Gestern habe ich hier den ersten Teil meines „Dichterjuristen“-Aufsatzes über Georg M. Oswald veröffentlicht (gerade mit den hier nicht abgedruckten Fußnoten erschienen bei Königshauses & Neumann). Jetzt folgt Teil 2 – mit Niklas Luhmann ff., „Alles was zählt“, Komplexitätsreduktionen, „Lichtenbergs Fall“ und die nichtkontingente Verknüpfung kontingenter Sachverhalte. (Beitragsbild: Susanne Schleyer)
Krausser bemerkt, in welcher Weise Thomas Schwarz unter den Bedingungen verschiedener Systeme leidet, deren „feinstrukturierten Gesetze“ er nach seinem Rauswurf aus der Bank infrage stellt. Krausser thematisiert etliche Designelemente, die innerhalb der Systemtheorie manifestiert sind. Dazu gehören die Differenzen Komplexität / Komplexitätsreduktion, die Unterscheidung Identität / Differenz, der binäre Code, mit dem die Umwelt des Systems beobachtete wird, zudem symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (Macht/Liebe/Geld) und vor allem jene System- / Umwelt-Differenz (‚Drinnen‘ und ‚Draußen‘), die als „Ausgangspunkt der Luhmannschen Systemtheorie“ gilt.
Alles was zählt, dieser von Krausser analysierte Roman, ist die formal sehr straff erzählte Geschichte eines Ehrgeizlings, dessen Karriereweg abrupt endet, als er aufgrund einer noch ehrgeizigeren Chefin entlassen wird. Als dann auch noch seine Gattin Marianne ihren Job in einer Werbeagentur verliert, bricht das Leben des Double-Income-No-Kids-Pärchens auseinander.
Eben noch drinnen, sind sie nun draußen, nicht mehr Teil jenes Systems, das mit den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Macht, Geld, Aufmerksamkeit operiert.
Der Roman zeigt auf systemtheoretisch geradezu mustergültige Weise, wie das System der Wirtschaft (später auch jenes des Rechts) seine Umwelt beobachtet und wie die maßgebliche Differenz Geld / Kein-Geld als Unterscheidung innerhalb des Systems wieder eingeführt wird, als Schwarz zwar „draußen“ ist, aber gerade deshalb dem System, das er verlassen hat, neue Leistungen bereitstellen kann (er wird im zweiten Teil als Spitzel für eine kriminelle Organisation angeheuert, der er inzwischen selbst angehört, wodurch gewisse Paradoxien entstehen).
Drinnen, im System der Wirtschaft, wird die Umwelt allein unter jenem binären Code beobachtet, der aussagt, ob jemand/etwas Geld oder eben kein Geld besitzt, ob eine Handlung gewinnbringend oder mit Risiken behaftet ist. Auf diese Weise reagieren Systeme auf die komplexe Umwelt: indem sie Komplexitätsreduktion bereitstellen und nur einen Teilbereich der Gesellschaft wahrnehmen. So interessieren Thomas Schwarz (oder das System der Wirtschaft, für das er steht) keinesfalls ästhetischen Urteile, beobachtet er eine Gruppe Jugendlicher „so zwischen sechzehn und achtzehn Jahren“, die in direkter Nachbarschaft auf eine (Münchner) Berufsschule gehen.
Mich fasziniert, wie rührend lebendig diese jungen Menschen ihren Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung zum Ausdruck bringen. Und ich finde es wirklich beklemmend, daß unter ihnen auch nicht einer ist, dem es gelingen wird, das beschissene Leben in einer Zweizimmerwohnung, das sie ihren Eltern so bitter vorwerfen, hinter sich zu lassen. Woher ich das wissen will? Diese Kinder gehen auf eine Berufsschule, und wer heute auf eine Berufsschule geht, hat bereits verloren, das wissen Sie so gut wie ich. (Georg M. Oswald, Alles was zählt, a.a.O., S. 13.)
So urteilt jemand, der sich auf der Gewinnerseite wähnt, nichts ahnend, dass die ihn später ebenso treffende „‚Draußen‘ überschriebene zweite Hälfte nach 20 der 40 Kapitel exakt nach 100 der 200 Seiten des Buchs“ beginnt und ihn ins Unglück stürzen wird: „Natürlich, wenn ich danach gefragt werde, sage ich auch, das Ausländerproblem müsse auf die eine oder andere Weise gelöst werden. Aber eigentlich sehe ich das nicht. Ich sehe nur die einen, die drin sind, und die anderen, die hineinwollen.“
Sich selbst meint Thomas Schwarz in diesem Augenblick nicht. Dass er bald selbst Umwelt jenes wirtschaftlichen Systems ist, das bislang sein Leben strukturierte, ahnte der stellvertretende Leiter der Abteilung Abwicklung und Verwertung nicht einmal. Genau darin liegt der ästhetische Reiz dieses Romans. Er ist stringent und blickt unter binären (klaren) Codes auf seine Umwelt. So wird zwar die System-Umwelt-Differenz in Alles was zählt auch auf das System des Rechts angewendet. In Lichtenbergs Fall wird diese Differenz 1997, also drei Jahre zuvor, komplett romanübergreifend als Strukturelement aktualisiert. Der Rechtsanwalt (!) Carl Lichtenberg, Held des komplett im Konjunktiv manifesten Textes befindet sich schon zu Beginn des ersten Kapitels in einer problematischen (juristischen) Lage:
Befragt, ob er der Mörder seiner Schwiegermutter sei, rückte sich Lichtenberg zurecht, als sei die Rede auf eine interessante Hypothese gekommen, zu der er sich bisher nicht geäußert habe, dies aber nunmehr um so lieber tue, und er sagte, nichts habe er sich sehnlicher gewünscht, als endlich diese Frage gestellt zu bekommen, und nichts stünde ihm ferner, als sie in der erwarteten Weise zu beantworten.
Die hier gezeigte Kommunikationssituation zwischen Verdächtiger und Ermittler lässt sich differenzanalytisch insofern beschreiben, als zunächst festgehalten wird: Hier sind Alter und Ego nicht einer Meinung, es herrscht ein Dissens. Lichtenberg wird als Mörder seiner Schwiegermutter verdächtigt. Mit der Mitteilung des Polizeibeamten wird unterschieden zwischen dem, „was gesagt wurde, und dem, was dadurch ausgeschlossen bleibt“ – aber diesen Kommunikationsbegriff wird Luhmann erst später in seine Theorie integrieren.
GLU nennt hier beispielsweise Soziale Systeme (1984), The Autopoiesis of Social Systems (1986) und Was ist Kommunikation? (1987), Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997). – Für die folgenden Beobachtungen ist sowohl Lichtenbergs Fall als auch Alles was zählt betreffend wichtig, dass eine Komplementarität des Erwartens stattfindet, die in Talcott Parsons Konzept eine Nichtidentität und Wechselbezogenheit der Verhaltenserwartungen bezeichnet. Auf dieser Nichtidentität und Wechselbezogenheit beruht die Komplexität sozialer Systeme (beruht aber auch die Komplexität von Literatur).
Welche Folgen dieses Phänomen für das positive Recht einerseits, für eine systemtheoretische Beschreibung von Literatur im Allgemeinen und für die beiden Romane Georg M. Oswalds im Besonderen andererseits hat, wird hinführend in Recht und Kontingenz erläutert, wenn Luhmann schreibt, „daß nämlich Ordnung besteht, obwohl nicht alle immer schlicht das gleiche tun. Ego erwartet von Alter nicht dasselbe Verhalten wie Alter von Ego, wohl aber ‚entsprechende‘ anderes Verhalten. Juristen können sich das verdeutlichen mit der Einsicht, daß Rechten auf der einen Seite Pflichten auf der anderen entsprechen und umgekehrt: Der Verkäufer muß die Sache hergeben und nicht etwa ebenfalls erhalten. Die Verhaltensweisen müssen verschieden sein, aber zueinander passen, und in dieser Struktur erwartet werden können.“ (Niklas Luhmann, Kontingenz und Recht, a.a.O., S. 49.)
Luhmann führt aus, in welcher Weise das Erzählen eines Erlebnisses deshalb „Ausdruck der Erwartung gemeinsames Interesses“ ist, weil beispielsweise geduldig gehört werden muss (Gleiches gilt für Literatur). Dass er dieses Konzept aus der Analyse des Rechts entwickelt, ist dabei nicht als zufällig, sondern allenfalls als kontingent zu bezeichnen. Es erhellt aber sowohl das Verständnis von Oswalds Werk als auch jenes über spätere Konzepte der systemtheoretischen Literaturwissenschaft.
Systeme haben sich im Laufe der Zeit evolutionär entwickelt. In der zunächst archaischen Gesellschaft wurden jedem Mitglied die gleichen Aufgaben zugeordnet (alle müssen jagen). Später bildeten sich Systeme, die spezielle Probleme der immer komplexer organisierten Gesellschaft bearbeiteten. Sie waren also nicht mehr für alle Probleme gleichermaßen zuständig. Die Systeme dieser neuen, funktional differenzierten Gesellschaften entwickelten Strategien, um Ereignisse ihrer Umwelt selegieren zu können. So beobachtet das System der Wirtschaft seine Umwelt unter dem binären Code Geld / Kein-Geld, das System der Krankenbehandlung (Medizin) selegiert mittels der Unterscheidung krank / gesund usw. Von genau dieser Gesellschaftsbeschreibung spricht auch Georg M. Oswald, wenn er in einer seiner Poetikvorlesungen sagt:
Die Fragmentierung der Öffentlichkeit ist ein mit dem beschriebenen Sachverhalt verknüpfter Begriff. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass es viele Öffentlichkeiten gibt, die nebeneinander existieren, ohne sich zueinander zu verhalten, voneinander Notiz zu nehmen oder auch nur von ihrem Vorhandensein zu wissen. Für einen Schriftsteller bedeutet das, wie für jeden anderen, der publiziert, dass man heute alles zugleich sein kann, unter vielem anderen auch: bekannt und unbekannt. (Georg M. Oswald, Juli Zeh, Aufgedrängte Bereicherung, a.a.O., S. 46.)
Es sind eben diese Öffentlichkeiten oder Systeme, mit denen Lichtenberg und Schwarz in den beiden Romanen operieren müssen. Beide Helden sind, obschon Lichtenberg Anwalt ist, gefangen im Wirtschaftssystem: „Nur Geld allein mache glücklich, so Lichtenberg, weswegen jeder der seine, Lichtenbergs, jüngsten Kontoauszüge studiere, gleich erkennen könne, wie unglücklich er sei.“
In diesem System wird in Lichtenbergs Fall auch die mit Geld verbundene Heirat zur Machtfrage, Sex zur Ware, die Ehe zur Grundsicherungsinstitution. In Alles was zählt bekennt Thomas Schwarz nach Ansicht seiner karrieretechnisch optimierten Bewerbungsmappe: „Natürlich offenbaren diese Unterlagen nichts über meine Angst, meinen Zorn, meine Verzweiflung, meine Liebe, mein Glück, mein Unglück.“ Dass das System der Liebe bedingt, dass die Umwelt unter einem anderen binären Code beobachtete wird, ahnt Schwarz erst, als er mit seiner neuen Geliebten einkaufen geht:
Der Einkaufsbummel mit Sabine war ein Desaster. […] Ich kaufte ihr den Scheiß-Seidenschal, sie wehrte sich, wollte ihn mir aus der Hand reißen, als ich zur Kasse ging, doch ich kaufte das Ding und stopfte es in eine ihrer Einkaufstaschen. Sie wurde vulgär, als wir streitend zur U-Bahn-Station hinuntergingen. Ich allerdings auch. Sie nannte mich einen ‚kranken Geldarsch‘, ich sie, etwas einfallslos, eine ‚dumme Fotze‘. Umstehende drehten sich wegen des Geschreis nach uns um, was mir Anlaß war, Sabine einfach stehenzulassen, mit Klamotten für fünftausend in ihren Taschen, heulend, und es war doch viel zu wenig.“ (Georg M. Oswald, Alles was zählt, a.a.O., S. 139.)
Selektionen bedingen Entscheidungen, und mit Luhmann und Blick auf das Phänomen der „Dichterjuristen“ muss nun gefragt werden, in welcher Weise juristische Entscheidungen von wirtschaftlichen Entscheidungen oder von politischen Entscheidungen oder von der Wahl eines Partners für Intimbeziehungen unterschieden werden können. Luhmann schlägt hier ein Konzept vor, welches den hermeneutischen „Blick aufs Ganze“ ersetzt durch den „Blick auf Kontingenz“. – In seiner Studie nähert sich Luhmann dem Phänomen der Kontingenz auf verschiedenartige Weise. Er beschreibt, wie in der Scholastik Kontingenz beschrieben wurde als die „Möglichkeit eines Gegenstandes, anders zu sein oder nicht zu sein“: „Auf Kontingenz zu achten heißt demnach, Seiendes (oder in anderen Zusammenhängen: Aussagen über Seiendes) im Lichte anderer Möglichkeiten zu betrachten: als abhängig von, als geeignet zu, als Alternative für…“
Er beschreibt die Kontingenztheologie Johannes Duns Scotus’, das Prinzip der „Kontingenz als Negation einer natürlich-positiven Ordnung“ bei Thomas Hobbes, welche Bedeutung dem Prinzip der „doppelten Kontingenz“ hinzukommt, die allen Interaktanten einer Handlung ermöglicht, passende oder nichtpassende Handlungen beizusteuern. „Unmittelbar bedeutsam für die Rechtstheorie ist […] die Möglichkeit einer nichtkontingenten Verknüpfung kontingenter Sachverhalte. Sie ordnet eine Mehrheit von kontingenten Sachverhalten in einem System, das heißt in ihrem Verhältnis zueinander. […] Steigerung von Kontingenz in Systemen bedeutet nicht unbedingt eine entsprechende Abnahme von Notwendigkeiten, wohl aber deren Abstraktion, Kontingentes kann in höheren Abstraktionslagen konditional verknüpft werden; weder A noch B sind dann notwendig, auf keines für sich kann man sich dann verlassen, aber wenn A, dann B.“ (Luhmann, Kontingenz und Recht, a.a.O., S. 58.) Diese „nichtkontingente Verknüpfung kontingenter Sachverhalte“ leistet das Rechtssystem, dessen Produktivität „in Generalisierungsleistungen (liegt), die Recht/Unrecht-Konstellationen von höherer Komplexität und damit eine komplexere gesellschaftliche Wirklichkeit tragbar machen. Ihr Erkenntnisinteresse geht, im Unterschied zur Jurisprudenz, nicht mehr auf Begründungen, sondern auf Wachstumsbedingungen.“
Nichtkontingente Verknüpfung kontingenter Sachverhalte bedeutet: Das System des Rechts muss auf eine komplexe, kontingent existente Umwelt reagieren. Innerhalb des Systems ist es jedoch gezwungen, Entscheidungen zu fällen – ein Nein wird nicht akzeptiert. Am Ende jeder Verhandlung muss zwingend ein Urteil stehen. Die Evolution des Systems sichert, dass jederzeit adäquat auf die komplexe Umwelt reagiert werden kann (z.B. durch Gesetzesnovellen). Gleichzeitig werden in der Umwelt kontingente Handlungen auf Nichtkontingenz umgestellt.
Der Stoff meines Romans ist die Verabredung, der Händedruck, die Zusage, das Ehrenwort, die Begehrlichkeit, das Mitmachen und welche Rolle diese Dinge in der streng reglementierten juristischen Sphäre spielen, in der sie, wenn überhaupt, nur in genau definierten Grenzen vorkommen dürften. Wer je eine Gerichtsverhandlung erlebt hat, weiß, dass dort vom hocheleganten intellektuellen Florettgefecht bis zur Jerry-Springer-Show alles möglich ist. (Georg M. Oswald, Juli Zeh, Aufgedrängte Bereicherung, a.a.O., S. 55.)
Was Oswald hier über Vom Geist der Gesetze aussagt, gilt auf rein systemtheoretischer Ebene auch für Lichtenbergs Fall und Alles was zählt. In den Romanen zeigt Oswald in nuce, wie Handlungen im Rechtssystem von Kontingenz auf Nichtkontingenz umgestellt werden, „passende Handlungen“ durch das System erzwungen werden. „[A]llein, was für die Rekonstruktion der Tatumstände und die Überführung des Täters relevant“ ist, wird in Lichtenbergs Fall vom System des Rechts berücksichtigt. In Alles was zählt, wenn Thomas Schwarz „Draußen“ ist und vom rechtlich erfassten Wirtschaftssystem gewechselt ist ins kriminelle Milieu, werden andere Handlungen sichergestellt – allerdings jene, die vom System der Unterwelt erwartet werden, was Georg M. Oswald in geradezu satirischer Weise inszeniert: „Uwe und Anatol ziehen die übliche Nummer ab – die Stammplätze an der hinteren Bar einnehmen, Johnny Walker Black Label ordern, Sprüche klopfen, Muskeln herzeigen, auf dem Klo verschwinden, koksen.“
Die Systeme, die Oswald in seinen Romanen beschreibt, verbinden alle auf ihre Weise Kontingenz und Nichtkontingenz, sorgen für Komplexitätsreduktion, beobachten ihre Umwelt unter binären Codes – als seien sie systemtheoretische Beobachtungen. Wer außerhalb der vom System als nichtkontingent festgelegten Kommunikationen handelt, wird suspendiert, „regelmäßig als Systemveränderer entlarvt.“ Erfolg hat, wie Thomas Schwarz, wer irgendwann die erwarteten Handlungen innerhalb eines Systems verstanden hat und sich anpasst.
Systemveränderer haben keinen Erfolg. Aber mit Blick in Georg Francks Ökonomie der Aufmerksamkeit kann angenommen werden, dass in einem System gewonnenes kulturelles Kapital gewinnbringend im nächsten System ausgegeben werden kann. Eigentlich ist genau das „alles, was zählt“. – „Ich legte das Abitur ab. Teil meiner Rechnung war gewesen, dass ein im Wagenbach Verlag erschienener Gedichtband meinen Eltern die Entscheidung erleichtert hätte, mir ein Studium der Philosophie und Literatur zu finanzieren, mit dem Ziel, Dichter zu werden.
Von heute aus betrachtet meine ich, damals die Bedeutung einer solchen Publikation vor allem in ökonomischer Hinsicht überschätzt zu haben. Ich musste also ein Studium finden, das einerseits den Sicherheitsbedürfnissen meiner Eltern Rechnung trug und mir andererseits ermöglichte, was ich jetzt tun wollte: lesen und schreiben, um Schriftsteller zu werden.“ (Georg M. Oswald, Juli Zeh, Aufgedrängte Bereicherung, a.a.O., S. 38.)
Der Plan ging nicht auf. Georg M. Oswalds erster Gedichtband wurde von Wagenbach abgelehnt. Deshalb entschied sich der Münchner Abiturient, Jura zu studieren und in seiner Freizeit zu schreiben. Dass er dann schnell erste Stipendien und Preise zugedacht bekam, mag sein Wunsch, nicht aber seine Erwartung gewesen sein. Er wurde beides: Rechtsanwalt und Schriftsteller, Jurist und Verleger. Die beiden Systeme Literatur und Recht sind in Oswalds Fall seit nunmehr zwei Jahrzehnten strukturell miteinander gekoppelt. Aus dem Jurastudenten mit literarischer Ambition wurde ein „Dichterjurist“.
Im hier präsentierten Aufsatz sollte belegt werden, dass Niklas Luhmanns Kontingenz und Recht mit Oswalds Lichtenbergs Fall und Alles was zählt auf inhaltlicher, formaler, systemtheoretisch beobachtbarer Ebene parallelisierbar ist. Dieser Anforderung konnte gerecht werden, weil hier in der Tat zwei Juristen dem Rechtssystem immanent zuordbare Phänomene auf wissenschaftlich/ästhetisch analoge Art und Weise aktualisieren.
Ich betrachte meine juristische Ausbildung und Praxis deshalb als Voraussetzung meiner literarischen Arbeit, und zwar nicht in dem platten Sinn, dass mir die Arbeit als Anwalt die Geschichten liefert, die ich dann aufschreibe. Vielmehr ist sie eine Lesart der Welt, die mir immer dann als die dem Menschen würdigste erscheint, wenn sie auf Erkenntnis setzt, auf die Möglichkeit des Verstehens, der Vernunft. Von manchen Kritikern werde ich deshalb gerne als politischer Autor gesehen, ich meide dieses Adjektiv, da es impliziert, ich verfolge eine bestimmte Richtung oder Tendenz, was ich nicht tue. Mein Interesse gilt der Beobachtung und Beschreibung von Zuständen und der Frage, wie diese Zustände das gesellschaftliche und private Handeln bedingen – und vice versa das Handeln die Zustände. (Georg M. Oswald, Juli Zeh, Aufgedrängte Bereicherung, a.a.O., S. 42.)
In welchem Maße Oswald als Autor bewusst oder unbewusst mit systemtheoretischen Beobachtungsweisen operiert, spielt für die literaturwissenschaftliche Analyse keine Rolle, solange Parallelisierungen explizit gemacht werden können. Mithilfe von Luhmanns Studie Kontingenz und Recht konnten Handlungen, Umweltbeobachtungen und Kontingenzbeschränkungen belegt werden, die differenzanalytisch sowohl für das Recht als auch für die hier von einem Juristen verfasste Literatur gelten.
Natürlich existieren weiterhin blinde Flecken, die erst durch eine Beobachtung zweiter Ordnung einsehbar wären. Es gibt notwendigerweise Leerstellen, wie in jeder Theorie, denn „in jedem Falle muß der übermäßig komplexen Wirklichkeit ein differenziertes theoretisches Instrumentarium entgegengesetzt werden. […] Sie liegt historisch in der ungeplant entstandenen Fächerdifferenzierung vor. Sie kann, in Bezug auf logische Antinomien, als Differenzierung von Theorieebenen oder Sprachsystemen ausgearbeitet werden.“ (Niklas Luhmann, Kontingenz und Recht, a.a.O., S. 23.)
Trotz dieser blinden Flecken und Leerstellen wurde mit „Kontingenz und Recht in Georg M. Oswalds Romanen Lichtenbergs Fall (1997) und Alles was zählt (2000)“ ein Ausblick ermöglicht, von Luhmanns rechtstheoretischen Überlegungen der „frühen Jahre“ weisend zum späteren Design der Systemtheorie – also jener Neustrukturierung, wenn Handlungen durch Kommunikationen ersetzt werden, Rechtsphilosophie durch Rechtssoziologie und die Erweiterung des Instrumentariums sogar erste Beobachtungen der Systeme Kunst und Literatur ermöglicht. Mag auch jedes psychische System auf eine andere Art und Weise mit seiner Umwelt kommunizieren – bei wenigen Dichterjuristen kann so klar wie eben bei Georg M. Oswald expliziert werden, wie die rechtssystemische nichtkontingente Verknüpfung kontingenter Sachverhalte die Selektion und Autopoiesis literarischer Texte determiniert.
[…] glücklose Schmitz überraschend schnell abgelöst von Schriftsteller Georg M. Oswald (hier und hier im LesenMitLinks-Blog auf ). Ob es also irgendwann beim Benevento-Verlag heißen wird, “Red […]
[…] In eigener Sache: Der Sommer war vollgepackt mit neuen Geschichten, Veröffentlichungen, schönen Begegnungen – beispielsweise auf der Gamescom und beim Internationalen Literaturfestival in Berlin (wo ich Literaturfan und Autogrammjäger Bodo Hoepner endlich persönlich traf – von ihm ist auch das Beitragsbild). Anlass war der gerade erschienene „New Level“-Sammelband im Metrolit-Verlag (herausgegeben von Thomas Böhm). Außerdem erschien „Dichterjuristen – Studien zur Poesie des Rechts“ bei Königshausen und Neumann (herausgegeben von Yvonne Nilges) mit meinem Aufsatz über „Kontingenz und Recht“ bei Georg M. Oswald. […]
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