„Manchmal ist Mutter sehr laut hinter der Tür zum Schlafzimmer, und dann sitzen Berti und ich unten in der Küche und horchen hinauf, wie die Türen schlagen, und wir sind froh, denn Streit ist nur gesund, und Mutter meint ihre Worte ja nicht ernst. Dass sie nämlich bald weggehen und uns mitnehmen wird. Wohin?, fragt Vater dann, und da muss Mutter ihm recht geben. Denn wovon sollen wir Klimpergeld haben, wenn nicht vom Unternehmertum?“ Matthias Nawarat („Wir zwei allein“) schildert in seinem zweiten Roman „Unternehmer“ eine Kindheit unter marktliberalen Vorzeichen.
Im Todesjahr der Freidemokraten siedelt Matthias Nawrat seinen zweiten Roman im FDP-Stammland Baden-Württemberg an und erzählt, der Titel sagt es bereits, von einem „Unternehmer“. In postapokalyptischer Schwarzwald-Szenerie sammeln „der Vater“, sein armloser Sohn Berti und die dreizehnjährige Tochter Lipa wie Slumkinder der so genannten „Dritten Welt“ Elektroschrott, um diesen später brav sortiert beim Großabnehmer zu veräußern, dessen Betrieb „Paradies“ genannt wird. Im Paradies verwandeln sich Tandal und Wolfram in „Klimpergeld“, und weil ohne Kohle kein Leben denkbar scheint zählen für die adolszente Ich-Erzählerin allein der Kilopreis für Wolframfolien und die noch zu finanzierende Zukunft im fernen Neuseeland. Dorthin wollen die Familienunternehmer gemeinsam mit ihrer Mutter auswandern, sobald ausreichend Geld auf der hohen Kante liegt.
Unrentable Schwimmbadnachmittage kommen gegen derartige Marktvorstellungen keinesfalls an, und das Konzept Schule ist Lipa, vielleicht weil sie es nie kennenlernen durfte, suspekt. Denn zum einen ist die Schule „der Ort, an dem eine Vorbereitung auf künftige Arbeit stattfindet, zum anderen aber ist er bereits Arbeit, nur ohne erkennbaren Unternehmensprofit sodass ich an eine gelungene Schauspielerei denken muss, während ich Herr Gombrowiczs Erklärungen aufschreibe. Denn warum schreiben die Arbeitslosen hier sonst irgendetwas auf, wenn nicht, um so zu tun, als würden sie arbeiten?“
Als der Vater wegen schwerer Krankheit aus dem Kleinunternehmen ausscheidet, rückt Lipa nicht wie erhofft von ihrer Assistentenstelle in die Firmenleitung nach, sondern muss plötzlich Primzahlen in der Untertertia pauken. „Die Schule in Schönau ist ein verkaudertes Menetekel, und wie ich lachen muss. Es ist nicht ein Gebäude, nicht ein Bahnhof. Und doch herrscht darin ein lautes Durcheinander der Arbeitslosigkeit, und das dringt durch die Fenster in den Hof, wo Mutter mit Direktorin Herrmann steht, die Flügel an den Augen hat.“ Mathematik ohne echte Gewinn-Verlust wirkt auf Lipa sinnfrei, weil die Schülerin die wirtschaftspolitischen Forderungen nach kapitalistischem Praxisbezug von Lehre und Lernen tief verinnerlicht hat.
Zu allem Überfluss muss sie Kameradin Sabrina beim Trampolinspringen am Nachmittag zusehen, obwohl es ein sinnloses Auf und Ab ist, ein Springen, das immer dort endet, wo es angefangen hat, um für ein, zwei trügerische Sekunden wieder in die Höhe zu gehen. „Ob wir allmählich etwas anderes machen wollen, frage ich. Zum Beispiel Primzahlen lernen, Primzahlen sind wichtig. In Wahrheit, sagt Sabrina, mag sie Hausaufgaben nicht. Aber wie sie denn aus der Arbeitslosigkeit wieder rauskommen will, frage ich. Ob sie immer nur Trampolin springen will.“ – Wirtschaftsliberale Konzepte von Ich-AG, Eigenverantwortung, Aufstieg durch eigener Hände Arbeit führen bei Nawrat auf absurd-komische Weise in eine lustfreie Ödnis. Selbst der erste Kuss geht an Lipa vorüber wie die jährlichen Dividendenzahlung eines pfennigfuchsenden Volksaktienbesitzers.
Matthias Nawrat : „Unternehmer“, Rowohlt , 144 S., 16,95 Euro / Beitragsbild: Schwarzwaldhaus um 1900