Zombies, FKK, Sam Peckinpah: Clemens Meyer buchstabiert in seinem Tagebuch “Gewalten“ Situation und Folge der gegenwärtigen Männlichkeitskrise.
Clemens Meyer hängt. “Meine Beine sind vom Körper abgespreizt, an der Wand fixiert.“ Man muss sich diese Folterszene als Kreuzigung vorstellen. Der 32-jährige Leipziger inszeniert sich in seinem neuen Buch direkt auf der ersten Seite als leidender Künstler. Nach einem Selbstmordversuch ist er in der Psychiatrie gelandet. Seine Brille ist ihm abgenommen worden, er sieht verschwommen. Der, der da hängt, fühlt sich wie ein Zombie, will flüchten, reitet auf seinem Bett durch den Raum. Er bekommt Visionen, erinnert sich an “Magister Steinbauer“, den 2008 verurteilten Axtmörder aus Österreich, der seiner eigenen Tochter die Hände abgehackt hat. Zwei Männer, Meyer und Steinbauer, zwei Problemfälle. In “Gewalten“ steht es schlecht um die Herren, egal, wer sie sind.
Waren, “Als wir träumten“ und “Die Nacht, die Lichter“, die ersten beiden Bücher von Clemens Meyer, noch kraftstrotzende Machobekenntnisse, sieht es in “Gewalten“ finster aus. Männer werfen sich vor den Zug. Männer verlieren auf der Pferderennbahn. Männer erfahren allenfalls sexuelle Gnade vor den Frauen, die sie umgarnen. Männer töten Familien, töten Schüler, Männer kaufen antisemitische Tageszeitungen und geilen sich an jungen, nackten FFK-Mädchen auf. In jedem der zwölf Tagebucheinträge ist die Krise der Jungs ganz klar. Der Held, wie sein Autor heisst er Clemens, versagt im Casino, versteht die Roulette-Regeln nicht. Fußball ist eher sein Ding: “Welche Hure, welches Vieh, schuf die BSG Chemie?“
Hier geht es nicht mehr um sexistische Säuferromantik wie beim Underground-Autorenvorbild Charles Bukowsi, mit dem Clemens Meyer so oft verglichen wurde, auch wenn in diesem Buch en passant auf die Filme Sam Peckinpahs verwiesen wird. “Gewalten“ lehnt sich nicht an den saufenden Crashliteraturhelden der 1970er Jahre an. Das Bier fliesst zwar in Strömen und viele Sprüche sind angemessen cool. Aber es gibt keine Romantik. Zum Schluss ist Clemens allein mit seinem Hund, dem besten Freund, dem ewigen Gefährten, der nun nach langer Krankheit eingeschläfert wird: “Kurz bäumt er sich auf, öffnet den Mund, ich lege meine Hand hinein, will, dass er mich wittert in seinen letzten Sekunden. Und er wird ruhig, ich kann den Moment spüren, seine Zähne berühren meine Haut. Er ist weg.“
Den Sommer über lag Piet, so heisst der Hund, noch in der Gartensonne, ziemlich genau an dem Ort, wo er später, verbrannt und in eine Urne abgefüllt, ruhen wird. Er hat in den Jahren davor die angegorenen Kirschen von der Wiese gefressen, es hört sich nach einem genussvollen Tierleben an – doch in “Gewalten“ regiert nur noch Verfall. Es ist ein ganz und gar ungewöhnliches Tagebuch, das Clemens Meyer 2009 im Rahmen eines Stipendiums der Guntram und Irene Rinke-Stiftung erstellt hat. Ein “Tagewerk“ sollte es werden und es ist ein Bekenntnis geworden. “Gewalten“ sagt, ohne auch nur einmal weinerlich zu sein: “Ich kann bald nicht mehr.“
Der Held ist überfordert und wirkt unsicher, in jeder Hinsicht. Stilistisch ist “Gewalten“ unentschiedener als seine Vorgänger. Es wirkt suchender, nicht mehr ganz zu kraftmeiernd. Viel ist bereits geschrieben worden über dieses wunderbare Cover, das der Leipziger Maler Paule Hammer gestaltet hat. Zu sehen sind unzählbare Schneeflocken und in jeder steht einfach nur “Aua“. Seltsamerweise wurde dieser Klagelaut immer mit der Reaktion des Lesers verglichen, „Gewalten“ als ein Buch beschrieben, das schmerzhaft sei. Aber möglich ist auch, dass hier jemand die ganze Zeit schreit obwohl ihn nur ein paar Schneeflocken treffen. Der Mann leidet, ach was, alle Männer leiden hier – nicht nur am eingebildeten Kreuz in der Geschlossenen. Helft ihnen raus, verdammt!
Clemens Meyer. “Gewalten: Ein Tagebuch“, Fischer, 242 Seiten, 16,95 Euro
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