Bis Samstag findet die Tagung „Feuilleton – Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur“ an der Uni Graz statt, organisiert von Frau Professor Kernmayer und Simone Jung. Es geht um das Politische im Feuilleton der Gegenwart, um Werturteile im heutigen Feuilleton usw. usf. – ich spreche am Samstag zum Abschluss der Tagung über „Klicks statt Kohle: Digitale Literaturkritik zwischen Performanz und Prekariat“ (wird hier im Blog dokumentiert.) Dieser Text entstand bei Aperol Spritz und Welschriesling zusammen mit der Grazer Journalistin Julia Neuwirth (Bild unten) in der Lobby des Hotel Daniel. Google.Docs macht es möglich. Als intellektueller Sidekick und Schlußredakteur hat sich Professor Thomas Hecken von “Pop. Kultur & Kritik” (hier im Blog) spätabends zur Verfügung gestellt.
Mit dem Hinweis von Frau Prof. Hildegard Kernmayer beim Eröffnungsvortrag am heutigen Donnerstag, dass Pariser Feuilletons Anfang des 19. Jahrhundert benutzt wurden, um die sie umgebende Anzeigenwerbung “kulinarisch” aufzuwerten, war gleich ein Bogen gespannt zur Jetztzeit. “Die Verlage werden sich perspektivisch etwas einfallen lassen müssen, wollen Sie Ihre Buchanzeigen nicht zwischen Börsenmeldungen und Kleinanzeigen wiederfinden”, schrieb Thomas Hummitzsch von intellectures vor wenigen Tagen auf Nachfrage. “Denn der Platz für Kulturberichterstattung nimmt perspektivisch ab – ganz aktuell: man beachte bspw. die Strategie des unter Druck geratenen Tagesspiegels, der Trends aufgreifen und zukunftsträchtige Bereiche stärken will (Kultur gehört nicht dazu) – und damit auch der Platz, Anzeigen in passender Umgebung zu schalten. Da wäre doch Bewegung möglich, gut gemachte Kulturseiten könnten hier eine neue Umgebung online bieten.”
Zu den Anfängen: Kernmayer benennt in ihrem Eröffnungsvortrag die Charakteristika des Feuilletons des 19. Jahrhunderts aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Allen voran stehen da Subjektivität, Poetizität, Bewegung und die sich daraus ergebende Gattung des Feuilletons – oder ‘Feuilletonismus’ als Kunstform.
Sie macht damit einen Vorschlag für eine Feuilleton-Poetik des Dazwischen – Flaneure, Bohemian und traumwandlerische Spaziergänger aus dem klassischen Wiener oder Berliner Feuilleton sind damit hauptsächlich gemeint – so verweist sie auf David Wagners “Welche Farbe hat Berlin”.
Ein tolles Buch. Wenn es ums Cover geht, müsste man auf David Wagners Titel antworten: „Rot!“ Und politisch stimmt das auch. Die Berlin-Heimat, die David Wagner, der feuilletonistische Flaneur, durchwandert, ist allerdings bunter. Er zeigt, wo früher der Adolf-Hitler-Platz stand. Es gibt einen Parcour von der „Flittchenbar im Golden Gate“ bis zum „Küchenstudio Tristesse“ und danach weiter ins Berghain, Techno feiern. Überall ploppen 3-D-Schilder auf, der Art: „Schau mal – so sah das vor hundert Jahren aus“, oder auch: „So wohnen die Leute in diesem Haus. Wollen wir mal reinsehen? Im Augenblick wird viel über „Augmented Reality“, also der computergestützten, erweiterten Realität gesprochen, die es einem ermöglicht, mit Smartphone durch die Stadt zu gehen, die Kamera auf irgendein Gemäuer zu halten und dann belehrt das Telefon: „Wir stehen vorm Brandenburger Tor. Das wurde erbaut im Jahr 1791 und so weiter.“ Genauso funktioniert das Buch von David Wagner. „Augmented Reality“ auf Papier eben. Aber wenn es mal hinfallen sollte, kann kein Display zerbrechen.
Die dem Feuilleton oft vorgeworfene Leichtigkeit und Oberflächenbetrachtung spiegelt sich in solchen Texten zwar wider, war aber schon bei Autoren wie Daniel Spitzer, Ludwig Speidel, Ferdinand Kürnberger oder Alfred Polgar zu finden. Sie ist demnach kein neues Phänomen.
Das Selbstverständnis der Feuilletonisten an exponierter Stelle, nämlich “unter dem Strich”, das ober dem Strich Geschriebene zu kommentieren und vor allem zu kritisieren, gibt dem künstlerischen Produkt Tiefe. Die ersten Feuilletons waren nicht, wie heute, ein eigenes Buch, sondern wurden durch einen feinen Strich vom politischen Teil der Zeitung abgegrenzt, liefen dort im unteren Drittel der Seiten.
In der Gattungs-Trias bleibt das Feuilleton wegen seiner schwer fassbaren Eigenheit außen vor. Prosa, Lyrik, Drama werden “feuilletonistisch überformt” (Kernmayer). Auch die stilistische wie thematische Vielfalt macht eine ästhetische Definition des Feuilletons so schwierig. Die Nähe zur Publizistik und der fehlende Anspruch des Feuilletons, sich als Literatur zu behaupten, ist einerseits der Erscheinungsform in periodischen Medien geschuldet und andererseits der Abhängigkeit von der Bezahlung, darin begründet sich allerdings auch das hohe Maß an Subjektivität und Selbstreflexion der Autoren. Glauben wir das?
Eine Tagung kümmert also in einem der ältesten Gebäude Graz’ (umfassend historisch erklärt von Gemeinderat Dr. Peter Piffl-Perčević im Grußwort – freilich im lodengrünen Janker gehalten) verschiedene Aspekte der bislang hoffnunglos unterforschten Feuilletonwissenschaft. Es gibt einige Bände, wie „Feuilleton für alle“ von Gernot Steger, 1998 bei deGruyter erschienen, aus dem gleichen Jahr „Judentum im Wiener Feuilleton“ von Hildegard Kernmayer. Konrad Lischka, ehemaliger Chefredakteur des Magazins Bücher und Redakteur bei Spiegel.de, hat 2013 digital die Studie „Zurück zur Zukunft? Eine inhaltsanalytische Betrachtung der Feuilletonteile von FAZ und SZ im Zeitraum von 1999 bis 2002“ veröffentlicht. Herauszuheben sind Erhard Schütz: „Echt falsche Pracht. Kleine Schriften zur Literatur“ (Verbrecher Verlag 2011) und von Thomas Steinfeld “Was vom Tage bleibt: Das Feuilleton und die Zukunft der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland”.
Es gibt ein paar verstreute Aufsätze und diesen lückenhaften Wikipedia-Artikel. Daher ist diese Tagung, die Anfang sein soll für eine noch zu gründende „Gesellschaft für Feuilletonforschung“, als Versuch für die Neubelebung der Disziplin zu verstehen.
Dem entsprechend heterogen (allem Anfang wohnt ein Zauber inne) sind Themen und Vortragende sortiert. Morgen spricht Simone Jung über „Das Spiel der Differenzen. Zum Politischen Feuilleton der Gegenwart“. Abends diskutieren Doris Akrap (taz), Ekkehard Knörer (Merkur), Sigrid Löffler (ehem. „Literarisches Quartett“) und Lothar Müller (SZ) über das „Denken zwischen Ästhetik und Ökonomie. Zur Lage des Feuilletons.“ Bettina Braun von der Universität Zürich präsentiert Samstag ihren Vortrag „Von Nebensachen reden, wo es viele Hauptsachen gibt. Das Feuilleton in der Literaturkritik des Exils“. Heute ging es mit Walter Schübler aus Wien um „Anton Kuhs Aversion gegen den ‚Feuilletonismus‘“ und mit Irina Wutsdorff aus Tübingen um „Prager Grenzgänger zwischen Journalismus und Literatur: Jan Neruda und Egon Erwin Kisch“.
Anton Kuh (Bild) wird kaum jemand kennen. Kuh wurde 1890 in Wien geboren und starb 1941 in New York. Wikipedia hilft weiter. „Unter seinem eigenen Namen und unter dem Pseudonym Yorick veröffentlichte Anton Kuh u. a. Satiren und zahlreiche kurze Prosastücke, in denen er sich im Sinne von Pazifismus und Demokratie kritisch, witzig und hellsichtig mit seiner Zeit auseinandersetzte. Kuh würdigte früh die überragende Bedeutung Franz Kafkas und sprach sich bereits in den 1920er Jahren prophetisch warnend gegen den aufkommenden rechten Zeitgeist aus. Bekannt war Kuh als Vortragskünstler. Tucholsky nannte ihn einen „Sprechsteller“, was angesichts eines doch recht umfangreichen publizierten Œuvres nicht ganz zutreffend erscheint.“
Walter Schübler diskutiert in seinem Vortrag „Beim Genick packen“, Anton Kuhs Aversion gegen den „Feuilletonismus“ als Weltanschauung. Die 1918 von Kuh niedergeschriebene Forderung an ein neues Feuilleton der Gegenwart liest sich wie ein aktueller Text von Rainald Goetz. Kuh will „die Generation, die sich schreibend an der Verherrlichung des großen Schlachten beteiligt hat, die Plakatträger und Apologeten der Alten Zeit, mit lebenslanger Quarantäne belegen“ (Schübler im Vortrag). Kuh: „Sie sind feudal, nobel, träumerisch und aus Brünn. Ihre philosophische Haltung ist etwa folgende: Eine Zeitung muß als Weltprodukt die Welt bejahen, damit sich der Abonnent in ihr beruhigt, wohlig, sicher fühlt und an sie glaubt. Ergo ist sie für Fortschritt, Entwicklung, Technik, mehr Licht und weniger Denken.“ Das propagiert Kuh in der bereits zu Weltkriegszeiten gegründeten Zeitschrift „Der Friede“ und Alfred Polgar, verantwortlich für den literarischen Teil, nennt direkt alle „Nichtmitarbeiter“, als da sind: die „sogenannten Jungwiener“, die „Librettisten“, die „Feuilletonisten“. Zuallererst müsse eine gute Zeitschrift nämlich eine „Zeit-Schrift“ sein, „eine Art Uhr, die die politische, soziale, literarische Stunde schlägt“; eine Zeitschrift auch die auf die „wienerische Note“ werde verzichten müssen.
Kuhs Feuilletons stellen sich mit Verve gegen die Radetzkymarsch-Trägheit des damaligen Österreichs. „In Tonlage und Gestus sind seine Texte das genau Gegenteil der Wiener Feuilleton-Feinsäuselei“, erinnert Schübler. „Seine Portraits, Skizzen und Geschichten, Besprechungen, Würdigungen und Glossen geben die Eindrücke eines hellwachen Zeitgenossen wider.“ Noch 1940, Kuh ist längst in den USA und arbeitet für den New Yorker „Aufbau“ (der sich immerhin von 1934-2004 halten konnte), da kämpft er weiter und polemisiert gegen Raoul Auenheimer, der nicht nur Hitler ein „rhetorisches Talent“ attestierte, das dieser angeblich mit Napoleon teile. Das alles, schreibt Kuh unter seinem Pseudonym „Yorick“ sei nicht weniger als „Literaturgezänk“, das im „repräsentativen Organ der Immigration“ nichts verloren habe. Klare Kante statt feinsinniges Feuilletonflorett. So war es schon immer – man lese dazu nur Karl Kraus. Um den wird es in den kommenden Tagen gehen, mag er auch nicht explizit im Programmheft stehen.
Doch zuvor geht es mit der Slawistin Prof. Irina Wutsdorff um zwei “Prager Grenzgänger zwischen Journalismus und Literatur.” Jan Neruda und Egon Erwin Kisch haben eines gemeinsam: den emanzipatorischen Ansatz. Der eine war Schriftsteller und Feuilletonist im Kontext der Nationalen Wiedergeburt, wollte jedoch mehr Reporter sein, der andere erlangte in den Weltkriegen als “rasender Reporter” Berühmtheit und nahm sich den Schreiberling zum Vorbild. Der Vortrag warf die Frage nach Objektivität und der Suche nach Wahrheit auf.
Jan Neruda ist Namensvorbild des Nobelpreisträgers Pablo Neruda (was nicht ganz so smart ist wie das Pseudonym vom Franzosen Stendhal, der sich aus tiefer Bewunderung nach dem Geburtsort Johann Joachim Winckelmanns benannte), schuf feuilletonistische Prosa in Hlas, der “Stimme”, mit besonderer sozialkritischer Note, Kisch war als Reporter Zeuge vor Ort und den Tatsachen auf der Spur. In Werken beider lassen sich Spuren der jeweils anderen – journalistischen bzw. literarischen – Disziplin finden. Wutsdorff zeigt die Gebärden der Rechtfertigung und das Spannungsverhältnis zwischen Fakten und der Bearbeitung jener im Bewusstsein um die Kunstfertigkeit der Texte.
Das uralte Problem um die Gemachtheit von Texten und die Abbildung der Realität kam in der anschließenden Diskussion einmal mehr auf, vor allem auch, weil Wutsdorff systematische Tendenzen aus ihrer Darstellung abzuleiten versuchte. Bearbeitung geschieht immer, oft werde sie nur nicht bewusst mitgedacht und ihre Referenz nicht offengelegt. Die dahinterliegenden Prinzipien der Formgebung, der Subjektivität oder der Objektivität ziehen nicht nur im Journalismus entscheidende Referenzialitätsbeziehungen nach sich. Die Frage nach Macht und Meinungshoheit gilt daher ebenso mitzubedenken. – Morgen um 9:00 Uhr geht es pünktlich weiter, nichts mit c.t. Das akademische Viertelstündchen hat heutzutage keine Bedeutung mehr.
vielen herzlichen Dank für den Hinweis
Es gibt ein mittlerweile mehr als 60 Jahre altes Standardwerk zu Definition und Geschichte des Feuilletons, das aber aufgrund seines Ursprungs als Habilitationsschrift aus der Zeit des Nationalsozialismus und aufgrund seines rein geisteswissenschaftlichen Ansatzes heute meist außen vor gelassen wird. Es ist aber nichtsdestotrotz eine Fundgrube an Material und Hinweisen auf die ältere Literatur und sollte daher erwähnt werden:
Wilmont Haacke: Handbuch des Feuilletons. Emsdetten: Lechte 1951-1953.
Dem Werk liegt die Habilitationsschrift Haackes zugrunde, die antisemitische Passagen enthielt:
Feuilletonkunde. Das Feuilleton als literarische und journalistische Gattung. Leipzig: Hiersemann 1943-1944.
Deshalb geriet Haackes Werk in jüngerer Zeit insgesamt in Verruf, auch wenn seine antisemitischen Äußerungen eher Karrierismus und Opportunismus geschuldet waren als einer eingefleischten Überzeugung, vgl. Thomas Wiedemann: Wilmont Haacke. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014. http://blexkom.halemverlag.de/wilmont-haacke/ (vom 30.12.2014).