Morgen ist Bescherung – und Du hast noch keine Geschenke? 1LIVE stellt Euch im (unvollständigen) literarischen Jahresrückblick Bücher für jedes Familienmitglied vor – lieferbar innerhalb von 24 Stunden.
Die Städte sind im Schneewirbel versunken, gehetzte Weihnachtseinkäufer schieben sich durch die kitschigen Filz- und Crepesbudengasse und die besten Geschenke sind beim verkaufsoffenen Adventssonntag über die Ladentheke gewandert. Doch es gibt eine Rettung. Der deutsche Buchhandel liefert Bücher genauso schnell wie die Apotheke das lebensnotwendige Insulin. Wer heute bestellt ist morgen glücklich – und kann mit ein paar Klicks oder einen zehnminütigen Besuch in der Eckbuchhandlung alles für den besinnlichen Heiligen Abend einpacken lassen. Das Jahr 2010 hat für jeden Lese-Geschmack etwas dabei.
Januar – Twilight kommt ins Kino
Knutschflecken die bleiben, ein ätherisch schöner Vampir mit wechselnder Augenfarbe, das ewige Geheimnis bedingungsloser Liebe, Emo-Atmosphäre, Burberry-Chic, Muse und Radiohead als musikalische Untermalung – “Biss zum Morgengrauen”, als Buch und als Film begeisterte Anfang des Jahres unsere sehnsuchtsvoll pochenden Herzen. Die Bände von Stephenie Meyer sind und bleiben ein Ereignis, weil sie in schlichter Sprache die komplizierteste Beziehung, auf Leben uns Tod, zu beschreiben wüssten. Der schönste Kinostar 2009 heisst selbstverständlich Robert Pattison (Edward). Der “World‘s Sexiest Man” und Kollegin Kristen Stewart (Bella) sind ein Lieblingspaar der Klatschpresse. Im Buch sind beide nicht zu sehen. Zum Vorstellen und Schmachten reicht es allemal und ist deshalb das perfekte Geschenk für: die beste Freundin.
Februar – Grass‘ in Göttingen
Das Wendetagebuch “Unterwegs von Deutschland nach Deutschland” ist ein Buch über deftige Mahlzeiten, Zigarren und schweren Alkohol. Es ist im Geist der alten Bonner Republik verfasst, als westdeutsche Firmen die DDR aufkaufen konnten, aus prall gefüllten Nachkriegskassen schöpften und Worte wie Krise, Kurzarbeit und Kündigungen unbekannt schienen. Als Günter Grass das Wer im Göttinger Hörsaal vorstellte, sprang Popautor Benjamin von Stuckrad-Barre während der Podiumsdiskussion auf und fragte den Nobelpreisträger, warum er nie ein gutes Wort für den einst im Stasiknast Bauzen inhaftierten Walter Kempowski einlegte. Grass mauerte, Stuckrad-Barre verglich in später mit Helmut Kohl – beinahe ein Skandal. Für: den Flakhelfer-Opa.
März – T.C. Boyle liest in Köln
T.C. Boyle, bestens aufgelegt, las im Theater am Tanzbrunnen aus seinem brillanten, perlend schönen, für Balkonnachmittage bestens geeigneten Bestseller “Die Frauen” – über den amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright, der das Guggenheimmuseum in New York konstruiert hat. Es geht um: die vielen Frauen des Architekten inklusive der damit entstandenen Probleme im puritanischen, bigotten Amerika der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Boyle kam in roten Chucks und gelbem Blazer auf die Bühne. Ein cooler Typ, der auf die Frage, wieso dieses Buch “Die Frauen” und nicht “Der Architekt” heißt, antwortete: “Wissen sie, ich bin seit 35 Jahren Sklave einer einzigen Frau. Sie liegt den ganzen Tag auf dem Sofa, isst Bonbons, ich massiere ihr die Füße und mache auch alles andere.” Glamour. Architektur und Frauen – ein Fall für: den Herrn Papa.
Juni – Bachmannpreis für Petersen
Mit seiner einfühlsamen Geschichte “Bis dass der Tod” gewinnt der 33-jährige Arzt Jens Petersen deutlich (die Jury entschied 5:2) den Ingeborg Bachmann-Preis im österreichischen Klagenfurt. Im Text erschiesst ein Mann seine todkranke Frau aus Mitleid, weil er ihr Leiden nicht mehr verantworten kann: “Sobald du abgedrückt hast, wirst du warten, dreißig Sekunden lang. Du wirst dich zwingen, hinzusehen.” Danach will er sich selbst umbringen. – Dieses Klagelied über die letzten Stunden eines gemeinsamen Lebens ist traurig, aber auch um Klassen besser als alle anderen Texte, die während der “34. Tage der deutschsprachigen Literatur” in Kärntens Landeshauptstadt vorgestellt wurden. Bis das komplette Buch erscheint, greift man zu “Die Haushälterin”, dem flirrenden Debüt des Zwei-Meter-Mannes. Jens Petersen ist auf jeden Fall ein Autor für: die Mutter.
22. August – Infinite Jest erscheint
2008 nahm sich David Foster Wallace das Leben. 2009 erschien sein 1.648 Seiten langes Vermächtnis “Infinite Jest”, seine Geschichte über die Event-, Sucht-, Competition-, Ablenkungs- und Wahnsinnskultur unserer Zeit. Spielt in einer Entzugsklinik, einem Tenniscamp, in einer anderen Welt und ist mit seinen Fußnoten, Fremdworten, seinen ellenlangen Sätzen, seinen absurden, wahnwitzigen Dialogen, seiner ganzen Machart ein genialer Wurf, der tatsächlich “unendlichen Spaß” bereitet. Für: den Nerd-Bruder. David Foster Wallace: “Unendlicher Spaß – Infinite Jest”, übersetzt von Ulrich Blumenbach, KiWi, 1.648 Seiten, 39,95 Euro
24. September – Juli Zeh & Slut auf Tour
Was bedeutet Menschenwürde? Wofür sind wir bereit zu sterben? Warum führt Freiheit zu Sicherheit – aber Sicherheit nicht zu Freiheit? Mit einem gemeinsamen Live-Hörspiel-Auftritt in Bremens Schwankhalle eröffnen Schriftstellerin Juli Zeh und die Rockband Slut ihre “Corpus Delicti”-Tour, punktgenau zur “Corpus Delicti”-CD-Release, wenige Woche nach Veröffentlichung des mit Ilija Trojanow verfassten Sachbuchs “Angriff auf die Freiheit – Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte.” Slut haben “Corpus Delicti” vertont und jetzt fragen sich alle, ob das hier eine Theaterinszenierung, eine Oper, tatsächlich ein Hörspiel ist? Auf jeden Fall begeistert es die Massen. Dabei sind die Themen auf den ersten Blick sperrig. Es geht um Freiheit, Gesundheit, Recht, Sicherheit, Demokratie und Terrorismus.
Die Juristin und mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin Juli Zeh (35) erzählt im Science-Fiction-Roman von einem Überwachungsstaat, der perfiderweise über Leichen geht, um die Sicherheit und das Leben seiner Bürger zu schützen. Individualität ist nichts, das Wohlergehen aller “Methode”. Ist dieser “Angriff auf die Freiheit” Zukunftsmusik? Im genau so betitelten Sachbuch wird noch einmal zusammengefasst, wie insbesondere seit den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 unsere lang erkämpften Rechte von sicherheitsfanatischen Obrigkeiten weggeschmissen werden – im Namen der Sicherheit. Großartig recherchiert. geradezu unheimlich. Das komplette Juli Zeh-Paket, bestehend aus Sachbuch, Roman und CD ist auf jeden Fall etwas für: die politische aktive Lieblingschwester.
10. Dezember – Nobelpreis für Herta Müller
Wie man einen Wollpullover entlaust steht in “Atemschaukel”, dem aktuellen Roman der ebenso überraschenden wie überraschten Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller: “In der Abenddämmerung bei gut unter null Grad Celsius gräbt man ein 30 Zentimeter tiefes Loch in die Erde, steckt den Wollpullover ins Loch, lässt einen fingerlangen Zipfel herausstehen und scharrt das Loch locker zu. In der Nacht kriechen sämtliche Läuse aus dem Pullover. In der ersten Morgendämmerung sitzen sie in weißen Klumpen auf dem Zipfel. Dann kann man sie alle auf einmal mit dem Schuh zertreten.” Das ist trauriger Alltag im russischen Arbeitslager,
in das ein junger Mann aus Siebenbürgen nach dem 2. Weltkrieg deportiert wurde. Unfassbar zärtliche Sprache, schmerzhafte Szenen, an jeder Stelle möchte man beim Lesen den Atem anhalten. „Atemschaukel“ ist Weltliteratur. Die 1953 in Nitzkydorf (Rumänien) geborene Herta Müller lebt seit 1987 in Berlin, hat bereits etliche Preise für ihr uneingeschränkt empfehlenswertes Werk bekommen und wurde 2009 dennoch überraschend Nobelpreisträgerin, vor Favoriten wie Philip Roth oder Thomas Pynchon. Ein würdiges Geschenk für: die liebe Großmutter (und man kauft am besten noch ein zweites Exemplar für sich selbst).