Birgt das große Netzarchiv Perlen der Literatur? Rollt nach Peter Glaser, Rainald Goetz und Airens „Strobo“ eine Tsunamiwelle neuer Blogliteratur an? Wie casten Verlage im Jahre 2010 ihren Autoren? Ist das Netz die Antwort?
„Das ist überhaupt kein Telefon, was die Leute da in ihrer Hand halten! Das ist ein Handspiegel! Die Leute kontrollieren unentwegt ihre eigene Fresse! Die gucken sich an, ob sie sexy genug sind für die Welt, die tun nur so, als drückten sie irgendwelche geheimnisvollen Tasten oder riefen sms-Nachrichten ab.“ – Derart gewaltbereite Prosa schreibt Poet „500 Beine“ alias Andreas Glumm aus Solingen in seinem aktuell stark gestalkten Blog, der ihm drei Buchangebote eingebracht hat – unter anderem vom „Airen“- und „Helene Hegemann“-Verlag Ullstein.
„Aber Ullstein hat sich zerschlagen. Im Moment kungele ich mit zwei anderen Verlagen, mal sehen, wann sich das zerschlägt. Da gehe ich mit der Zeit: ein Buch wird kommen…“ Der 1960 Geborene gibt sich siegesgewiss, „geht mit der Zeit“, was an einem gefühlten Hype liegt: Deutschsprachige Blogs stürmen den Literaturbetrieb, altmodisches Erzählen, klassisches Storytelling überholt sich rasant, im Angesicht des tagesaktuellen, schnellen Netztextens. Oder ist das alles Bullshit?
Über Airens Blogbücher „Strobo“ und „I Am Airen Man“ ist ausführlich geschrieben worden. Auch über Eric Pfeils FAZ-Pop-Tagebücher, die unter dem Titel „Komm‘ wir werfen ein Schlagzeug in den Schnee“ bei KiWi erschienen sind. Und dann gibt es noch die Suhrkamp-Debütantin Elisabeth „Lisa“ Rank, die schon 2007 als selbsternanntes „Emosozialprodukt“ sehr indie-tuned über „Fingelflügelflossen“, Trompetensamba und „surrogate sounds“ geschrieben hat und quasi aus dem Netz weggecastet wurde.
„Bei mir war das dann so, dass mein Agent mein Blog gelesen hat, mich anschrieb, ob ich nicht eine Kurzgeschichte zu einer Weihnachtsgeschichtensammlung von Suhrkamp beisteuern wollte“, sagt die 25-Jährige, „und wir haben uns mal getroffen, in einem Café, und gequatscht. Im Sommer darauf hab ich auch mit ihm gemeinsam für das 9to5-Festival gearbeitet und irgendwann fragte er mich dann mal, ob ich nicht Lust hätte ein Buch zu schreiben und da hab ich natürlich ,ja‘ gesagt.“ Lisa Ranks Roman „Und im Zweifel für dich selbst“, erschien vor wenigen Wochen.
Der Roman beginnt mit dem Unfalltod von Tim und dem Schmerz zweier Frauen, seiner Geliebten und seiner besten Freundin, dem Schmerz von Lene und der Erzählerin. „Ich fahre weg“, sagt Lene. „Kommst du mit?“ – Zusammen fahren sie aus Berlin zur Ostsee, tauschen die Trauer gegen das weite Meer. Lene versucht, tief Luft zu holen: „Es ist so seltsam, ich kann doch nicht plötzlich die sein, deren Freund überfahren wurde, ich bin das nicht und kann dennoch nichts daran ändern, dass mein Inneres plötzlich nicht mehr mit dem Äußeren übereinstimmt.“ Sie kämpfen gegen ihren Schmerz, werden ganz still und verzagt. „Wie viele Vögel man sieht, wenn man die Zeit dafür hat.“ Melancholie und Alltag.
Die „taz“ schrieb: „Lisa Rank ist gut vernetzt – am besten allerdings mit sich selbst: ,Und im Zweifel für dich selbst‘ zeugt mit all seinen detailverliebten Beschreibungen und Reflexionen von einem hohen Grad der Empfindsamkeit.“ Es ist eine Sprache, die direkt aus ihrem Blog kommt, wo schöne Sätze stehen wie diese hier: „Manchmal hat man nur den Bauch. Wenn der Bauch mal Mist gemacht hat, kann es sein, dass da eine feine Linie durch den ganzen Magen zieht und die Lunge und das, was so dazwischen ist, ich weiß gar nicht genau, was das ist, aber es ist da, das ist das, was immer weh tut, wenn etwas schief läuft, und das, was oszilliert, wenn etwas richtig ist.“
Ihr (auch bloggender) Agent Berni Mayer beobachtet übrigens „nur noch wenige Blogs, weil ich die literarische Qualität der meisten doch eher als gering einschätze. Diese wenigen allerdings weisen einen unverkennbaren Stil auf und sind jederzeit in der Lage, selbst aus einer per se irrelevanten Nebenbegebenheit eine gute Geschichte heraus zu erzählen. Kid37 (Das hermetische Café) ist einer davon Blogs sind zunächst „nur“ eine weitere Option, sich selbst zu „verlegen“. Du willst der Welt oder nur deiner Putzfrau etwas mitteilen: du bloggst es, du twitterst es, du schreibst es in eine Statusanzeige bei Facebook. Das ist keine Literatur, sondern überwiegend der Schund von Leuten, die nicht gelernt haben zu publizieren. Aber gerade unter diesen Leuten finden sich eben auch ein paar Rohdiamanten. Und wenn man die findet, findet man neue Literatur.“
Ohne Blogs und aufmerksame Lektoren wären in den vergangenen 36 Monaten etliche Bücher niemals erschienen. Die einen waren, wie bei Lisa Rank, Spielweise und zugleich Bewerbungsschreiben für den ersten Roman, die anderen, wie bei Eric Pfeil oder Airen waren bereits das fertige Buch, es musste nur hier und da gekürzt werden, ein Cover gemalt, die ISBN-Nummer bestellt. Fertig.
Simpel ist das, wie Punk oder Pop, noch genauer Pop-Literatur, die vor elf, zwölf Jahren jeden sprachbegabten Twentysomething animierte, die Gegenwart mitzuschreiben. Inspiriert durch Rainald Goetz‘ 1998er Blog „Abfall für alle“ (als Buch bei Suhrkamp) entstehen die Internet-Literaturprojekte „pool“ (als Buch bei KiWi) und „Null“ (als Buch bei Dumont). Dann kam der 11. September, die Weltwirtschaftskrise, der neue Ernst, die CDU und junge Autoren richteten sich lieber im Eckenverstecken ein.
Bis jetzt. Denn wer sich einmal die Mühe gemacht hat, die sogenannte „Blogsphäre“ zu durchsuchen, Schmink-, Koch-, und Katzenseiten weggeklickt, findet zum Beispiel bei „Mequito“ Zinnowitz-Melancholie mit sanftgesichtigen Hotelkellnerinnen, („Es wirkt püppern. Wie aus Porzellan. Fast unbeweglich.“), poetisches Selbstbeobachten auf der „Ruhepuls“-Seite, die nach Hamburger-Schule-Songtexten klingt: Wie unsexi ich es fand, dass der Typ hinter mir an der Kasse eine Tafel Alpia-Schokolade gekauft hat.“ Oder auch, bei Autor Bov Bjerg (zuletzt der Roman „Deadline“ bei MDV) Selbstreferentielles über Internet, Literatur und (Blog-)Lesungen – Letzteres ist die vermutlich entspannteste Adaption von Netz-Texten, Boglesungen gibt es in jeder Großstadt – von der „Thüringer Blogzentrale“, über „lesen und frisieren“ in Kiel bis zu „Bonjour Tristesse, Du alte Hackfresse“ in Hamburg. Und diese Lesungen kommen auch besser klar mit dem springenden Netz-Medium als z.B.: Bücher.
Die verändern sich nicht zwangsläufig durch Blogs. „Nur so, wie bereits Email, Chat et cetera sie verändert haben: noch fragmentarischer, assoziativer, mit mehr aus dem Netz kopierten Bildern und Videos“, sagt das Professor Peter Gendolla von der Universität Siegen, „das ging doch sehr früh los, von Film und Radio angeregt, mit Dos Passos oder auch Döblin, führte über Rolf Dieter Brinkmanns „Film(e) in Worten“ zu Goetz und jetzt Hegemann, und wird in Kooperation mit rechnergenerierten Texten (SMS-poesie, (maschinell generierten, d.R.) Markov-Texten, die bei Thomas Kamphusmanns ‚Delphi V. 2.1.‘ komplexer fortgesetzt werden.“ Bei Kamphusmann werden per Zufallsgenerator Zeilen ausgespuckt und wie beim mythologischen Orakel von Delphi kann sich jeder Leser selbst einen Reim auf die Aneinanderreihungen machen.
Das gerade erschienene Prosadebüt von „Riesenmaschine“-Alphablogger Sascha Lobo („Strohfeuer“ bei Rowohlt) erinnert an klassisches jetzt-Magazin-Erzählen. Der Roman changiert konzeptionell zwischen Andreas Bernards „Vorn“ und David Pfeifers „Der Strand der Dinge“, erzählt mäßig inspiriert über ein crashendes Dotcom-StartUp, inszeniert Endneunziger Großspurigkeit zwischen Edelrestaurants und IKEA-Schreibtischen, platziert beizeiten einen deftigen Witz, doch an die Twitter-Unmittelbarkeit, die Lobos “Follower“ von Beginn an bannt, ist nichts geblieben, schimmert an keiner Szene durch.
Dr. Beat Suter, Dozent für „Game Design“ an der Zürcher Hochschule für Künste und einer der ersten Spezialisten für Netzkultur, konstatiert, dass es Ergiebigeres gibt, als sich allein mit dem Phantom der Blog-spezifischen Literatur zu beschäftigen, so „mit der voranschreitenden Technologie und der ständigen Erweiterung der Medien als neue literarische Inspirationsquelle und Kreations-Begleitung. Zum Beispiel übt das Sampeln und Mixen in der Musikszene seit einiger Zeit einen grossen Einfluss auf junge Literatur aus.
Spontanes Texten via mobile Geräte hat ebenfalls einen regen Einfluss auf die Literaturproduktion, so seit einigen Jahren in Japan, nun aber auch im europäischen Raum. Schliesslich hat auch das Programmieren (der Code) einen starken Einfluss auf eine eher experimentelle Szene von Literaten und Künstlern, die im allgemeinen vom herkömmlichen Literaturbetrieb ignoriert werden. Die Stichworte sind hier Netzliteratur, digitale Poesie, NetArt, GameArt. Es werden hierbei nicht nur außerliterarische Elemente zur inhaltlichen und gestalterischen Produktion von Literatur herangezogen, sondern es werden auch die herkömmlichen Gerne- und Disziplingrenzen überschritten, damit neue, innovative Experimente und Produkte entstehen können.“
Und wann wird man Andreas Glumm‘ Buch in den Händen halten? Der Zeitpunkt steht in den Sternen. Bis dahin bleibt‘s beim Blog, mit seinen indiskreten Einblicken, auch ins Literaturgeschäft unserer Tage, wie am 9. April 2010: „Der Berliner Literaturagent war so begeistert, er schnappte beinah über am Telefon. Ich hatte ihm eine Handvoll Stories gemailt, 100 Seiten fast, die Begeisterung aber wurde von etwas anderem ausgelöst. „Endlich mal ein Autor“, jauchzte er, „der nicht in Berlin wohnt!“ Er hat auch gleich eine Idee, wie man aus dem Blog einen Roman strickt. „Ich hatte keinen Roman. Einen Haufen Geschichten, aber keinen Roman“, das denkt in dem Moment Andreas Glumm.
Es wird noch eine Weile dauern, bis Netzliteratur bei uns angekommen ist. Das ipad könnte ein Anfang sein. Papier braucht man dafür nicht. Nachdem Blogs für Bücher geschrieben wurden und nun Bücher aus Blogs entstehen, wird es dann weitergehen und Marshall McLuhans Satz vom Medium, das die „Message“ ist, erfüllt sich auf wunderbare Weise wieder selbst. „Blogs gehören ins Netz und nicht in ein Buch“, sagt abschließend Beat Suter. „Sobald man versucht, einen Blog in ein Buch zu sperren, ist es um ihn geschehen.“