Alle Welt redet gerade von Vampiren und vergisst dabei eine noch ältere Gattung unheimlicher Wesen: die Gespenster. Sarah Khan schreibt über Gehenkte, Spitzel und Psychopathen, die in Berlin ihr Unwesen treiben.
”Ich verstand schließlich, dass der Tod die zentrale Kraft des Lebens ist. Das ist der Grund, warum ich Champagner liebe und im Ritz wohne.” Mit diesem ebenso geistreichen wie düsteren Zitat des amerikanischen Autors Truman Capote eröffnet Sarah Khan ihren Kurzgeschichtenband “Die Gespenster von Berlin”. – Da das Elementare gleich auf den Tisch gekommen ist, kann es von dort aus zügig weitergehen, zu Grufties, die vor 1989 deshalb schwarze Schiedsrichtertrikots trugen, weil es die einzig rein-weiße Kleidung in der DDR war, und zu “Stimmen, die nach Abendgebet, Weinen und oder Wimmern klingen”.
Es gibt in diesem Buch beispielsweise ein Büro, das direkt an der Friedhofsgrenze liegt und den panisch herbeizitierten Feng-Shui-Meister um den Verstand bringt, weil sich in China niemand mit seinem Schreibtisch derart nah zur Spuk- und Todeswelt rücken würde. Es gibt Führungen mit Sarah Khan (alle Rechercheurinnen heissen hier wie die Autorin) durch ein Künstlerhaus, das eine arg furchtbarer Vergangenheit hinter sich hat. Es gibt einen psychopathischen Hauswart mit Zweitschlüssel, der sein Unwesen am Tempelhofer Ufer treibt – und es gibt eine morbide Clique die beim Gläserrücken zu ganz und gar makaberen Erkenntnissen kommt.
Bei so vielen Gespenstern, Tristesse und Todesnähe, die bereits auf dem Cover mit verregnetem Plattenbaufoto angedeutet werden, kann man Truman Capote, diesen genialen Dekandenz-, High-Society- und New Journalism-Schriftsteller mit seinem Ablenkungs-Champagner und dem teuren Hotelzimmer direkt viel besser verstehen. Alles hat ein Ende. Niemand wird gern daran erinnert. Leben wir, solange es geht. Warum kann es sich dennoch lohnen, die 14 Geschichten von Sarah Khan zu lesen?
Nun, das liegt zum einen an einigen atemraubenden Szenen. Das fängt an mit dieser Clique um Anne, eine eigentlich ganz charmante Frau, die aus Spaß und privatem Grusel Geister beim Gläserrücken anruft: “Sie bildeten eine Runde, drehten das Glas um und stellten es in ihre Mitte auf einen Tisch. Dann legten sie ganz viele Zettel um das Glas: die Worte “ja” und “nein” und alle Buchstaben des Alphabets und die Zahlen eins bis hundert, jeweils ins Zehnerschritten angeordnet. Jeder legte sachte einen Finger auf das Glas, dann begannen sie. Und wie toll es kribbelte, zuckelte und ruckelte, sobald Anne die Geister rief. Dann tanzte das Glas. Einmal hatten sie sofort jemanden drin, der sagte: SOS, SOS, SOS.”
In solchen Augenblicken kann das Blut auch unabhängig der derzeit herrschenden Tiefstemperaturen gefrieren. Doch es geht noch tiefer, wenn die Clique wenig später bei einer fremden Frau auftaucht und den herbeiphantasierten Geist fragt: “Ist hier jemand im Raum, der für die Stasi arbeitet?” Denn ab dort wird es auf finstere Weise politisch und und damit deutlich, dass die Gespenster von Sarah Khan nicht so viel mit dem gerade gezeigten Kino-Dämon aus “Paranormal Activity” gemeinsam haben.
Warum beschäftigt sich eine erwachsene Autorin mit solchen Ereignissen, warum erzählt sie nicht auf einfacherem Wege von Geschichte, Verrat, untergegangenen Reichen? “Das Thema war da, sobald ich nach Berlin gezogen war, also seit 2001”, sagt Sarah Khan im Interview. ”Da wohnte ich selbst eine Weile in einer Wohnung, wo es spukte. Ich habe so etwas vorher und nachher nie wieder erlebt. Mit den Jahren bemerkte ich, dass es viele Gespenstergeschichten in der Gegenwart zu entdecken gibt, weil in Berlin über Spukwohnungen geredet wird. Die Stadt ist voller Neu-Einwohner, die Aufmerksamkeit für die Gespenster mitbringen. Die haben noch nicht so ein dickes Fell wie die Urberliner. Auch habe ich bemerkt, dass durch die Gespenster noch viel anderes nebenbei erzählt wird – die Verwandlung der Stadt, die Geschichte der letzten dreihundert Jahre, die neuen und alten Bewohner und ihre Versuche, in der Stadt glücklich zu werden oder zumindest nicht unterzugehen. Die Gespenster erzählen davon, dass es nicht jeder geschafft hat, das der märkische Sand auch ein Treibsand ist.“
Dann kam Sarah Khan. Sie hat dieses längst abgefrühstückte, totgedrehte, viel zu heiß gewaschene Berlin genommen, etwas Neues darin gesehen, etwas Unheimliches. Sie hat sich ein literarisches Ziel gesetzt und in ganz vielen Augenblicken erreicht. “Ich glaube nicht, dass es heute einen Gespenstergauben gibt, der auf einem magischen Weltbild beruht. Das ist eher die Ausnahme. In meinem Buch ist es ja so, dass die meisten Leute mit Gespenstern konfrontiert sind, ohne gleich ihr modernes Weltbild zu verändern. Es ist ein Flirt mit der Möglichkeit – und Angst. Nach der wissenschaftlichen Entzauberung der Welt bleiben ja immer noch viele letzte Fragen offen. Der Tod ist so archaisch. Ich finde es im Übrigen ein tolles Gefühl, sich zu gruseln und als Autorin ist es eine Herausforderung, einen Text zu schreiben, bei dem Leute sich dann und wann gruseln.” Ist ihr gelungen.
Sarah Khan: “Die Gespenster von Berlin”, Suhrkamp, 192 Seiten, 9,90 Euro