Verslegende steht auf dem Cover, obwohl die Gattung „poetischer Essay“ noch treffender wäre. Marion Poschmann denkt über die erlösenden Effekte des naturverbundenen Sports nach, über dieses ganz besondere „Frei-Schwimmen“. In unserer Gegenwart der gesellschaftlichen Erkaltung begehrt ihre Heldin Thekla eine innere Hitze: die sie einerseits herbeimeditieren, andererseits durch tägliches Schwimmen entfachen will.

„Man kann bei beliebiger Temperatur draußen baden, / man braucht keine Hilfsmittel, braucht keine Schutzschicht, / erst recht keinen Anzug aus Neopren. / Vorausgesetzt nicht einmal kontinuierliches Training, / nur einfaches Weiterschwimmen vom Sommer zum Herbst. / Dann erlebt man im Winter das Wunder: / Der Körper passt sich an kalte Umgebungen an.“

Manch einer mag schwimmen, um sich körperlich zu ertüchtigen, andere wollen Medaillen gewinnen. Was Thekla hingegen begehrt, steht in der ersten Kapitelüberschrift. Sie möchte „den Tiger suchen“, um mit ihm zu verschmelzen, mit diesem Symbol von Kraft und Ursprünglichkeit.

Mit den Falken zur Erkenntnis

Die Raubkatze wird bereits auf der Umschlagsillustration angedeutet. In Rückansicht ist eine schwimmende Person abgebildet, dergestalt von Wellen umspielt, dass sich ein Streifenmuster über ihren nackten Körper legt. Es ist ein rätselhaftes Bild, faksimiliert aus dem beinahe 800 Jahre alten „Falkenbuch“, einem der wichtigsten erkenntnistheoretischen Werke des europäischen Mittelalters. Erkenntnis will gleichsam die schwimmende Thekla gewinnen, die Erkenntnis ihrer selbst: „Auch Alexander Puschkin, der Dichter, auch Ilya Repin, / der Künstler, auch Iwan Pawlow, der Physiologe, / Entdecker des konditionierten Reflexes / – ja, genau der, mit dem speichelnden Hund –, auch diese alle schwammen im Winter.“

Im Verlauf dieses anspielungsreichen, kulturwissenschaftlich hoch informierten Textes erlebt Thekla Entrückungen, wunderliche Kälte-Euphorien. Man kennt das „Swimmer’s High“, diesen überbordenden Endorphinanstieg, der die Sinne reizt und einem Drogenrausch ähnelt. Im Affekt dieses Schwimmhochgefühls halluziniert Thekla, während sie ihre Bahnen im eiskalten Wasser zieht. „Während hinter den Zweigen die Schatten / lagerten, bis für den einen Moment dort die / Flammenzeichnung des Tigers aufschien, / ein flüchtiges Glosen, dann schlossen die Wolken / sich wieder. Begann hier tatsächlich die Wildnis?“

Ausbruch der Wildnis in Mecklenburg

Diese Vermischung von Trug- und Realwahrnehmung gab bereits dem Vorgängerroman „Chor der Erinnyen“ eine flirrende Kontur. Im neuen Buch streift der Tiger während zahlreicher Badetage zuerst als Vision, dann ganz real umher. Es geschieht eine „unerhörte Begebenheit“. Im mecklenburgischen Dassow kann sich ein „Panthera tigris“ aus seiner Gefangenschaft befreien: „Der älteste Tiger, der größte der Gruppe, / hatte mit seinen Flanken die Stäbe des Käfigs berührt, / tausend Stäbe, die Welt so gestreift / wie sein Fell, er hatte sich schubbern wollen, / sich mit dem gesamten Gewicht / eines ausgewachsenen Tieres gegen das Gitter gelehnt, / und das Gitter gab nach“

Diese tausend Stäbe sind eine schöne Referenz ans Panther-Gedicht Rainer Maria Rilkes, nachgerade passend zum aktuell groß gefeierten Jubiläum. Der österreichische Schriftsteller wurde vor 150 Jahren geboren. Und so, wie sich der Tiger in Poschmanns „Winterschwimmerin“ befreit, wird auch Thekla zur neuen Freiheit finden. Sie begegnet der entlaufenen Raubkatze, nähert sich, steigt auf ihren Rücken, flieht mit diesem Tiger aus der Zivilisation ins Ursprüngliche, ins Offene, entgegen aller Konventionen: „und Thekla legt den Kopf an seine Flanke. / Sie schmiegt sich enger an ihn an, als ranke / sie langsam über seinen fremden Rücken. / Der Tiger rührt sich nicht; es könnte glücken, / den Kosmos aus verstreuten Einzelstücken / für einen Augenblick ins Gleichgewicht zu rücken.“

Der höfische Roman, die mittelalterliche Liedgattung des „Leich“ und die Elegie variieren in Poschmanns „Die Winterschwimmerin“. Trefflich könnte man diskutieren, wie die apokryphen „Akten des Paulus und der Thekla“, Goethes „Novelle“ und William Blakes dialektisches „The Tyger“-Gedicht betrachtet werden, wie ein intertextueller Dialog auch mit anderen Poschmann-Texten stattfindet, die sich auffallend oft für das Phänomen der Befreiung interessieren. So gab es den Richtung Japan ausbrechenden Helden in „Die Kieferninseln“ oder zuletzt die bindungslosen, ebenfalls einer Naturgewalt trotzenden Rachegöttinnen im „Chor der Erinnyen“. Wer genau hinschaut, wird Spiegelbilder entdecken, da man mit jedem Poschmann-Buch auch die vorherigen neu lesen kann. Diese Poetik ist ins Offene entworfen, will niemals Abschluss sein, kein Monolith, immer Flamme, die stetig weitergetragen wird, hin zum nächsten Text.

Marion Poschmann: „Die Winterschwimmerin“, Suhrkamp, Berlin, 80 Seiten, 22 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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