Zu den eher ärgerlichen Lebensweisheiten gehört die (hier widerlegte) Behauptung, die chinesische Schriftzeichen für „Krise“ und „Chance“ seien identisch – man habe also stets die Kraft der Krise zu nutzen. Das ist ungefähr so ratsam, wie einen Depressiven zu ermuntern, er solle „fröhlich“ sein, das Leben sei schön, er würde es nur nicht erkennen. „Die Kunst der Bruchlandung“ umschifft derartige Ratschläge, zeigt aber, warum Lebenskrisen unverzichtbar sind und, das Wichtigste: Trost entsteht bei Dirk Knipphals nicht durch Esoterik. Akribisch zeichnet er stattdessen nach, wie es geschehen konnte, dass wir 2014 jede erdenkliche Lage als Krise dechiffrieren können.
Raumspray hat er ausprobiert, nach langen Therapiegesprächen durchgelüftet, aber nichts konnte das Adrenalin aus seiner Praxis vertreiben. Inzwischen werden die Räume zwei-, dreimal im Jahr komplett neu gestrichen. „Menschen, die während der Sitzungen vor ihm säßen, würden oft geradezu um ihr Leben kämpfen, inklusive aller körperlichen Stresshormone, die das nun einmal mit sich bringe.“ – Diese Szene eines Paartherapeuten beschreibt Dirk Knipphals auf Seite 177 seiner „Kunst der Bruchlandung“.
Bis dahin hat er bereits etliche Lebenskrisen katalogisiert, ihr Auftauchen, ihre Folgen, ihre öffentlichen und privaten Wahrnehmungen beschrieben: Midlife-Crisis, Ölkrise, Ehekrise, Motivationskrise, Kriegstraumata, die Verzweiflung bei Humphrey Bogart und Albert Camus, Stress, Protest und Revolution, Gesellschaftskrisen nach Jürgen Habermas, Richard Yates und T.C. Boyle. „Jemand steht vor Ihnen und sagt: ,Ich stecke in einer Lebenskrise.‘ Was antworten Sie?“ So fängt es an.
Die Gesellschaft geht inzwischen anders mit Lebenskrisen um als noch vor 100 Jahren. Damals standen Krisen lediglich den Großkopferten zu, während dem kleinen Mann jede Verzweiflung untersagt war. „Das Schema der Lebenskrise etwa hat es nicht schon immer gegeben, jedenfalls nicht in seiner heutigen Form.“ Durch die Selbstverwirklichung des Einzelnen, durch den immer differenzierteren Blick auf unsere Mitmenschen werden auch Krisen akzeptiert: Wer aus dem Krieg heimkehrt, darf sich therapieren, ohne dass sein Charakter infrage gestellt wird. Auf einer Fachtagung der Kriegspsychiatrie 1916 haben sich Koryphäen wie Robert Gaupp oder Karl Bonhoeffer gegen den Neurologen Hermann Oppenheim durchgesetzt, der damals bereits annahm, dass Gewalterfahrungen und seelische Erkrankungen zusammenhängen. Dergleichen wurde damals schlichtweg negiert.
Ganz anders zeigt sich die Darstellung einer Kriegspsychose in Francis Ford Coppolas Vietnamfilm Apokalypse Now: „Hubschrauber am Himmel. Ein Dschungelabschnitt, der mit Napalm bombardiert wird und in einem gigantischen Feuer aufgeht, dessen rotbringende Effizienz auch noch ästhetisch unglaublich eindrucksvoll anmutet (dass der Schrecken mit schönen Bildern einhergehen kann, ist immer wieder eine schockierende Erfahrung). Die Doors singen dazu mit gesteigertem Pathos ‚This is the end‘. Und in irgendeiner vietnamesischen Absteige liegt ein amerikanischer Soldat halbnackt und betrunken auf einem umgemachten Bett und starrt in den Ventilator, der mit den Hubschrauberrotoren überblendet wird. Er versucht sich in ein paar Kung Fu-Fu-Bewegungen, stürzt, schneidet sich an Glasscherben und bleibt dann heulend liegen, ein Häuflein Elend, Verzweiflung und Schmerz im Gesicht, während sich die Musik der Doors in einen Rausch hineinsteigert.“
Der Film erschien 1979 – und bereits wenige Jahre vorher hat sich ein neues „Narrativ der Krise“ durchgesetzt, nach Studentenunruhen, RAF, Entführungen und Staatskrise, nämlich die Ölkrise 1973 und die Midlife-Crisis 1976 durch den Bestseller „In der Mitte des Lebens“ („Passages: Predictable Crises of Adult Life“) zum ersten Mal beschrieben. Männer werden meistens von ihr befallen und in unserer Vorstellung werden in Reaktion auf die Midlife-Crisis Klischees erfüllt: der teure Sportwagen, die jüngere Geliebte et cetera. Der eigene Tod wird konkret. Gail Sheehy, Autorin von „Passages: Predictable Crises of Adult Life“ beschrieb schon damals exakt den verlauf einer derartigen, eben nicht immer mit dem saloppen Kauf eines Sportwagens einhergehenden Krise: „Zunächst sehen wir das Dunkel, lösen uns in unsere Teile auf, dann erblicken wir plötzlich wieder Licht und fassen diese Teile zu einem neuen Ganzen zusammen.“
Das alles sind Krisen, die Jahrzehnte zuvor nicht als eben solche wahrgenommen worden sind. Wenn dann aber doch jemand eine persönliche Krise hatte, die sich nicht beschreiben oder therapieren liess, wie die Lebenskrise eines Heinrich von Kleist – blieb allein die einsame Verzweiflung. Den Lebenskrisen 2014 wird dagegen äußerst sanft begegnet: Kleinen Kinder wird bei der Abnabelung vom elterlichen Zuhause, beim Schritt in die Kita, geholfen. Sinnkrisen, die durch eine Verrentung aufkommen, begegnet die Umwelt, indem Beschäftigung, Hobbys und dergleichen angeboten werden. Den Selbstverwirklichungswünschen des Einzelnen wird Rechnung getragen. Stress und Burn-Out, Liebeskummer und Sinnkrisen auch der kleinen Leute wird mit mehr Nachsicht begegnet. Bei Tolstoi oder Thomas Mann konnten sich allein hochstehende Persönlichkeiten Krisen erlauben.
Strategien gegen die Krise gibt es genug, etliche Utopien, Heilsversprechen, Vermeidungsstrategien, „durch technischen Fortschritt, eine Rückkehr zur Natur, untrügliche Liebe, eine gesellschaftliche oder auch sexuelle Revolution“. Genau hier setzt Dirk Knipphals in seinem Fazit an, wenn er aufräumt mit der Vorstellung, „eine gut eingerichtete Gesellschaft müsse Lebenskrisen die Grundlage entziehen“. Sie sind unvermeidlich in einer emanzipierten, ausdifferenzierten und sensibilisierten Zeit, die uns eben jene Krisen gestattet, anstatt jedes Unwohlsein zu unterdrücken. Lebenskrisen sind in der Form nur in Freiheit möglich. Man sollte sie annehmen, sie als Möglichkeit einer neuen Reflexion nutzen, vertrauen und entspannt sein (soweit dies denn möglich erscheint), der Akzeleration hingeben, ohne sich selbst zu verflüchtigen in dieser Moderne.
[…] eigener Sache: Im Blog gibt es neue Texte zu Dirk Knipphals’ „Die Kunst der Bruchlandung“, Chick-lit von Suhrkamp, „lebenslänglich“ von Philipp Moog, das „Zonic“-Magazin, über […]