Der Samurai ist zurück im Roman „Ich nannte ihn Krawatte“ von Milena Michiko Flašar. Die Österreicherin erzählt von Selbstmorden, Scham und einer ungewöhnlichen Männerfreundschaft.
Das Wakashudō-Verhältnis ist eine rätselhafte Einrichtung, die Europäer schlecht nachvollziehen können. Vom 12. bis 19. Jahrhundert existierte dieses erotische Lehrer-Schüler-Verhältnis in der japanischer Samuraikultur. Es war fester Bestandteil der Kampfausbildung heranwachsender Knaben und ging nach Abschluss der Ausbildung in eine platonische, also nicht-sexuelle Freundesbeziehung zwischen Lehrer und Schüler über.
Zum Jahrtausendwechsel, lange nach dem Niedergang der Samurais, kamen ganz besondere Geschichten auf den Markt. Sie stellten Helden vor, die sich dem „Bushido“-Verhaltenskodex der alten japanischen Kämpfer verschrieben hatten. Dazu gehörte Jim Jarmuschs Film „Ghost Dog – Der Weg des Samurai“, aber auch der Roman „Eine Art Idol“ von Popautor Marc Fischer. Zur gleichen Zeit feierte die Samurai-Bibel „Hagakure“ einen bahnbrechenden Erfolg – als das erste „Book on Demand“-Werk, das in Deutschland auf die Bestsellerlisten gelangte.
Milena Michiko Flašar, Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, setzt an der gleichen Stelle an – nur kommen weder Samuarai noch die Hagakure direkt vor. Sie bedient sich aber des gleichen Prinzips und erzählt von einer sehr problematischen Wakashudō-Beziehung im Japan von heute. Es ist eine Beziehung, die bereits in der platonischen Phase einsetzt, die unappetitlichen Aspekte also ausgespart.
Ein Schüler hat sich vom 18. bis zum 20. Lebensjahr im Kinderzimmer eingeschlossen. Er wurde ein „Hikikomori“, ein Gesellschaftsverweigerer. Unter großen Druck sollen viele junge Menschen im heutigen Japan „dicht gemacht“ haben. Sie sitzen allein in ihrem Zimmer und lassen niemanden rein. Schätzungen gehen von 100.000 bis 320.000 Hikikomori aus. „Es ist nicht leicht, einen Hikikomori in der Familie zu haben. Gerade am Anfang nicht. Man weiß: Da ist die Schwelle, dahinter sein Zimmer, darin hat er sich totgestellt.“
Eines Tages verlässt der Hikikomori sein Gefängnis und geht aus dem Gewühl der Stadt hinein in ein Stückchen Natur, in einen ruhigen Park. Er setzt sich auf eine Bank. Auf dieser Bank trifft er einen Geschäftsmann, Ende 50, der korrekt gekleidet ist und schnell den Spitznamen „Krawatte“ verpasst bekommt. „Krawatte“ hat seinen Job verloren, weil er nicht effizient genug gearbeitet hat. Aus Scham spiegelt er seiner Ehefrau weiterhin ein heiles Arbeitsleben vor. Seine Krawatte ist nichts anderes als der Strick eines Todgeweihten auf dem Weg zum Schafott.
Die beiden Männer nähern sich an. Der junge sucht nach einem Weg zurück in die Welt, der alte dagegen einen Weg hinaus. Und so sprechen sie, beide Außenseiter, über Schicksalsschläge, Augenblicke größter Scham, über das Leben nach dem Tod, über Selbstmörder und behinderte Kinder, über das Sich-fremd-Fühlen in unserer Gegenwart. Das sind kurz geschilderte Therapiesitzungen, die aber durch ihre ständigen Anspielungen auf die japanische Geschichte, auf Samurai-Mythen und Hagakure-Losungen eine faszinierende Tiefe bekommen.
„Ich nannte ihn Krawatte“ ist kein harmloser Roman über eine weinerliche Mann-Mann-Beziehung, sondern die schonungslose Beichte zwei Alleingelassener. Die ganze Zeit bleibt natürlich diese Hoffnung, Schüler und Lehrer könnten sich gegenseitig retten. Aber ihre sich gegenseitig hochschaukelnde Destruktivität, ihr Jammer, Kasteien und Weh-Klagen (man möchte sich manchmal vor Schmerzen die Ohren zuhalten) lotst die beiden Anti-Helden straight Richtung Abgrund. Gänsehaut! Großer Text.
Milena Michiko Flašar: „Ich nannte ihn Krawatte“ Wagenbach, 142 Seiten, 16,90 Euro