Gerade ist eine Neuausgabe von Friedrich Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ im Kröner-Verlag erschienen – ein Text, der mit Wissenschaft im strengeren Sinne nicht viel zu tun hat, weil er nachgerade manisch wirkt und aus Gedichten, Aphorismen, kurzen Essays besteht. Es ist ein Text, der fröhlich sein möchte; eine fröhliche Wissenschaft – die ist allerdings nicht leicht einzuordnen, weshalb der Anhang sehr nützlich ist, bestellt von Elmar Schenkel, emeritierter Anglistik-Professor aus Leipzig, der sich schon oft mit Nietzsche beschäftigt hat, beispielsweise 1995 in einem Aufsatz über Nietzsche und moderne amerikanische Lyrik von E. E. Cummings, Wallace Stevens, T.S. Eliot – außerdem ist er Museumswächter in der Nietzsche-Gedenkstätte Röcken und Mitherausgeber von „101 Briefen an Nietzsche zu seinem 175. Geburtstag“. Er kann berichten, was Nietzsche immer noch jenen bedeutet, deren Untergang er angeblich mit seinen Schriften vorbereitet haben soll.
Herr Schenkel, Sie eröffnen Ihr Nachwort zur Neuausgabe von Friedrich Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft mit den Worten, ich zitiere: „Nietzsche lesen im 21. Jahrhundert? Wir tun es immer noch und geben damit seinen prophetischen Ankündigungen recht, auch wenn es uns wehtut.“ Worin genau liegt der Schmerz beim Lesen von Nietzsches Texten, 122 Jahre nach seinem Tod, vor allem natürlich jenes Textes, den Sie gerade herausgegeben haben? Nietzsche war damals unzeitgemäß – und ist es heute noch und wieder. Da sind Dinge drin, die uns heute wahnsinnig aufregen. Da ist viel Böses; Menschenfeindliches, Frauenfeindliches, was uns wirklich die Haare zu Berge stehen lässt. Gleichzeitig gibt es etwas völlig anderes, hellsichtige Kommentare zur Psychologie, zum Leben, zur Natur, zur Geschichte und so weiter. Nietzsches ist einfach schwer zu fassen, weil er so widersprüchlich bleibt. „Die Fröhliche Wissenschaft“ gehört zu der Trilogie der sogenannten aufklärenden Bücher „Menschliches, Allzumenschliches“, „Morgenröthe“, „Die fröhliche Wissenschaft“, wo er kulturelle Illusionen aufdeckt, denen wir alle unterliegen. Es ist noch nicht so durchsetzt von seinen späteren Fantasien, die oft auch ins Gewalttätige gehen – man hat noch einen größeren Spielraum zum Mitdenken.
Was haben wir mit der Fröhlichen Wissenschaft vor uns, wie ist dieser Text aufgebaut? Dieser Text entspricht nicht dem Wort „Wissenschaft“, deswegen muss es fröhlich heißen. Das heißt, da geht es drunter und drüber. Er besteht aus vielen Aphorismen, aus kleinen Essays, er wird eingeleitet durch eine Menge Gedichte, und auch am Ende stehen Gedichte, die „Lieder des Prinzen Vogelfrei“. Das sind alles Herausforderungen, ja geradezu Ohrfeigen für die akademische Wissenschaft. Nietzsche probt hier ein völlig neues Formprinzip, ein sehr stark ins Experimentelle gehende Formprinzip. Da sind Dialoge, Epigramme, längere Passagen, wo er sich mit je einer Thematik beschäftigt, mit antikem Stolz, mit der Entsagung, damit, was es heißt, zu leben. Man entdeckt ein großes Spektrum an Nietzsche. Es ist auch insofern vielleicht eines seiner zentralen Werke, weil hier zum ersten Mal das Thema des Todes von Gott auftaucht und der tolle Mensch, der diesen Tod auf dem Marktplatz verkündet. Neben Gottes Tod gibt es auch die Idee der ewigen Wiederkehr, ein Gedankenexperiment. Insofern ist „Die fröhliche Wissenschaft“ ein sehr zentrales Werk.
Nietzsche, 1844 als Pfarrerssohn in Röcken bei Lützen geboren, wurde bereits mit 24 außerordentlicher Professor in Basel – für klassische Philologie wohlgemerkt, nicht für Philosophie. Aus gesundheitlichen Gründen legte er diese Professur bereits zehn Jahre später nieder, schrieb „Morgenröthe“, daran anschließend Die fröhliche Wissenschaft – und weitere zehn Jahre später verabschiedete er sich in die geistige Umnachtung. Viel ist darüber schon berichtet worden, auch die Literatur hat diesen Moment mehrfach aufgegriffen, beispielsweise der Novellist Hartmut Lange 1984 mit Über die Alpen – kann man Ihrer Ansicht nach in Die fröhliche Wissenschaft bereits eine Ahnung von eben dieser geistigen Umnachtung bekommen? Das ist natürlich ein retrospektives Denken, wir sehen immer alles schon im Rückblick – und darin liegt eine Gefahr. Allerdings kann man bei Nietzsche sehr früh – schon beim 18-Jährigen – merkwürdige Konstruktionen finden. Der schreibt dann in einem Aufsatz über das Dämonische in der Musik: „Ich kenne mich durch und durch und möchte mir den Kopf eines Doppelgängers finden, um sein Gehirn zu sezieren.“ Das sind Gewaltfantasien auch an sich selbst. In Die fröhliche Wissenschaft geht es zunächst einmal nachvollziehbar zu. Im Gedankengang aber es sind auch viele Sprünge und euphorische Aufwallungen, die einen schon an Krankheitsbilder erinnern. Er war auch manisch in dem Sinne, dass er unheimlich viel geschrieben hat, obwohl er behindert war mit seinen Augen – er konnte kaum noch sehen; aber schreiben, schreiben, schreiben, das ging in den 1880er-Jahren. Viele Bücher hat er noch gemacht, bis hin zu Zarathustra und Ecce homo und Jenseits von Gut und Böse. Das ist eine manische Bewegung, und man muss als Leser gucken, was man davon wirklich gebrauchen kann.
Nietzsche selbst bezeichnete Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft als „jasagende“ Bücher. Die fröhliche Wissenschaft ist ein Buch der Genesung, der Öffnung auf Neues hin, zur Neugier drängend.“ – an welchen Stellen der Fröhlichen Wissenschaft finden Sie dieses Ja-Sagende besonders stark verwirklicht? Es ist eines der Grundmotive dieses Buches. Man sieht es in der Euphorie und in der Befreiung von Krankheit. Nietzsche war eigentlich dauernd krank. Aber da ist eben diese Freude der Genesung. Da jubelt er in der Nähe von Neapel dem Sanctus Januarius zu, einem katholischen Heiligen. In Genua tut sich für ihn wiederum die Welt der Ozeane auf, da denkt er an Kolumbus – deswegen auch dieser Ausruf „auf die Schiffe, ihr Philosophen!“. Es gibt eine sehr interessante Passage über die ewige Wiederkehr – das ist natürlich auch ein selbsttherapeutischer Gedanke, der philosophisch von vielen aufgegriffen wurde.
Es ist auf jeden Fall ein überaus wildes Buch, so viel kann man sagen. Es ist aber auch ein Buch, das sich beispielsweise anmaßt zu wissen, was „die Frauen“ wollen, ein Buch, in dem man auch von vermeintlich höherer und niederer Kultur liest, ein Buch, in dem selbst das Mitleid als Problem gesehen wird, das den, der bemitleidet, in eine stärkere Position versetzen kann. Und vieles von dem, was man problematisch nennen kann, betrachten Sie auch in Ihrem sorgfältigen Nachwort – also: in welcher Weise ist Die fröhliche Wissenschaft ein gefährliches oder degoutantes Buch? Es ist degoutant in mehrfacher Hinsicht. Sie haben schon die Frauen erwähnt, eine ganze Reihe von Bemerkungen über Frauen, die erst mal wahnsinnig verallgemeinernd und essentialistisch sind. Können wir das heute überhaupt ertragen? Solche Bemerkungen stammen aus den unteren Tiefen des 19.Jahrhunderts. Er ist mit fünf Frauen aufgewachsen, als einziger Junge, und die waren auch sehr konservativ. Andererseits hat er mit Feministinnen viel Kontakt gehabt. Und wenn die Frauen auf Augenhöhe waren wie Lou Andreas-Salomé, dann war das eine ganz andere Geschichte. Es ist etwas komplizierter – aber er hat frauenfeindliche Züge, ja.
Nietzsche betont in diesem Band, dass die Deutschen, diese, wie er schreibt, „beklagenswerth deraisonnable Rasse“ sich glücklich schätzen sollten ob des jüdischen Einflusses, denn: „Ueberall, wo Juden zu Einfluss gekommen sind, haben sie ferner zu scheiden, schärfer zu folgern, heller und sauberer zu schreiben gelehrt: ihre Aufgabe war es immer, ein Volk »zur Raison« zu bringen.“ Um dann wenig später zu behaupten, „der Jude“ sei „der thatsächliche Beherrscher der europäischen Presse“. Wie ist das, was sich erstmal schauderhaft liest, einzuordnen? Nietzsche ist immer schwer einzuordnen, weil er sich oft auf der nächsten Seite widerspricht. Ja, er hat einige judenfeindliche Züge. Andererseits war auch ein Feind des Antisemitismus. Der hat ihn wahnsinnig genervt. Das war eine miefige deutschnationale Angelegenheit, womit er nichts anfangen konnte. Seine Schwester war mit einem Antisemiten verheiratet. Sie ist mit diesem Bernhard Förster nach Paraguay ausgewandert und sie haben dort eine „arische“ Kolonie gegründet. Damit wollte Nietzsche nichts mit zu tun haben. Das war seine Stellung zum Antisemitismus. Wenn man sich dann die Rezeption anschaut, sieht man, dass sich gerade Juden stark auf Nietzsche bezogen haben. Vielleicht haben sie Verwandtschaften entdeckt – der exilierte Autor, der heimatlose Philosoph und die heimatlosen Juden. Nietzsche hat später in anderen Werken über die Entstehung des Christentums aus dem Judentum geschrieben, was für ihn natürlich wieder ganz negativ besetzt war. Ich möchte auch noch an ein, zwei wichtige Figuren erinnern – zum Beispiel hat die erste englische Gesamtausgabe von Nietzsche ein deutscher Jude herausgegeben: Oscar Levy. Martin Buber und andere jüdische Intellektuelle haben sich oft auf Nietzsche berufen, so auch Dosio Koffler, ein jüdischer Emigrant, der ein Drama geschrieben hat über Nietzsche und Goethe, die Deutschland in der Nazizeit besuchen und völlig entsetzt sind. Also man sieht: auch im Exil haben Juden zu Nietzsche oft eine Loyalität behalten.
Neben der Philosophie, der musikalischen Komposition und man möchte auch sagen – der Psychoanalyse – war ebenso die Literatur eine Profession Nietzsches’, das zeigt Die fröhliche Wissenschaft mit den Gedichten, die den Band eröffnen und am Ende wieder schließen, beispielsweise das zweite Gedicht „Mein Glück“ … es besteht aus lediglich zwei Sätzen, ich zitiere: „Seit ich des Suchens müde ward, / Erlernte ich das Finden. / Seit mir ein Wind hielt Widerpart, / Segl’ ich mit allen Winden.“ Wie können diese lyrischen Zeilen auf die Philosophie Nietzsches bezogen werden? Es ist ja eine Philosophie des Widerstandes, des Überwindens von Widerständen und es ist auch eine Philosophie des Leibes. Das heißt, die leibliche Auseinandersetzung mit den Winden wie den Gegenwinden führt zu einer anderen Leiblichkeit. Nietzsche spricht von einem Leitfaden des Leibes. Man soll auf den Leib hören. Man soll auch die Bewegung pflegen, das Gehen – das Denken muss im Gehen verwurzelt sein, sogar im Tanzen.
Es gibt ein früheres, von 1931 bis Anfang der 80er Jahre vom Kröner Verlag angebotenes altes Nachwort des nationalsozialistischen Vordenkers Alfred Baeumler, der unter anderem verbreitete, das Philosophie-System Nietzsches sei vor allem gestützt durch den »Grundgedanken des ›Willens zur Macht‹«, was mehrfach seltsam ist, weil sich Nietzsches Denken ja gerade anti-systematisch zeigt. Über diesen Willen zur Macht räsoniert Nietzsche auch in der Fröhlichen Wissenschaft. Was hat es mit diesem Willen der Macht auf sich, Herr Schenkel – und weshalb ist die Interpretation des Begriffs durch den Nationalsozialisten Baeumler auch außerhalb der systemischen Verortung schlechterdings falsch? Nietzsche war ein Systemfeind, ein Feind des geschlossenen gedanklichen Systems. Natürlich finden sich immer wieder Ansatzmöglichkeiten, um Systeme daraus zu entwickeln. Die Schwester Nietzsches, Elisabeth, hat den Willen zur Macht ediert, eine Sammlung von vielen Aphorismen und Essays. Nietzsche hatte die Idee, so ein Buch zu machen – aber er hat es selber nie gemacht. Und da fangen die Verzerrungen und Verfälschungen an, auf die die Nazis dann sehr erpicht waren, um Nietzsche zu einem Nazi-Philosophen zu machen. Baeumler sah den Philosophen auch als Soldaten – im Grunde als Fortsetzung der Arbeiten von Elisabeth, die 1935 in Weimar gestorben ist. Für Elisabeth war Nietzsche im Ersten Weltkrieg auch der Kriegsphilosoph; Nietzsche war für die Alliierten schuld am Ersten Weltkrieg, und dasselbe zeigte sich im Zweiten Weltkrieg, eine ähnliche Funktionalisierung von Nietzsche durch Baeumler und natürlich viele andere ebenfalls.
Wir haben nun viel an Nietzsche kritisiert – warum also, abschließend die erste Frage erneut aufgreifend – warum 2022 dennoch Nietzsche lesen? Ich bin auch als Museumswächter tätig, bei Nietzsches Geburtsort und wo sein Grab liegt – in Röcken bei Lützen. ich habe viele Gespräche mit Besuchern aus aller Welt und sehe, wie wirksam dieser Nietzsche weiterhin ist, wie er zur Befreiung hilft. Die Leute kommen, weil sie sich mit Nietzsche von etwas befreit haben – zum Beispiel von dogmatischer Religion, vom Kollektivismus oder von sexuellen Einschränkungen. Da gab es zum Beispiel einen ukrainischen Besucher, der war in der Nazizeit Zwangsarbeiter in Mittelbau-Dora. Nach seiner Aussage hat er nur durch Nietzsche überlebt, durch das gemeinsame Lesen von Zarathustra unter den Gefangenen. – Nietzsche ist für alle, die wissen wollen, was eigentlich mit dem Homo sapiens los ist. Bei Nietzsche sehen wir, dass dieser Homo sapiens richtig gefährlich werden kann gegen sich und die Natur. Aus Nietzsche spricht das kollektive Unbewusste, und da sollten wir genau hinschauen!
Friedrich Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“, neu herausgegeben und mit einem Nachwort von Elmar Schenkel, Kröner Verlag, 400 Seiten, 20 Euro / im gleichen Verlag sind zudem erstmalig Nietzsches sämtliche Gedichte erschienen, herausgegeben von Thomas Forrer, 527 Seiten, 24,90 Euro