Es wird einen internationalen Verein für Feuilletonforschung geben. Darauf einigten sich die Teilnehmer der Grazer Tagung am Freitagabend vor der Podiumsdiskussion mit Doris Akrap (taz), Sigrid Löffler (ehem. ZDF), Ekkehard Knörer (Merkur) und Lothar Müller (SZ). Mit dem neuen Verein wird ForscherInnen aus der Soziologie, Germanistik und Medienwissenschaft vernetzen, möglicherweise ein Archiv errichten, Texte sammeln, Tagungen organisieren. Das ist ein schöner Ausblick. Das Beitragsbild von Miriam Leitold zeigt den Vortrag des Professors für Mediensoziologie Andreas Ziemann. Dieser Text wurde gemeinsam verfasst von Julia Neuwirth und Jan Drees.
Simone Jung aus Hamburg (Tagungsfoto), eine der Organisatorinnen der Tagung, eröffnete am Freitag um 9 Uhr morgens mit ihrem Vortrag über “Das Spiel der Differenzen: Zum Politischen im Feuilleton der Gegenwart.” Als Promovierende der Uni Hamburg und zugleich Journalistin (u.a. De:Bug, F.A.S., taz) ist Jung prädestiniert für die Verbindung von Wissenschaft und feuilletonistischem Sprechen. Ihre Argumentation startete mit der Beobachtung des großen Theaterdiskurses um den belgischen Kurator und Museumsdirektor Chris Dercon, der am 26. März diesen Jahres als neuer Intendant der Berliner Volksbühne im Feuilleton vorgestellt wurde. Damals stand ad hoc der von Vorgänger Frank Castorp eingebrachte Vorwurf des “Eventschuppens” im Raum.
Es war ein Vorwurf, der anschließend in den feuilletonistischen Büchern etlicher Zeitungen diskutiert wurde. Jung konstatiert: “Die Debatte um den Intendantenwechsel an der Volksbühne in Berlin macht exemplarisch viele Logiken und Mechanismen des feuilletonistischen Diskurses sichtbar. (…) Im Feuilleton prallen Kulturen aufeinander, die nicht nur heterogen, sondern auch höchst widersprüchlich sind. Der Streit ist nicht nur ein Streit um eine womöglich neue Theaterkultur, er offenbart vielmehr eine Kultur, die nicht mehr eine homogene in sich geschlossene Kultur ist, sondern eine plural heterogene Kultur, die im Feuilleton Verhandlung findet. Im Feuilleton vermischen sich also unterschiedliche Denk- und Lebensräume, Identitäten und Sinnhorizonte.”
Die Fernsehserie “Lost” und Günter Grass finden im Feuilleton gleichermaßen ihren Platz. Damit erschließen sich neue Verweisungszusammenhänge, die sich zwischen bürgerlich hochkulturellen und “den neuen populären Diskursen” bewegen. Mit einem historischen Rückblick auf die medientechnischen und diskursästhethischen Praktiken des 19. Jahrhunderts (Schnellpresse, Popularisierung, die bürgerliche Kulturauffassung als klare Abgrenzung zur feudalen Lebenswelt) belegt Jung, dass Feuilletons von Beginn an hybrid angelegt waren.
Das von Anfang an heterogen argumentierende Feuilleton “mit seinen spezifischen Diskurselementen, Praktiken und Wahrnehmungsstrukturen produziert (…) nicht nur eine Vielfalt an Verhandlungsformen, von der Kolumne, zur Glosse, von der Rezension zum Essay, vom Gedicht zur Illustration, sondern auch eine Vielzahl von Kulturen, die sich seit dem 20. Jahrhundert zwischen der Hochkultur und der Massenkultur formen. (…) Als Zwischenraum der Verhandlung von alten und neuen Kulturen, kann es Verschiebungen einleiten, mithin neues entstehen lassen.”
Thomas Hecken, Professor an der Universität Siegen, intellektueller Sidekick des gestrigen Tages und Herausgeber von “Pop: Kultur & Kritik” (Bild links) konnte direkt an Simone Jung anschließen mit seinen Vortrag über “Werturteile im heutigen Feuilleton”. Das ist natürlich ein Herzensthema, weil der Diskursunkundige in diesen Tagen des uneigentlichen Sprechens nach Lektüre der meistens Rezensionen fragen kann: Worum geht es in dem Roman, dem Theaterstück oder Film? Ist das rezensierte Werk gut, schlecht, Mittelmaß? Das gegenwärtige Feuilleton windet sich. Hecken führte aus, in welcher Weise dennoch Werturteile explizit gemacht werden, obwohl sich äußerst selten die Deutlichkeit eines Marcel Reich-Ranicki zeigen lässt.
Seine Ausführungen leitete Hecken aus dem Rechtssystem ab. So verlangen die Landesmediengesetze, dass Publikationen sachlich richtig, sorgfältig, wahrheitsgemäß berichten und Kommentare deutlich vom Nachrichtenteil trennen. Dies soll beispielsweise dazu beitragen “die Achtung vor dem Lebenden zu stärken”. – Hecken stellte fest, dass Meldungen im Feuilleton keinen oder kaum Platz finden. Er griff exemplarische Meldungen von der dpa heraus und analysierte deren Adaption im Feuilleton der FAZ. Die per Definition neutrale Meldung sei immer dann, wenn sie von einem Redakteur überarbeitet wurde mit einem impliziten Gestus der Wertung präsentiert. Interessant war, dass Heckens Studierende, denen er verschiedene Feuilletons vorgelegt hatte, in der Mehrzahl Schwierigkeit hatten, die darin artikukierten Werten einzuschätzen.
Andreas Ziemann, der vermutlich diskursfreudigste Teilnehmer der Tagung, beobachtete in seinem Vortrag “Praxis und Funktion des (Medien-) Intellektuellen“ und fragte, nach dem Selbstverständnis von Intellektuellen, Schreibenden, angestellten und freien Autoren. Ziemann, leidenschaftlicher Systemtheoretiker, ging hier jedoch vom Bourdieu’schen Verständnis des “klassischen Intellektuellen” aus, das diesen als bidimensionales Wesen charakterisiert: “Zum einen muß er (der Intellektuelle) einer autonomen, von religiösen, politischen und ökonomischen Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) (…) angehören und deren besondere Gesetze respektieren”, zum anderen diese im Feld gesammelte Kompetenz, außerhalb des Feldes einbringen. Deutlich wird hier also die notwendige Trennung von Profession und Intellektuellen-Dasein. – “Intellektuelle sind nicht per se Männer und Frauen des Geistes und des Wortes”, hält Ziemann fest, “wenn sie sich nur durch die Medien Intellektuellen-Status erarbeitet haben, sind sie ohne Medien nichts.”
Beispiele für das Feuilleton als “zwischen ästhetischer Kritik und ästhetischem Spielraum” infrage gestellten Möglichkeitsraum und dessen selbst eingeleiteten Abgesang findet er in Paul Hühnerfelds “Stirbt das Feuilleton aus?” oder Hellmuth Karaseks “Unterm Strich. Feuilletonistisches zum Groß-Feuilleton”. Das Feuilleton sei Vermittler, Multiplikator und Plattform für intellektuelle Interventionen; der Feuilletonist selbst jedoch nicht automatisch ein Intellektueller. Intellektueller ist man nur situativ, oder mit Ulrich Oevermann (1996): “Man kann Intellektueller nicht permanent sein, als dauerhaften Beruf ausüben oder gar als Beruf erlernen. Vielmehr wird man situativ zum Intellektuellen”.
Das Potenzial, dass das Feuilleton aus seiner derzeitigen “”Misere” schöpfen könne, vergleicht Ziemann mit dem Stand der Soziologie in den 1950ern. Er orientiert sich an Helmut Schelskys Konzept der Wirklichkeitskontrolle (1959), demnach “nicht die Ziele, sondern die Grenzen des sozialen Handelns der legitime Gegenstand der gegenwärtigen Soziologie” seien. Eben gleiches gelte für eine “neue Ästhetik des Feuilletons”.
Organisatorin Hildegard Kernmayer verlas im Namen der erkrankten Nadja Geer über “Humus oder Löschkalk? Facebook und das Debattenfeuilleton.” Geer, freie Autorin und Professorin für angewandte Angewandte Literaturwissenschaft in Konstanz und Berlin, forscht zur Popkultur und -geschichte. Die Bilder sind bekannt: Miley Cyrus, nackt auf einer Abrissbirne hin- und herschwingend. Auf der daraufhin entbrannten Pop-Diskussion gründet Geers Ihre Beobachtung, dass Facebook nun als Feuilleton-Plattform angekommen sei (Social-Only-Journalismus). Findet das Feuilleton in den sozialen Medien seinen Platz? Alles Weitere kann man in Ijoma Mangolds Zeit-Text “Das Ende der Rechthaberei” nachlesen. Geer bemüht Marshall McLuhans “The Medium is the Message” und setzt dieses Diktum in Beziehung zu den “drei A der aktuellen Technik- und Medienphilosophie” – der Agency, dem Algorithmus und der Akzeleration. Sie weist z.B. auf die Problematik von “Pseudo-Zufällen” durch Algorithmen auf (Feuilleton-)Debatten hin.
Lothar Müller merkt später an, weniger stellte sich die Frage nach der Art und Weise, wie sich Debatten in sozialen Medien abspielen als vielmehr die Frage nach den Akteuren. tatsächlich sei es so: Als Nutzer glaube man lediglich, mit den eigenen Post teilte man sich “einer Öffentlichkeit” mit; tatsächlich schafft man lediglich seine eigene Filterblase, eine spezifische Teilkultur (community) und lässt andere Bereiche außen vor. Simone Jung konkretisierte: Im Feuilleton sei der Raum auf allgemeine Weise geöffnet. Dort kämen mehrere Sub-Kulturen zusammen, während sich auf Facebook homogen strukturierte Gruppen austauschten.
“Literaturkritik im Feuilleton: Überlegungen zu Theorie und Praxis einer Gattung am Beispiel der kritischen, kommentierten Edition der Essays und Kritiken von Max Herrmann-Neiße” beobachtet Sibylle Schönborn, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Max Herrmann-Neiße schrieb als Theater-, Kabarett- und Literaturkritiker und vertrat das Prinzip der “verstehenden Kritik” und verband sie mit einem Bekenntnis zur “Dichtung der Zärtlichkeit”. Dafür setzte er nicht nur Bewunderungsfähigkeit für die Werke anderer voraus. Für Herrmann-Neiße war ein guter Kritiker auch ein Dichter. Jene Autoren, die er mit dem Merkmal des Dichters auszeichnete, waren auch Sprachrohr für ein jeweiliges Literaturverständnis fungieren.
Idealjournalisten waren für ihn Alfred Polgar, Kurt Tucholsky, Hans Siemsen und Alfred Kerr. Später zählte er noch Peter Altenberg und Robert Walser hinzu. Diese seien verantwortungsbewusste “Dinge durchschauende” Köpfe, die von unabhängiger Position den Befund zu notieren wagten, die gleichzeitig Dichter waren, die Situationen leibhaftig sehen konnten. Editorisch spannend ist, wann und wo er welchen Autor wahrnahm, stets mit seinen Feuilletons an einem Abbild der sich gegenwärtig vollziehenden Literaturgeschichte arbeitend. Seine gesammelten, zu Lebzeiten herausgebrachten Kritiken waren zugleich kanonisch und der Kanon selbst in Herrmann-Neißes Verständnis eine vierte, der Epik, Dramatik und Lyrik hinzugestellte Gattung.
Die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Christa Baumberger, unter anderem Herausgeberin von Emmy Hennings Prosawerk und Kuratorin der Ausstellung “Dada Original” in der Schweizerischen Nationalbibliothek (5.3.-28.5.2016) beschloss den Freitag mit ihrem Vortrag “Ein ‘zarter und zierlicher Ton’: Emmy Hennings im Feuilleton der 1920er und 1930er Jahre”. Bekannt ist Hennings vor allem als weibliches Mitglied der Zürcher Dada-Bewegung, als Frau und Nachlassverwalterin Hugo Balls oder als Muse der expressionistischen Dichtergeneration. Erst seit einigen Jahren wird sie auch als bedeutende Autorin der literarischen Moderne gewürdigt. Als äußerst produktive Feuielletonistin verfasste sie ab Beginn der 1920er Jahre zahlreiche Literaturkritiken, Reiseschilderungen und Betrachtungen zeitbezogener Themen. Für ihre Arbeiten im Feuilleton eignete sie sich einen “zarten und zierlichen Ton” an, der manchmal nur “mühevoll errungen” war (Brief an Maria Hildebrandt, 18.1.1932). – Im Vortrag selbst standen Henning Literaturkritiken und Autorenportraits im Vordergrund.
Bemerkenswert war die aktuelle Herangewesenweise an Hennings. Baumberger eröffnete mit Roman Buchelis 2008 formuliertem Fazit, dass „die Krise des Feuilletons (…) eine Krise der Kritik“ sei. “Von Zeitfragen über politische Themen wie Terrorismus, Kriege und Konflikte zu Wissenschaftsdebatten, hin zu Freizeit, Sport und – last but not least – Kultur: Alles kann im Feuilleton abgehandelt werden. An den Rand gedrängt wurde von dieser Entwicklung das eigentliche Kerngeschäft, die Kunstkritik: von der Musikkritik bis zur Literaturkritik. Als mit dem Debattenfeuilleton der Kulturteil der Zeitungen neu erfunden werden sollte, drohte das kritische Metier vollends ins Abseits (wenn nicht gar in den Ruch der Langeweile) zu geraten.
Rezensionsfeuilleton heisst fortan mit einem leicht abschätzig gemeinten Begriff das trockene Brot der Kunstkritik. Die Selbstprofilierung des Feuilletons vollzieht sich nun vornehmlich über kulturfremde Themen oder künstlich erzeugte Erregungen.” Doch 2013 kommt Bucheli auf seine Argumentation zurück und sieht in der Digitalisierung “eine Chance für die Neudefinition und Vertiefung der Literaturkritik”, da hier eine kritische Öffentlichkeit hergestellt werde.
Baumberger: “Blenden wir von da um hundert Jahre zurück, zum Feuilleton in der Weimarer Republik. 1920 bis 1930 entfaltet die Presse eine mediale Vielfalt von bislang ungekannten Dimensionen. 1928 erscheinen allein in der Metropole Berlin rund 100 Tageszeitungen, darunter 10 in fremden Sprachen, ca 100 Unterhaltungs- und ca 100 Fachzeitschriften, davon 20 fremdsprachige.” Literaturzeitschriften gab es an jeder Ecke und die Kritik werte jede Publikation auf. “Die Grenzen zwischen eigentlichen Kritiken und anderen Feuilletontexten sind fliessend; Autorenporträts, Erinnerungstexte an Autoren und öffentliche Briefe von Dichter an Dichterkollegen sind gang und gäbe.” Der Ton dieser Texte ist zumeist plaudernd, ein neuer Stil wird durchgesetzt, der auf besondere Weise von Emmy Hennings kultiviert wird. Sie ist Beobachterin fürs Feuilleton und als Autorin wird sie wiederum vom Feuilleton beobachtet. Wenn Dichter über Dichter schreiben, entsteht eine besondere Form, wie in Hennings Bericht über Johanns R. Bechers Verhaftung, erschienen am 6. Januar 1926 im Berliner Tageblatt. Hennings, die selbst einst inhaftiert war, die sich immer wieder literarisch mit dem Gefängnis auseinandersetzte, schrieb subjektiv, ihre eigene Kritikerposition relativierend und poetisierend – wie man es auch von Else Lasker-Schüler kennt:
„Der Dichter Becher ist verhaftet, vermutlich aus politischen Gründen. Ach, du mein Gott, ich kenne Becher so gut; seit Jahren, und er weiss von Politik so wenig, wie das Kätzchen. Er ruft nur: Immer Drauf! Und Dran! und hin und her! und dann dichtet er schön. […] Wie kann so ein Mensch gefährlich sein? Aber ich trau mich nichts gegen die Verhaftung zu tun. Denn, wenn ich sage, er hat hübsche Glühwürmer im Kopf, ein paar Raketen, meinetwegen Sterne, dann besorge ich, dass er selbst gekränkt ist.“ Berührt das? Definitiv. Es macht zugleich neugierig auf diese wundersam herzergießende, frei denkende Dichterin. Baumberger im Fazit: “Hennings ist keine Literaturkritikerin, ihre Stärke ist nicht die kritisch-intellektuelle Durchdringung eines fremden Stoffes und das Fällen eines Urteils. Bezeichnenderweise haben wir bislang keinen einzigen Verriss von Hennings gefunden. Ihre Texte schmiegen sich gleichsam als Liebkosungen um die Bücher – das Resultat sind Empfehlungen an die Leserschaft.”
Ausgewählte Literatur: “Pop: Kultur & Kritik #7”, transcript, 180 Seiten, 16,90 Euro / Andreas Ziemann: “Soziologie der Medien”, transcript, 160 Seiten, 12,50 Euro / Nadja Geer: “Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose”, V&R Unipress, 268 Seiten, 44,99 Euro / Schönborn, Sibylle (Hrsg.): “Exzentrische Moderne: Max Herrmann-Neiße (1886-1941)”, 284 Seiten, 72,80 Euro / Nicola Behrmann, Christa Baumberger (Hgg.): “Emmy Hennings Dada”, Scheidegger und Spiess, 240 Seiten, 48 Euro