Dana Vowinckel gewinnt bei in Klagenfurt den Deutschlandfunk-Preis mit „Gewässer im Ziplock“ – der Bachmann-Hauptpreis geht an Nava Ebrahimis „Der Cousin“. Insgesamt waren die vergangenen Tage eine würdige Anrufung des gestaltlos Göttlichen. (Das Beitragsbild zeigt Dana Vowinckel ORF / LST Kärnten / Catharina Tews)
Mit Hubert Winkels Hymne auf die Komplexität wurden die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur am Mittwoch dieser Woche in Klagenfurt eröffnet, mit einer Apologie des Numinosen, des gestaltlos Göttlichen, das wir uns vorstellen müssen als: Die Literatur. Von Donnerstagmorgen bis Samstagnachmittag wurde eben diese Literatur gewürdigt; 14 digital zugeschaltete Autorinnen und Autoren lasen 14 höchst disparate Texte, die von Frauen auf dem Zauberberg berichteten, von der eitlen Wut gegen das linksgrüne Veganer-Establishment, von Menopausen-Metamorphosen, vom jenen, die gerade am modernen Leben verzweifeln – an der Wohnungsnot, an Identitätsdiskursen, Körperbildern, am Kapitalismus.
Die siebenköpfige Jury um Literaturkritikerin Insa Wilke kürte am heutigen Sonntag Nava Ebrahimis „Der Cousin“ zum herausgehobenen Text des avancierten Wettlesens. Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin des Jahres 2021 beginnt mit einem kraftvollen Überwältigungsbild: „Das Foto seines Körpers bedeckte meterhoch die Fassade des Lincoln Centers.“
Ausweg aus Fallen
Dieses riesige Ich-Bild gehört zu Kian, einem schwulen Tänzer, der in New York auf seine Cousine trifft. Diese Cousine ist Schriftstellerin, in New York zu Besuch mit ihrem aktuellen Roman, der von Traumata berichtet, von dem, was hinter der übergroßen Fassade dieser beiden Ausnahmekünstler steckt – die fatale Erfahrung einer gemeinsamen Flucht aus dem vorrevolutionären Iran. Die Kunst, das zeigt Nava Ebrahimi in „Der Cousin“, kann ein Ausweg sein aus jenen Fallen, die uns das Leben stellt. Wir sind nicht gezwungen, in diesen fallen zu verharren, wir können fliehen…
Oder wenigstens reisen, wie es Dana Vowinckel beschreibt in ihrem mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichneten Tableau „Gewässer im Ziplock“ – eine Geschichte über drei jüdische Generationen in Berlin, Chicago und Jerusalem. Im Mittelpunkt steht die 15-jährige Margarita, Kontinent übergreifend zwischen Tradition und Selbstbehauptung stehend, mal hier mal da, permanent sind die Koffer gepackt in dieser Aktualisierung der christlichen Ahsaver-Volkssage, der Geschichte über den ewig wandernden Juden. „Gewässer im Ziplock“ ist ein Aufbruch, auch in eine neue Phase der Shoa-Erinnerungskultur zwischen „Flying home“ und „Leaving home“. Es ist ein Text, der gleichsam den Bachmannpreis verdient hätte.
Das gute Leben
Wie auch Theaterautor Necati Öziri mit „Morgen wache ich auf und dann beginne ich das Leben“, dem stärksten Beitrag des ersten Lesungstages, nun gleich zweimal ausgezeichnet mit dem Kelag- und dem Publikumspreis. Ein Schauspieler steht hier vorm Spiegel und rezitiert einen Brief an den Vater, der die Familie vor 25 Jahren verlassen hat. Zwischen Adorno und Kreuzberg, zwischen Verlust und Imagination changiert dieser kraftvolle Bühnentext, diese rhythmisierte Hommage an den Juden Franz Kafka und dessen „Brief an den Vater“. Auch Öziri beschwört die Kunst als Rettung, als Anrufung, als Bedingung der Möglichkeit eines gelungenen Lebens.
Dass ohne Kunst und Komplexität dieses Leben nur ein schlechthin verwirktes sein kann zeigt ex negativo „Mein Freund am See“ vom Timon Karl Kaleyta, der an diesem Sonntag den 3sat-Preis gewann. An Patricia-Highsmith, Ovids Narziss und Anders Breiviks monströses Hass-Manifest erinnert Kaleytas thrillerartiges Psychogramm eines selbstverliebten Gecks, der erst neidisch, dann wahnsinnig wird und offensichtlich keine Sprache besitzt, um seine wutentbrannten Anschauungen auf den Begriff zu bringen, der zum lauernden Wiedergänger des talentierten Mr. Ripley wird, zum lachend Wahnsinnigen.
Das Kunstunfähige und Unterkomplexe birgt tödliche Gefahren, doch wer sich den „Fine arts“ anvertraut, kann gerettet werden und in tristen Zeiten der Wohnungsnot, den Identitätsdiskursen und den Körperbildern zum Trotze teilhaben an echter Transzendenz, am Numinosen, an jenem gestaltlos Göttlichen, das zu Anfang dieser 45. Tage der deutschsprachigen Literatur von Hubert Winkels beschworen und zum Ende, an diesem Sonntag, durch die Auszeichnung der Besten gewürdigt wurde.