2011 war Island Ehrengast der Frankfurter Buchmesse – dadurch kam die kalte Insel des legendären Bankencrashs 800 Jahre nach den Íslendingasögur wieder aufs literarische Tableau (gut, das ist übertrieben, aber die bis dahin meistrezipierten Texte des Landes dürften die Lyrics von Björk gewesen sein). Nun kommt die isländische Autorin Sólveig Jónsdóttir mit ihrem, wie sagt man jetzt: charmanten und warmherzigen Roman „Ganze Tage im Café“ (sagt man das so in Liebeslieblingsbücherbloggerkreisen?) und spielt umfassend mit Formen und Inhalten des Chick-lit-Genres. Ein bahnbrechender Erfolg im Heimatland. Die Filmrechte sind längst verkauft. Ein großer Spaß für jede nicht-gegenderte LesenMitLinks-Rezension, ein Buch, das Larissa Marolt gefallen, vielleicht sogar VERSTÖREN würde.
Ein bisschen erinnern die ersten beiden Kapitel von „Ganze Tage im Café“ an den Anfang des Alten Testaments, wo in der Genesis zweimal die Entstehung unserer Welt beschrieben wird. Bei Sólveig Jónsdóttir wird dagegen zweimal hintereinander eine Welt vernichtet – zunächst jenes der Noch-Café-Bediensteten Hervör, die von ihrem Lover, einem ihrer einstigen Professoren, abserviert wird. In Kapitel zwei erwischt es Mía, weil sich ihr Freund in eine andere verknallt hat. So kann es gehen, so geht es doch immer seit Chick- und Lad-lit, jener Literatur also, die von adolszenten Krisen ihrer Twenprotagonisten erzählt.
Was sind das für Heldinnen? Die 27-jährige Hervör steckt tief im Kontominus, träumt aber von fernen Ländern, „vollauf der Tatsache bewusst, dass die längste Reise. die ihre Mastercard noch genehmigen würde, mit Sicherheit vor den Toren der Stadt schon zu Ende wäre.“ Sie findet ihr B-Körbchen zu klein, schluckt wie ein Kind die Zahnpaste herunter und versteckt hektisch ihre „27 Dresses“- und „Bridget Jones“-DVDs, bevor ihr 19 Jahre älterer Professor anrückt, „damit nur noch die Meisterwerke Polanskis, Hitchcocks und Kubricks die Regale schmückten“. In der Selbstbeschreibung: „Eine junge Frau auf dem Weg nach oben. Das bin ich. Koche Kaffee, mache die Tische sauber, backe gefrorene Puddingschnecken auf etcetera.“ Ihre Beziehung endet mit einem zarten Kuss auf der Türschwelle.
Mía, Gast in jenem Café, in dem Hervör angestellt ist, kommt aktiver, selbstbewusster und emanzipierter daher. Sie wohnt mit ihrem Freund zusammen, als der ihr eröffnet, sie nicht mehr zu lieben. Ihre Beziehung endet, indem sie sich spontan übergibt und ihrem Freund „fass mich nicht an“ entgegenzischt, als der ihre Haare halten will, während sie in die Toilette spuckt. Ihr Leben ist fortan Kotzen und Wut. Sie zieht sofort aus und macht ihrem Ex eine ziemliche Szene, als sie ihn mit der Neuen („Schlampe!“) am Tresen stehen sieht: „Ich kann es nicht fassen, dass du dich hier amüsierst, gerade mal eine Woche, nachdem wir uns getrennt haben. Und dann auch noch ausgerechnet hier, ausgerechnet ein Konzert mit unserer Band. Was für ein verdammter Loser du doch bist.“ Wenig später liegt sie nach einem Treppensturz alkoholvergiftet und angestoßen im Krankenwagen, wo sie Rettungssanitäter Gunnar angräbt mit den Worten „coole Uniform“, sich dann wieder übergibt, kein bisschen treffsicher. „Sorry. Was bin ich nur für ein widerlicher Mensch. Und du, Gunnar, so ein cooler Typ, und ich kotz dich auch noch voll.“
Dann ist da noch die Ärztin Silja, die nach einer anstrengenden Schicht – Schlägereien, Motorradunfälle, ein Handgelenkbruch nach einer Pillenparty – zu ihrem Mann Baldur zurückkehrt, der sie kurz zuvor betrogen hat. Das One-Night-Mädchen und Silja trafen sich damals im Wohnungsflur, während ihr Gatte noch im Bett gelegen hatte. Wenig später wird sie Baldur mit den Worten begrüssen: „Wie ich sehe, hast Du wieder Unterwäsche an“, sich dann aber mit dem Küchenmesser in die Hand schneiden, und über die fehlende Entschuldigung ärgern. „Einen Augenblick kam ihr in den Sinn, sich ihm in die Arme zu werfen, damit alles wieder in Ordnung käme. Verzeihen, trösten und weitermachen. Doch auf dem Weg zu ihm hin änderte sie ihre Meinung und donnerte ihm die geballte Faust mit dem durch und durch blutigen Geschirrtuch aufs Auge.“
Soweit Figuren und Setting. Nun ist Island eine kaum besiedelte Insel, weshalb es gerade hier naheliegt, alle beteiligten Männer und Frauen untereinander zu vernetzen. Darin wirkt der Roman auch glaubwürdiger als deutsche Beziehungskomödien der 1990er Jahre wie „Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit“, wo am Ende der „gordische Knoten der Liebe“ umso fester gezurrt wird. „Ganze Tage im Café“ erinnert durchaus an den Film von Marc Rothemund, in dem Christoph Waltz in seiner Rolle als verhinderter Romanzenschriftsteller einem größeren Publikum vorgestellt wurde.
In „Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit“ gibt es verhinderte Dates, vertauschte Babys, Tandem-Selbstmordversuche und Diskussionen über verlorene Chancen, vernebelte Visionen, Gudrun Landgrebe und Michaela May, die als Münchner Version von Thelma & Louise die Suche nach einer Art Kick wagen, zudem chaotische Familienverhältnisse, Verwechslungsszenen, Zufallsballungen, die man hinnimmt, weil der Film schlichtweg unterhaltsam und sympathisch ist.
Bei Sólveig Jónsdóttir gibt es teilweise identische Gags wie im Film, auch kreuzweises Betrügen und Verlieben, Screwball-Situationen und fehlgeleitete SMS, was zu Sätzen dieser Art führt: „Ja, das bin nämlich ich. Die Schlampe. Zu Hause bei ihr. Deine Schwester und ich kennen uns bereits, weil sie nach Hause kam, bevor ich abhauen konnte.“ Dem hinzugestellt werden zeittypische Probleme des Landes – Überschuldungen durch ein Studium, das nun zwecklos ist in einer Zeit hoher Akademikerarbeitslosigkeit, das immer wiederkehrende Gefühl, auf dieser Insel festzusetzen, absolut gefangen zu sein, eben nicht ausbrechen zu können, wodurch dem Titel „Ganze Tage im Café“ eine bittere Konnotation hinzugefügt wird.
Deshalb gibt es bei diesem Buch auch andere Kategorien als beispielsweise bei der Besprechung von Hédi Kaddours „Waltenberg“. – „Ein Café im coolen Stadtteil 101 Reykjavík, Treffpunkt für vier junge Frauen. So manches ist schiefgelaufen. Das Leben ein Drama. Die Männer eine Katastrophe. Auf den Herzschmerz aber folgt die Einsicht, dass es Wichtigeres gibt als den Traum von der großen Liebe. – Scharfsinnig, witzig, clever – der rasante Roman der isländischen Bestsellerautorin Sólveig Jónsdóttir.“ Eben so steht es auf dem gelben Klappentext, umrahmt von Kaffeetassenflecken (der auch auf dem Cover abgebildet ist). Hier werden Textmaßstäbe ausgestellt, die in anderen Zusammenhängen seltsam wirken würden. „Ein witziges Buch von Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk“, oder: „der ebenso rasante wie scharfsinnige Herzschmerz-Roman von Peter Handke“, wie klingt denn das?
„Ganze Tage im Café“ ist kein Bridget-Jones-Kitsch, aber Hugh Grant wäre vor fünfzehn Jahren für die Verfilmung angefragt worden. „Ganze Tage im Café“ ist „Legally blonde“ und „Meet the Fockers“ näher als Nicholas Sparks, rasant in einer Weise, wie Komödien mit Katja Riemann rasant genannt werden können, ein bisschen Scripted Reality und Girls (nur vom Kleinen Fernsehspiel als von Lena Dunhamk erdacht), also: eine etwas schwer fassbare Mischung, die sich keineswegs anbietet, von Don-Winslow-Fans gelesen zu werden. Aber es vermeidet Klischees und ironisiert diese Klischees, sollten sie denn doch auftauchen. Dieses Buch (charmant, witzig, leichtgängig) wirkt ein bisschen „hip for the unhip“ wie die Klamotten des Covergirls. Es ist clever, aber eher im Sinne von plietsch als von raffiniert. „Ganze Tage im Café“ ist wie Flußkrebse bei IKEA essen – und sich am Free-Refill der Limonade freuen. Ein Chick-lit-Roman von Suhrkamp, der noch lieber in der Lemon-Reihe von Knaur erschienen wäre. (Das Beitragsbild oben habe ich selbst fotografiert).
Sólveig Jónsdóttir: „Ganze Tage im Café“, übersetzt von Sabine Leskopf, Insel, 412 Seiten, 9,99 Euro
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