Alle Toten fliegen hoch! Joachim Meyerhoff, Schauspieler des Jahres 2007 fragt: „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war? – Und ist mit diesem großartigen Roman seit über einem Jahr auf den Bestsellerlisten vertreten (aktuell Platz 30).
Erstmal stirbt ein Rentner: Der siebenjährige Joachim, von allen nur „Josse“ genannt, findet auf dem Schulweg eine Leiche im Gras. „Er war vollständig und, wie es mir vorkam, vornehm gekleidet.“ Der Knirps rennt in die Klasse, erzählt atemlos von seiner Entdeckung. Doch seine Lehrerin glaubt Josse nicht. „Auf meinen Toten zu beharren schien plötzlich viel schwerer zu sein, als ihrer Ungläubigkeit nachzugeben und allem einfach abzuschwören.“ Josse lernt nun etwas ganz und gar Entscheidendes. Eine Geschichte muss nicht richtig, sondern glaubwürdig sein, damit sie angenommen wird.
Deshalb ist auch gleichgültig, ob dieser Josse eine jüngere Version von Joachim Meyerhoff ist. Er ist aber eine glaubwürdige oder wahrscheinliche Version des Schauspielers, der seine Josse-Geschichten in den vergangenen Jahren bereits als umfeierten Bühnenmonolog präsentiert hat. Seine Geschichte kommt aus dem Mündlichen, aus der wirklichen Erzählung, was man ihr in ihrem pointierten Plauderton auch permanent merkt. Dem Schuldirektor gegenüber wird sich Josse an die Fakten halten. Denn eigentlich hat er nicht viel gesehen. Der Tote lag auf dem Bauch, Gesicht nach unten, im Gras. Doch den stürmischen Klassenkameraden muss der Tote anders nähergebracht werden. Josse steht im Mittelpunkt und wird notgedrungen zum Entertainer.
„Meine Frager hatten solch eine Sehnsucht nach dem Gesicht des Verblichenen, dass sie ihn durch die Intensität ihrer Fragen nach und nach auf den Rücken drehten. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Von Pause zu Pause wurde mein Toter gruseliger. Gegen zehn Uhr starrten seine geöffneten Augen in den Himmel, gegen zwölf Uhr hing aus dem zahnlosen Rentnermund bereits eine weißliche Zunge heraus und der Beginn der letzten Schulstunde verhinderte nur knapp, dass ihm ein schwarz schillernder Käfer in den Schlund krabbelte.“
Josse ahnt, was Zuhörer fasziniert, weil er selbst in einer Umgebung aufwächst, die voll ist von faszinierenden Augenblicken. Sein Vater ist Direktor der Kindernervenheilanstalt in Schleswig. Da einige Patienten bis ins Erwachsenenalter hinein auf dem gesicherten Gelände bleiben, trifft Josse im „Hinterhof der traurigen Eulen“ auf deformierte Menschen mit kahlrasierten Schädeln, etwas weiter die Depressiven bei ihrer Dauerraucherpause, außerdem ein Kind ohne Augen, das sich auf die zugewachsene Gesichtsfläche Pupillen gemalt hat, auf einen Wächter in Phantasieuniform, der jeden Morgen fragt, ob Josse wieder „ficki-ficki machen“ geht.
„Meine Brüder und ich gaben den Patienten die unterschiedlichsten Namen. Wir nannten sie knallhart Idioten, Irre oder Verrückte. Aber auch die Dödies, die Blödes, die Tosen, Spaddel, Spackos und Spasties. Oder die Psychose, Mongos, die Deppen, Debilen und Trottel – der Favorit meines älteren Bruders war: die Hinriss.“ Nun ist seit Rumpelstilzchen klar, dass man mit Namen den Teufel bezwingen kann, und wer sich so viele Namen für seine ihn umgebenden Mitmenschen einfallen lässt, hat eine Menge Angst. Doch das würden die drei Brüder niemals zugeben. Ihren Alltag erinnert Josse überaus heiter. Sein deutlich übergewichtiger Vater kann sich über jede noch so billige Zote freuen und schneidet aus einem Magazin die Anzeige „Bauer sucht Frau, die noch mit der Hand melken kann und wenig Schlaf braucht“ nur deshalb aus, weil diese verunglückte Zeile tagelanger Quell seiner Freuden ist.
Nachdem Josse den Familienhund und auch sich selbst beim „Blutsbrüder-Spielen“ beinahe massakriert, wird er von einem seiner älteren, echten Brüdern aufgezogen: „Komisch, ich habe das Gefühl, seitdem ihr Blutsbrüder geworden seid, ist der Hund noch dämlicher als vorher.“ Doch nachdem das Lachen verhallt ist, kommt all das zum Vorschein, worüber nicht gelacht, sondern nur geschwiegen werden kann: Dass der Vater seine Frau die ganze Zeit mit wechselnden Frauen betrügt. Dass die italienische Mutter daran leidet, depressiv wird, fast zerbricht. Die Inszenierung einer heilen Welt für den damaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg, der eines Tages der Psychiatrie einen offiziellen Besuch abstattet, endet im tragikomischen Slapstick.
Auch dass Josse während seiner ersten sexuellen Erfahrungen den Körper seiner Liebsten nach mathematischem Prinzip abarbeitet, ist mehr als wunderlich: „Ich begann zu zählen. Fünfmal Küssen mit geschlossenem Mund. Zehnmal Zunge kreisen lassen. Zwanzigmal den Rücken hoch- und runterfahren. Die Brustwarze fünfmal so rum und dann fünfmal andersrum lecken. So blieb ich bei der Sache.“ Nur lässt sich das wahre Leben nicht in 0 und 1 oder von null bis zehn auflösen, es lässt sich nur erzählen. Am besten von einem Mann wie Joachim Meyerhoff. Denn der kann es. Definitiv.
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