familie des Landpfarrers Johann Jakob Brion empfangen. Theo Stemmler fasst diese Erstbegegnung zusammen:
„Ich will mal so sagen: Goethe war ein Augenmensch. Deshalb darf ich das Visuelle erstmal in den Vordergrund stellen. Er besucht die Familie des Landpfarrers Brion, eines Freundes von Weyland, und spannend ist der Auftritt dann der Familie sukzessive, so beschreibt er es in ‚Dichtung und Wahrheit’ später. Sukzessive treten wie auf einer Bühne auf: Der Vater, die Mutter, die ältere Schwester – später kommt auch der junge Sohn, der Christian, hinzu. So. Aber Spannung geriert er, nochmals – wie in einem Theaterstück, indem er ganz zum Schluss erst Friederike auftreten lässt, und das ist schon grandios, der Eindruck, den er vermittelt. Visuell. Sie ist ein überirdisch schönes Wesen. Ich sage es ein bisschen sarkastisch auch in meinem Buch: streng deutsch. Lange. Blonde Zöpfe, blaue Augen und so weiter.“
Liebe neue Freundin
Goethe verliebt sich in Friederike – und schreibt ihr nach dem ersten Treffen sorgsam gestaltete Briefe im bel parlare, das er bereits in Leipzig gelernt hat von seinem Professor Christian Fürchtegott Gellert, dem Verfasser einer damals hochgeschätzten „Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke der Briefe“. Das klingt bei Goethe dann so:
„Liebe neue Freundin, ich zweifle nicht, Sie so zu nennen. Denn wenn ich mich anders nur ein klein wenig auf die Augen verstehe, so fand mein Aug’ im ersten Blick die Hoffnung zu dieser Freundschaft in Ihrem, und für unsere Herzen wollt’ ich schwören. Sie, zärtlich und gut, wie ich sie kenne – sollten Sie mir, da ich sie so lieb habe, nicht wieder ein bisschen günstig sein?“
Goethe ist – das wird hier deutlich – nicht nur ein Liebender, sondern auch ein Selbstverliebter, geradezu berauscht von seiner sprachlichen Formulierungskunst. Was er gegenüber Friederike betreibt, kann modern als narzisstisches „Love Bombing“ bezeichnet werden. Dazu sagt Theo Stemmler:
„Egal, ob es die gute Schönkopf war in Leipzig oder später unsere Friederike oder später auch Charlotte Buff und so weiter und so weiter: Immer dasselbe. Er ist erstmal – so behauptet er das zumindest, unsterblich verliebt, und dann macht er aber einen Rückzieher. Das ist sicher die Realität, erstmal. Und dann flieht er sogar im Wortsinne. Auch in Bezug auf Friederike.“
Eine Kompromittierung ihrer gesellschaftlichen Stellung
Es wird eine Affäre, die im Frühsommer des Jahres 1771 die höchsten Hoffnungen aufkommen lässt. Der Goethe-Biograph Nicholas Boyle fand vor 25 Jahren deftige Worte für das, was unser aller Nationaldichter in spe in Sessenheim ebenso treibt wie umtreibt:
„Man muß sagen, daß die ganze Episode Goethe wenig Ehre macht. Der lange Aufenthalt in Sesenheim im Mai und Juni sowie der Umstand, daß er und Friederike mit ziemlicher Sicherheit bei dieser wie vielleicht schon bei früheren Gelegenheiten längere Zeit allein gelassen wurden, lassen vermuten, dass man ihn, süddeutscher Gepflogenheit entsprechend, zu diesem Zeitpunkt als den Verlobten Friederikes betrachtete. (…) Unter diesen Umständen bedeutete der Bruch mit Friederike eine schwerwiegende Kompromittierung ihrer gesellschaftlichen Stellung – von ihren Gefühlen ganz zu schweigen.“
Es gehört zu den Vorzügen von Theo Stemmlers Buch, dass er seine LeserInnen in einen schwer aushaltbaren – und hochaktuellen – Zwiespalt zwingt. Es ist die Differenz zwischen der verwerflichen Tat des Poeten auf der einen und seiner himmelhochjauchzenden Lyrik auf der anderen Seite. Friederike ist dem jungen Goethe verfallen. Doch der nimmt keine Rücksicht. Die Kunst ist wichtiger. So entsteht aus der Affäre das allein fast achtzig Mal vertonte „Mailied“ mit dem weithin bekannten Einstieg:
„Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur! / Wie glänzt die Sonne! / Wie lacht die Flur! / Es dringen Blüten / Aus jedem Zweig / Und tausend Stimmen / Aus dem Gesträuch // Und Freud‘ und Wonne / Aus jeder Brust. / O Erd‘, o Sonne! / O Glück, o Lust!“
Theo Stemmler: „In der heutigen schrecklichen neudeutschen Sprache sagt man: das ist ein Fake. Seriöser formuliert: Er inszeniert dies vierzig Jahre später in ‚Dichtung und Wahrheit’. Alle unsere Vorstellungen von dieser Idylle sind spätere Zutat und er bemüht dazu den ‚Vicar of Wakefield’, also dem ‚Pfarrer von Wakefield’.“
Ein weiterer #metoo-Fall?
Gekonnt beschreibt Stemmler in seinem Buch, wie Goethes Arroganz und sein Kunstwille, wie seine damalige Lektüre des „Pfarrers von Wakefield“ und seine amouröse Inspiration ein Amalgam bilden, aus der die Wahrheit zur Dichtung wird. Im Jahr 2019 bleibt ein Unbehagen. Die Künstlergruppe „Frankfurter Hauptschule“ hat im August dieses Jahres Goethes Gartenhaus in Weimar mit Klopapier beworfen, um mit dieser – zugegebenermaßen infantilen Aktion – auf das misogyne Frauenbild Goethes aufmerksam zu machen. Ist die Geschichte zwischen Goethe und Friederike demnach ein weiterer #metoo-Fall? Theo Stemmler:
„Ja, mit einer gewissen Zurückhaltung und Vorsicht. Ja; wenn Sie sogar wollen im weiteren Sinne chauvinistisch. Andererseits hat er sehr positive Verhältnisse zu Frauen gehabt, kulminiert in der Frau von Stein natürlich. Aber auch in der relativ unbedarften, Christiane Vulpius, die er geheiratet hat, und mit der er äußerst glücklich war, und nach Ansicht einiger Forscher sein erstes wirklich sexuell erotisches Erlebnis gehabt hat, mit etwas 36 oder 38 Jahren by the way.“
Wer ja von Goethe geliebt wurde
Mit dem moralisch gereiften Blick unserer Gegenwart lässt sich die Liebesraison des 18. Jahrhunderts schwer bewerten; aber man kann sich ihr wenigstens annähern. Theo Stemmler bietet für diese Annäherung eine empfehlenswerte Neulesung. Sein umfangreich bebilderter Insel-Band begeistert aufgrund seiner hohen Ironie auf der einen und seiner tiefen Bedeutung auf der anderen Seite.
Wir lernen Goethe, aber nicht weniger Friederike kennen, die bei Stemmler aus der objektivistischen Rolle gelöst und in die ihr gemäße subjektivierende Individualität gehoben wird. Stemmlers Buch macht Lust, Goethes „Sesenheimer Lieder“ zu lesen und Franz Schuberts „Heidenröslein“-Vertonung mit neuem Beiklang zu hören. Der Band lässt nachspüren, weshalb große Kunst nicht per se von edlen Motiven begleitet sein muss.
Er feiert die Literatur, aber hütet sich vor allzu feierlicher Verklärung der Begleitumstände. Mit Stemmler erbauen wir uns an Goethes Lyrik, und vergessen dabei nicht, dass die fallengelassene Landpfarrerstochter Friederike Brion nach der Liaison alle weiteren Freier abweisen sollte, gefangen in der Vorstellung, dass, wer je von Goethe geliebt worden ist, keinen anderen lieben kann.
Theo Stemmler: „Goethe und Friederike. Wahrheit und Dichtung“. Insel, Berlin, 112 Seiten 14 Euro. / Peter Matussek: „Goethe zur Einführung“. Junius, Hamburg, 234 Seiten, 13,50 Euro. / Rüdiger Safranski: „Goethe. Kunstwerk des Lebens“. Carl Hanser Verlag, München, 748 Seiten, 27,90 Euro /Nicholas Boyle: „Goethe. Der Dichter in seiner Zeit“. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach. Insel, Berlin, 2 Bände, 884 + 1114 Seiten, 20 bzw. 22 Euro.