Der 1971 in München geborene Kunstgeschichtler Golo Maurer hat in diesem Jahr ein gewaltiges Buch mit dem Titel: „Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst“, veröffentlicht ein Buch, in dem er selbst bekennt: „Sie ist, wie ein gutes Märchen der Brüder Grimm, schlicht unverwüstlich, ein ‚Aschenputtel’ für Erwachsene, die Geschichte von einem der auszog, im Süden zu lernen. Ein Sommermärchen sozusagen.“ Golo Maurer hat 2014 seine Habilitation im Fach Kunstgeschichte vorgelegt mit dem Thema: „Italien als Erlebnis und Konstruktion. Landschaftswahrnehmung deutscher Künstler und Reisender 1760-1870“. Seit Oktober 2015 ist er Bibliotheksleiter der Bibliotheca Hertziana in Rom. (Das Beitragsbild zeigt „Goethe in der Campagna“, das bekannteste Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein.) Ein Gespräch.
Herr Maurer, in der Vorrede Ihres aktuellen Buchs bezeichnen Sie die Bibliotheca Hertziana als das „römische Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte“ – das klingt so, als wirkten Sie auf den Spuren Johann Joachim Winckelmanns, jenem ersten Kunstgeschichtler, der ab 1761 das künstlerische Programm der berühmten „Villa Albani“ entworfen hat. In welcher Weise ist die Arbeit Winckelmanns vergleichbar mit der, die Sie in Rom verrichten? Winckelmann hat gewissermaßen die Grundlagen gelegt, als Winckelmann nach Italien kam, und er kam nach Italien, um dort die Kunst der Griechen zu studieren. Er hätte er auch nach Griechenland fahren können. Aber nein, er fuhr nach Italien, nach Rom, weil dort die großen Sammlungen waren. Und Winckelmanns Arbeit war eigentlich, in dieses fast damals noch unübersehbare Chaos und Gewirr der Statuen und Büsten eine Ordnung reinzubringen, überhaupt erst mal zu sehen: Wann sind die gemacht worden? Was stellen sie dar? Wie sind sie untereinander verwandt? Das war in gewisser Hinsicht kunsthistorische Grundlagenarbeit. Und in dieser Hinsicht machen wir das immer noch. Aber Winckelmann hatte ja auch damit etwas anderes im Sinne. Er hat ja das, was wir heute eine Narration, eine Erzählung nennen. Für ihn war er ausgemachte Sache, dass Griechenland und die griechische Kunst der Höhepunkt der Menschheitsentwicklung darstellen. Deswegen muss man sich mit der Kunst der Griechen beschäftigen, um selber von diesem Höhepunkt der Menschheitsgeschichte etwas abzubekommen. Das hat eine fast schon moralische Wertung von Kunst. Der Glaube, dass es Höhepunkte gibt, dass es der Generationen gibt. Davon hat sich die Kunstgeschichte in den letzten 200 Jahren sehr mühsam freigeschwommen. Genau das wollen wir eigentlich heute nicht machen, wir wollen nicht sagen, es gibt Kunst, die besser ist als andere. Uns interessieren heute Kunstwerke oder Artefakte. Wir setzen Kunst in den Kontext zu setzen, der uns heute interessiert. Das sind eigentlich ganz andere Herangehensweisen als das, was Winckelmann damals gemacht hat. Aber wir sind natürlich weiterhin irgendwie auf seinen Schultern.
Woran arbeiten Sie dann gerade jetzt konkret? Gerade habe ich das Buch fertig geschrieben, das ein bisschen meine Arbeit an dem Thema „Deutsche Erfahrungen im Ausland“ widerspiegelt. Alteritätserfahrung ist das Stichwort. Was erfährt man über sich selbst, wenn es einen in die Fremde verschlägt, wenn man das Selbstverständliche, von dem man zu Hause umgeben ist, plötzlich nicht mehr um sich herum sieht, man plötzlich umgeben ist von Dingen, die man nicht kennt, von denen man sich nur Vorstellungen gemacht hat, die man aus Büchern kennt, aus Erzählungen, von Bildern? Dann ist man plötzlich selber dort. Was macht das mit einem? Das sind eigentlich die Fragen, die mich die letzten Jahre interessiert haben. Und in diese Richtung arbeite ich gerade auch weiter.
Sie beschreiben Goethes Italienreise als deutschen Selbstfindungstrip. Nach ihm habe sich weitere Italienreisenden Goethes vergewissert: „Wo ich nun stehe, da hat jener einst gestanden, was ich sehe, das hat er gesehen.“ Damit wir uns eine erste Vorstellung machen können: In welcher Situation und Gestimmtheit ist Goethe damals aufgebrochen? Was hat er in Italien gesucht oder gehofft, eben dort zu finden? Wenn man sich die Goethe Reise in ihren zeitgenössischen Kontext ansieht, dann ist diese Reise durchaus etwas besonderes. Nicht, weil es Goethe war, der nach Italien reist. Das kommt natürlich hinzu. Aber das Besondere war, dass er sie sehr spät im Leben unternommen hat. Es war nicht, wie damals üblich, eine Reise, die man als 20- oder 22-Jährige unternimmt, als Abschluss des Studiums, um sich zu einem internationalen Schliff zu geben, wie es die Söhne des Adels oder des Patriziat sehr oft getan haben. Goethe reist als 37-Jähriger, da war man statistisch gesehen zumindest über der Lebensmitte fortgeschritten. Man konnte nicht damit rechnen, 80 zu werden. Goethe steckte in so was, was man eigentlich, ohne es zu übertreiben, als Midlife-Crisis bezeichnen konnte. Er war nämlich drauf und dran gewesen, als junger Mann eine ebensolche Italienreise zu machen. Dazu ist es nicht gekommen. Er ist stattdessen nach Weimar gezogen, auf Einladung des Herzogs, und war dort zehn Jahre lang Staatsbeamter, Minister. Goethe hat sich in einem immer größer werdenden Berg von administrativer Arbeit verloren und seine eigentliche Kunst – wo er langsam begriffen hat, dass diese Kunst das ist, wozu er eigentlich geboren ist, nämlich Dichter zu sein – das kam in Weimar immer kürzer, und es führte über die Jahre zu einer veritablen Lebenskrise. In dieser Lebenskrise taucht dann Italien auf, dieses Italien, wo er als junger Mann nicht hingefahren ist. Das löst in ihm fast so etwas wie eine Torschlusspanik aus. Er kann eigentlich an nichts anderes mehr denken als an Italien und beschließt letztlich, einen unglaublich radikalen Schnitt zu machen; heimlich nach Italien zu fahren, niemandem Bescheid zu sagen. Das war wirklich ein großes Wagnis. Nicht einmal seinem Dienstherrn, dem Herzog, hat er genau gesagt, wohin die Reise eigentlich geht. In Nacht und Nebel ist er durchgebrannt, abgehauen. Das war eine regelrechte Flucht. Und das ist es, was die Reise ja so bedeutend, was sie für die bürgerliche Welt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts so interessant macht, weil sie sich in diesem Goethe irgendwie gespiegelt sieht. Als Gymnasiast hat man Gedichte geschrieben, wollte mal Künstler werden oder Schauspieler oder irgendwas anderes als der Arzt oder Rechtsanwalt oder Immobilienmann, der man dann geworden ist. Dann steht man da. Das halbe Leben ist vorbei und man fragt sich: „War’s das jetzt? Das kann doch nicht sein.“ In diesem Moment ist eine Erzählung wie die Erzählung Goethes von seiner Wiedergeburt in Italien unglaublich attraktiv. Das ist ein bisschen wie bei Hape Kerkeling. „Ich bin dann mal weg.“ Das hatte einen ähnlichen Effekt gehabt, dass man mit seinem Leben einfach versucht, wieder von vorne anzufangen.
Sie zitieren Goethes Bürgerstolz und sie zitieren seinen Vater mit den Worten, dass, wer Neapel nicht gesehen, der auch nicht gelebt hat. Noch in der Gegenwart beschreiben Schriftsteller wie Simon Strauß oder der Novellenautor Hartmut Lange die herausgehobene Bedeutung Italiens, vor allem Roms, in einer berührenden Kulturseligkeit. Mit welchem Blick lohnt sich denn die Reise im Jahr 2021 Richtung Süden? Wo erleben wir im Sinne Ihres Buchs ein Heimreisen? Das kann man eigentlich nur individuell beantworten. Die Zeiten, als ein gesellschaftlicher Konsens bestand, dass Rom die Hauptstadt der Welt ist und dass die Kunst Italiens der Höhepunkt der Kunst der Menschheit ist, diese Zeiten sind schon lange vorbei. Auch Goethe zählt eigentlich nicht mehr zu den kanonischen Autoren. Ich glaube nicht, dass heute viele Menschen Goethe lesen. Goethe steckt irgendwo noch in den Menschen, aber er ist nicht wirklich die Triebfeder. Trotzdem ist Italien – und speziell Rom – Sehnsucht geblieben. Das sind andere Bilder, andere Konstruktionen, denen man hinterherreist. Das kann das italienische Kino sein, also Antonioni oder Paolo Sorrentino. Man fährt eigentlich nicht mehr nach Rom, um wie Winckelmann stille Einfalt und edle Größe zu suchen, sondern man sucht die „Grande Bellezza“. Das hat sehr viel mit Lebensstil zu tun, mit Lifestyle, mit Mode, auch mit Design, mit Stadterleben; sehr viel weniger mit Monumente, mit Kunst, mit Literatur.
Das Reisen war damals eine kostspielige Angelegenheit. Bleiben wir noch ein bisschen bei Goethe, über den Sie in Ihrem Buch folgendes berichten „Wer nicht zu Fuß nach Italien ging – und das war Goethes Sache nicht –, musste die öffentliche Postkutsche benutzen und bezahlen. ‚Der Fahrpreis summierte sich aus Fahrgeld, Chausseegeld, Brückengeld, Vorspanngeld, Schmiergeld und Trinkgeld.’ Mit ‚Schmiergeld’ ist eigentlich nur die Gebühr für das Fetten der Wagenachsen gemeint, wurde aber schon damals im übertragenen Sinn verwendet (‚Wer gut schmiert, der fährt auch gut.’). Carl August Beckers Neuem Post- und Reise-Taschenbuch von 1803 zufolge kam die gefahrene deutsche Meile im Durchschnitt auf etwa einen Dukaten, das waren umgerechnet 7,5 km für 5 1⁄4 Taler. Mit einem Taler kam man demnach knapp eineinhalb Kilometer weit. Goethes Diener Seidel hätte für seinen gesamten Jahresverdienst also eine Reise von ca. 150 km in der Postkutsche zurücklegen können, Übernachtungen und Verpflegung nicht inbegriffen. Goethes Jahresgehalt dagegen reichte bereits für 2700 gefahrene Kilometer, er hätte also in der Postkutsche als Dauergast wohnen können, mit den maximal zugelassenen 40 Pfund Gepäck.“ – Ist unser von Goethe geprägtes Italien letztlich der bequemen Sichtweise eines Neureichen zu verdanken? Das gilt in gewisser Weise für die Italienreise bis vor gar nicht so langer Zeit. Es war eine ganz kleine Schicht, die damals nach Italien fahren konnte. Goethe gehörte gerade mal so zu dieser kleinen Schicht. Es gab natürlich daneben oft namenlose Handwerker oder arme Künstler, die auch nach Italien gefahren sind, die nicht einen Bruchteil des Geldes hatten, das Goethe ausgeben konnte. Es ist sehr interessant, das Italienerlebnis solcher Personen, die manchmal auch Tagebücher und Briefe geschrieben haben, mit dieser bequemen, gut ausgestatteten Sicht Goethes zu vergleichen. Wenn man sich dann im Kern ansieht, wie Goethe tatsächlich gereist ist – würde heute keiner mehr auf sich nehmen. Stunden- tage- und wochenlang in der Postkutsche sitzen. Keine ordentlichen Klos, keine ordentlichen Bäder, überall Läuse und Flöhe. Darüber schreibt Goethe gar nichts, weil es einfach völlig selbstverständlich war.
Man denkt vielmehr an das „Mignon“-Gedicht, das zuerst in Goethes „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung“ abgedruckt und später in die „Lehrjahre“ aufgenommen wurde mit der Anfangsstrophe: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, / Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, / Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, / Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, / Kennst du es wohl? / Dahin! Dahin / Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!“ Sie gehen dem entgegengesetzt auch ein auf Italienreisen, die weniger glücklich verlaufen sind, als die des Geheimrat Goethe. Beispielsweise erzählen sie vom fiktiven Gustav Aschenbach, aus Thomas Manns „Tod in Venedig“, aber auch vom realen Johann Gottfried Herder. Sie schreiben: „Nach beinahe zwölf Amtsjahren war Herder reif für Italien. Fünf Jahre älter als Goethe und bei Antritt der Reise bereits im fünfundvierzigsten Lebensjahr, hätte er der Vater eines klassischen Kavaliersreisenden sein können. Von einer ‚Lebensmitte’ konnte bei ihm nicht mehr die Rede sein, wohl aber von einer Midlife Crisis, die nun schon gut zehn Jahre andauerte. Gesundheitlich chronisch angeschlagen war Herder in einer tief sitzenden Unzufriedenheit mit seinen gesellschaftlichen, beruflichen, häuslichen und finanziellen Verhältnissen gefangen.“ – Bei dieser Reise ging einiges schief. Was unterscheidet Herders Reisen von denen des Wolfgang von Goethe? Und warum spielt die Midlife-Crisis eine herausgehobene Rolle in Ihrem Buch? Das Spannende an der Herder-Reise ist, dass es eigentlich die erste Reise ist, die erstmals versucht, in den Fußstapfen Goethes das Italienerlebnis Goethes – oder was man sich als Italienerlebnis Goethes vorstellte – zu wiederholen. Goethe schrieb Briefe nach Weimar, in denen er ausführlich schilderte, wie toll ihm diese Wiedergeburt in Italien gelungen, wie schwer sein Leben vorher in Weimar gewesen ist, wie Italien und Rom ihm geholfen hat, zu neuer Kraft, zu neuer Jugend, zu neuer Vitalität zurückzufinden. Das ist natürlich eine Erzählung, die unglaublich attraktiv war. Herder, der ärmer dran war als Goethe, der ein Stück älter gewesen ist, der nicht diese Leichtigkeit, der auch eine vielköpfige Familie an der Backe hatte – dem ging es in Weimar ziemlich dick ein. Er war ja klassischer Altertumsgelehrter. Das heißt, er wusste genau, dass für ihn Italien das Land der Kunst und das Land der Erneuerung sein würde. Dann macht er sich auf den Weg nach Italien. Aber anders als Goethe kann er es sich nicht leisten, alleine in der Kutsche zu fahren, sein eigener Herr zu sein, das zu machen, was er will, sondern er muss als Begleiter eines Fürsten fahren. Das heißt, er fährt eigentlich fast wie ein Haushofmeister, wie ein Lehrer mit, muss das mitmachen, was seine Herrschaften mitmachen. Dann kommt auch noch die Geliebte des Fürsten dazu, die lange schläft, die keine Kirchen anschauen will. Diese Reise wird eigentlich ein einziges Desaster, weil es eine Reise ist, die eine Goethe-Reise hätte werden sollen, der aber die Mittel zu einer Goethe-Reise gefehlt haben. Und ganz nebenbei war Herder eben auch nicht Goethe. Das ist ja eines dieser Ausbrüche, wenn er selbst in Rom sagt: „Ich bin nicht Goethe!“
Kommen wir noch zum 1834 erschienenen Reisetagebuch „Italien, wie es wirklich ist“ von Gustav Nicolai. Der war preußischer Divisionskommandeur, eine Art höherer Militärrichter. Der hat seine argen Probleme mit diesem Land, in dem die Zitronen blühen und ebenso auch die Orangen wachsen. Wie unterscheidet sich denn der Blick Nicolais von dem eines Goethe? Wieso kann an diesem Blick ein spezifisches Verhältnis der Deutschen zu Italien abgelesen werden? Deutsche Italienreisende und was die von Italien alles Großartiges erzählen, waren ihm wahrscheinlich schon in Deutschland suspekt, Tatsächlich ist die Reiseliteratur voll von völlig phantastischen Schilderungen von Italien, die – zumindest aus heutiger Sicht – Erlebnisse sind, die man pflichtgemäß in Italien haben musste. Nicolai unternimmt eine Reise, wo er gewissermaßen systematisch gegen den Strich all das zusammenrechnet, was in Italien schlimm ist. Er meckert über alles und überall. Es ist dreckig, die Leute betrügen, die berühmten Monumente sind eigentlich nur schmutzige Steine, Klumpen und so weiter. Aber das Interessante ist, dass es ihm eigentlich gar nicht um Italien geht. Es geht ihm darum, den Deutschen unter die Nase zu reiben: Was schwärmt ihr ständig für Italien? Kümmert euch doch einmal um euer schönes deutsches Vaterland, werdet echte Deutsche, reist in Deutschland, lobt die Heimat und sucht nicht das Schöne immer außerhalb. Das ist eigentlich die Botschaft von Nicolais Buch.
Italien und Deutschland sind in den 1930er und 40er Jahren integral verbunden mit Nationalsozialismus und Faschismus. Sie finden auch hier einen interessanten Bezug zu Goethe. Dieser Bezug endet mit der ernüchternden Feststellung, dass die zuvor traditionelle Feier anlässlich Goethes Geburtstag stets in Rom begangen, ausgerechnet im Jahre 1949 zum 200. ausfiel. Weshalb ist diese Nachricht im Hinblick auf die vorherigen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts so bemerkenswert? Goethefeiern gab es nicht nur in Rom, sondern überall in Deutschland; aber vor allem auch in Rom; ganz groß Goethes 100. Todestag 1932. Das war in Rom auch eine große nationale Veranstaltung, wo sich die Deutschen ihrer kulturellen Identität gerade im Ausland versichert haben. Und dann, ein Jahr später, kommt Hitler an die Macht. Dann geschieht all das Schreckliche, von dem man eigentlich nicht für möglich hält, wie es in einem Volk, das Goethe hervorgebracht hat und das Goethe 100 Jahre lang abgöttisch verehrt hat, wie dort so einer kulturellen Umgebung überhaupt möglich ist. Die bittere Erkenntnis war eigentlich, dass die ganze Weimarer Klassik, dass der ganze Goethe, dass über allen Gipfeln ist Ruh, Auschwitz nicht verhindert hat. Vor diesem Hintergrund ist eine Goethefeier nach dem Krieg eine hoch problematische Veranstaltung. In Deutschland dienten diese Goethefeiern dazu, sich nach der Katastrophe irgendwie wieder sich zu sammeln und zu überlegen: Was ist von uns eigentlich noch übrig? Natürlich sind damals die Versuche ganz offensichtlich, dass man sagt: „Ja, Deutschland ist politisch gescheitert, aber das kulturelle Feuer brennt weiter.“ Das war natürlich eine sehr einfache Wunschvorstellung.
Golo Maurer. „Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst“, Rowohlt, 544 Seiten, 28 Euro