Mit den „Pflegeprotokollen“ des Berliner Schriftstellers Frédéric Válin werden wir mit einem Thema konfrontiert, das uns alle angeht – früher oder später. Válin hat zunächst Literatur und Romanistik studiert, außerdem zahlreiche Bücher veröffentlicht, die oft einen sozial-engagierten Charakter hatten wie sein Erzählungsdebüt „Randgruppenmitglied“ 2010 (hier im Blog), in dem Geschichten über Kranke, Psychotiker, Gescheiterte, Ausgeschlossene erzählt werden. Seit über acht Jahren arbeitet er neben seiner Tätigkeit als Autor und Journalist auch als Betreuer in einer Einrichtung für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung. Seine eindrücklichen „Pflegeprotokolle“ erscheinen im Verbrecher Verlag, wo bereits im Februar des vergangenen Jahres mit „Equal Care“ ein Buch über Fürsorge und Gesellschaft erschienen ist. Ein Gespräch
Frédéric Valin, „Pflegeprotokolle“ heißt ihr Buch und versammelt zahlreiche Eindrücke von Beschäftigten aus ganz unterschiedlichen Care-Bereichen wie der ambulante Hilfen, aus Krankenhäusern, Pflegeheimen, psychiatrische Einrichtungen und so weiter – Was war der initiale Moment für diese Sammlung, die Sie laut Ihrem Vorwort begonnen haben mit der ersten Corona-Isolation im März des vergangenen Jahres? Ich arbeite seit fast einem Jahrzehnt im sozialen Bereich. Und die Geschichten schienen mir immer schon wichtig, interessant und aussagekräftig. Ich habe mich dann Anfang März, als klar wurde, wie dramatisch das werden wird mit der Corona-Situation, sehr schnell isoliert und dadurch gab es Zeit. Ich wusste, dass viele Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bereichen jetzt auch zu Hause sitzen mit ihren Eindrücken, ihren Frustrationen und Herausforderungen – und dann habe ich angefangen, erst mal ohne Hintergedanken, mit diesen Menschen zu telefonieren; Erst nur mit Bekannten, dann auch mit Unbekannten. Da entstand dann im Laufe der Zeit die Idee, daraus was zu machen, weil mein Eindruck auch zu Beginn der Pandemie gewesen ist, dass es sehr viele neue Expertinnen, Meinungen gab, insbesondere aus der Forschung und aus der Medizin, aber bei der Pflege herrschte eine Lücke, die schwieg.
Anhand Ihrer „Pflegeprotokolle“ kann eine sehr zeitgemäße Form literarischen Arbeitens beobachtet werden, dazu später mehr. Sie veröffentlichen 21 Protokolle, beginnend mit einer Maxi, Anfang 30, die in der Geriatriestation einer westdeutschen Großstadt arbeitet. Sie hat im Gespräch angegeben, ich zitiere: „Die Verhältnisse waren katastrophal rückständig. Da hat man alles selbst machen müssen, es gab keine Sekretärin, die einem Sachen abnimmt, auch keine Blutentnahme-Damen oder Leute, die Medikamente richten. Da musste man wirklich alles machen.“ Das nur als ersten Eindruck dieses ohnehin sehr eindrücklichen Buchs. Um die Diversität des von Ihnen beobachteten Feldes zu verdeutlichen – Welche verschiedenen Formen von Pflege lernen wir mit Ihren Protokollen kennen? Ich habe versucht, möglichst umfassend zu fragen, insbesondere auch Bereiche, von denen ich weiß, dass sie nicht besonders oft befragt werden wie Einzelfallhilfen, stationäre Jugendhilfe, von denen ich wusste, dass sie stark belastet sind, während dieser Pandemie und davor schon stark belastet waren. Ich arbeite publizistisch schon länger in dem Bereich und habe dadurch einen Überblick – und nun versucht, intuitiv eben Lücken zu schließen. Nichtsdestotrotz fehlen Bereiche, wie zum Beispiel der Strafvollzug, aber im Großen und Ganzen habe ich versucht, einen Überschlag über den sozialen Bereich zu machen; ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
In ihren Protokollen liest man viel über den Unmut der Pfleger*innen, es geht um Druck von der Leitung, um den beklagenswerten Betreuungsschlüssel, um Überforderung, es geht um Verantwortung und um ein marodes Care-System, in dem an allen Ecken und Ende gespart werden muss. In den Nachrichten wird seit geraumer Zeit vom sogenannten „Pflexit“ berichtet, also der Abwanderung von Pflegepersonal in andere Berufe – auch die eingangs erwähnte Maxi hat ihre Stelle inzwischen gekündigt und arbeitet als Leasingkraft, ist also weiterhin in der Pflege, aber sie wird vermittelt über eine Agentur, die besser zahlt. In welcher Weise waren die Gespräche, die Sie mit Pfleger*innen verschiedener Bereiche geführt haben ein Ventil – und was hat sie trotz Ihrer eigenen Pflegeerfahrung überrascht? Es haben sich hinterher wirklich sehr viele Leute, mit denen ich gesprochen habe, bedankt. Manche haben auch gesagt, das hätte so ein therapeutisches Moment gehabt, darüber zu sprechen und das loszuwerden. Überrascht haben mich immer wieder Details. Die Grundstimmung kannte ich, aber nicht die Herausforderungen beispielsweise in der stationären Jugendhilfe. Man muss sich das einmal vorstellen: Man betreut neun Kinder im Einzeldienst, und plötzlich ist Homeschooling. Was bedeutet das? Das bedeutet, das Internet ist nicht ausreichend, es gibt nicht genug Endgeräte, man muss neun Kinder beschulen, zusätzlich zu dem eignen. Was macht das mit der Beziehung zu den Kindern, wenn man plötzlich die Rolle wechselt und nicht nur betreut, sondern Lehrende ist. Das war sehr, sehr bedrückend, das zu hören – und es war mir in der Intensität auch nicht bewusst. Es gab auch immer wieder positive Sachen, die ich überraschend fand. Beispielsweise, dass nicht alle Behörden gleich schlimm sind. Zwischendrin erzählt eine Protagonistin, dass sie sehr, sehr gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den Rentenkassen hatte. Am Buch insgesamt überrascht mich in den Reaktionen, wie wenig bekannt ist aus den Bereichen – bei Leuten, die keine direkten Berührungspunkte haben. Das überrascht mich tatsächlich immer wieder.
Kommen wir kurz zur Art Ihres Schreibens – denn Ihr Buch „Pflegeprotokolle“ changiert zwischen Journalismus, Oral-History, soziologischer Beobachtung, kann aber gleichsam ins literarische Feld eingeordnet werden, denn Ihr Texte sind keine Eins-zu-Eins-Abschriften. Nach welchen Arbeitsschritten haben Sie Ihre Texte, haben Sie Ihre „Pflegeprotokolle“ montiert, beginnend vielleicht bei der Auswahl Ihrer Gesprächspartner*innen – wie sind Sie vorgegangen? Ich habe nach und nach Menschen gesucht. Also die ersten Interviews ganz am Anfang habe ich aufgenommen, ohne zu wissen, was ich daraus machen werde. Dann habe ich angefangen, systematischer zu suchen, welche Bereiche muss ich unbedingt noch behandeln, welche welche Eindrücke brauche ich noch unbedingt. Ich habe die Interviews geführt und dann Transkripte erstellt, also eins zu eins und anhand dieser Transkripte angefangen einzudampfen, also zu verdichten, das waren pro Text ungefähr 15 Arbeitsschritte. Ich wollte, dass die Stimmen der Menschen, die erzählen, erhalten bleiben. Das war die größte Herausforderung, das nicht einer Dramaturgie zu unterwerfen, sondern sie sprechen zu lassen.
Und diese Texte haben Sie den Gesprächspartner*innen nochmal vorgelegt? Ja, die haben das dann abgenickt.
Es wirkt so, als sei der Anteil von migrantischen Pflegern eher gering, obschon doch viel in den Medien gesprochen beispielsweise über osteuropäische Pfleger*innen, die in Deutschland alte Menschen privat betreuen. Gab es Personenkreise, die zugänglicher waren als andere – und wie haben Sie dennoch Zugang bekommen zu jenen, die schwieriger zu erreichen waren? Das war der journalistische Teil der Arbeit, da zu recherchieren und Personenkreise aufzutun. Ich würde sagen, dass in dem Buch überproportional viele Menschen versammelt sind, die ich als engagiert Pflegende bezeichnen würde. Das sind häufig Leute, die in einen moralischen Zwiespalt geraten sind und die die Herausforderungen besonders wahrgenommen haben. Bei den migrantischen Pflegenden gibt’s ein anderes Problem also ich möchte damit nicht sagen, dass die Leute, die da nicht drin vorkommen, nicht engagiert sind, aber es gab ein Problem des Zugangs. Erstens der sprachliche. Zweitens ist es so, dass häufig Dinge eine Rolle spielen wie häusliche Krankenpflege. Da kommt man nicht gut ran. Drittens hat sich herausgestellt, dass es – völlig zu Recht – ein Misstrauen gegenüber Leuten wie mir gibt im Sinne von: Okay, der macht jetzt ein Buch, und damit verdient er dann Geld und so weiter. Leute, die sowieso schon regelmäßig innerhalb dieses Systems übers Ohr gehauen werden, trauen nicht unbedingt Leuten, die innerhalb dieses Systems, arbeiten oder dazu arbeiten, weil sie schon sehr viele schlechte Erfahrungen gemacht haben mit der ganzen Konstruktion.
„Pflegeprotokolle“ ist durchaus auch ästhetisch einzuordnen, und wenn wir zurückgehen zu den Ursprüngen protokollierenden Erzählens, erinnern wir uns möglicherweise an jene in den 1920er Jahren dominante Strömung der Neuen Sachlichkeit, wo Journalismus und Literatur bereits näher rückten, das geht dann weiter zum New Journalism, hierzulande in den 1970er Jahren prominent vertreten durch Jörg Fauser, dann gibt es natürlich die in den 2000er Jahren erfolgreichen Oral History-Erzählungen wie Jürgen Teipels „Verschwende Deine Jugend“ und über allem stehen Walter Kempowski mit seinem Echolot-Projekt oder auch Alexander Kluges Montage-Veröffentlichungen. Welche Bedeutung hatte diese Traditionslinie für Sie – und wie sind Sie mit dem, was in den hundert Jahren vor den „Pflegeprotokollen“ war – kreativ umgegangen? Ich habe mir im Vorfeld drei Bücher angeguckt. Erstens die „Bottroper Protokolle“ von Erika Runge, die eine herausragende Stellung in der Protokollliteratur haben, wo ein Mikrokosmos in einem Stadtteil dargestellt wird, im Zuge eines Streiks. Das war ganz wichtig, Maxie Wander habe ich mir angeguckt – „Guten Morgen, du Schöne“, wo sie viele verschiedene Stimmen von Frauen sammelt. Das ist ein herausragendes Buch in der feministischen Literatur. Dann habe ich mir diese soziologische Sammlung von Pierre Bourdieu et.al. angeguckt, „Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft“. Aus allen dreien habe ich mir Elemente herausgegriffen, die für mich wichtig gewesen sind, insbesondere der genaue Umgang mit dem, was die Menschen sagen. Ich habe mich aber auch abgegrenzt. Bei den „Bottroper Protokollen“ beispielsweise wird sehr stark dramaturgisiert – und das wollte ich nicht.
Wie wichtig war für Ihre Arbeit die garantierte Anonymität Ihrer Gesprächspartner*innen – und wie kann aufgrund dieser Anonymität überhaupt nachvollzogen werden, dass das, was Sie aufgeschrieben haben, der Wahrheit entspricht? Die Anonymität war eine Grundvoraussetzung, dass dieses Buch überhaupt erst entstanden entstehen konnte, weil zu Recht viele der Protagonist*innen Sorgen haben, dass Arbeitgeber Konsequenzen ziehen, dass sie Schwierigkeiten dort bekommen, wo sie arbeiten. Das ist bei anderen Pflegenden, die sich öffentlich äußern, häufig passiert. Der bekannteste Fall ist wahrscheinlich der Berliner Intensivpfleger Ricardo Lange, der nicht mehr auf seiner Station eingesetzt werden sollte, nachdem er seine Eindrücke öffentlich gemacht hat. Die Überprüfbarkeit in diesem Sinne kann man, glaube ich, herstellen, wenn man sich Geschichten von anderen Pflegenden hört. Das ist sowieso mein Wunsch, dass dieses Buch ein Anfang ist und insgesamt die Menschen aus der Pflege mehr ins Sprechen, mehr in den Diskurs kommen. Es ist nicht so, dass ich ein investigatives Buch geschrieben habe, das möglichst krass Missstände aufzudecken will, sondern mir ging es eigentlich eher darum, eine Stimmung zu haben. Wen interessiert was? Warum machen die Menschen das? Warum arbeiten Sie da? Was sind Ihre Herausforderungen? Und was würden Sie sich für Ihre Zukunft wünschen? Ich glaube, anhand dieser Fragen kann man auch mit anderen Pflegenden ins Gespräch kommen.
Frédéric Valin: „Pflegeprotokolle“, Verbrecher Verlag, Berlin. 240 Seiten, 18 Euro / der Audiobeitrag kann hier nachgehört werden