„Der zweite Jakob“ erzählt die Geschichte eines Schauspielers, der kurz vor seinem 60. Geburtstag feststellt, dass auch er ein Abgrund ist. Geschrieben hat ihn Norbert Gstrein, einer der interessantesten Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Er debütierte 1988 mit der Erzählung „Einer“ im damals noch Frankfurter Suhrkamp-Verlag. Es war das Jahr, in dem Gstrein zugleich seine Dissertation einreichte, die unter dem Titel „Zur Logik der Fragen“ keinesfalls in einem geisteswissenschaftlichen Fachbereich– sondern an der mathematischen Fakultät der Universität Innsbruck angefertigt worden war. Die Logik ist weiterhin sein Metier, die Unlogik zwischenmenschlicher Verhältnissen wirkt wie eine Triebfeder seiner Literatur. Ein Gespräch.
„Der zweite Jakob“ heißt Ihr aktueller Roman, der berichtet von der Lebensbilanz eines österreichischen Schauspielers, der es geschafft hat, in den USA erfolgreich zu sein – nicht ganz so erfolgreich wie Christoph Waltz ist er, aber ähnlich diabolisch sind seine Rollen – bereits dreimal hat dieser Schauspieler einen Frauenmörder gegeben. Bei dem von Ihnen gewählten Titel liegt nahe, eingangs zu fragen: Wenn Ihr Held der zweite Jakob ist: Wer ist der erste – und trifft zu, dass dieser erste Jakob ein reales Vorbild hat? Ich habe für die Figur dieses neuen Romans auf mein allererstes Buch zurückgegriffen, auf die Erzählung „Einer“, in der die Hauptfigur Jakob heißt. Der Jakob des „Zweiten Jakob“ ist nach dem Jakob aus „Einer“ benannt, weil ich in diesem neuen Roman auch versuche, eine Familiengeschichte zu erzählen, eine Geschichte über drei Generationen. Familiengeschichte ist vielleicht ein bisschen zu viel gesagt – aber diese Geschichte, ich weiß nicht, wie sehr wir das betonen müssen, hat tatsächlich auch einen autobiographischen Hintergrund. Vielleicht kann ich das erzählen. Ich bin immer ein bisschen scheu mit diesen autobiographischen Ausbreitungen, weil ein Teil meines Schreibens genau davon lebt, dass ich einerseits davon zehre, andererseits aber gleichzeitig die Spuren verwische und alles in einen hoffentlich schillernden Graubereich hineinziehe. Jakob in „Einer“ ist benannt nach einer realen Figur. Das ist ein höchst problematisches Vorgehen, wenn man das bei einem fiktionalen Text macht, eine Figur nach einer realen Person zu benennen. Ich habe es gemacht, weil ich selbst mit der Zuschreibung aufgewachsen bin als Kind, als Jugendlicher, ich sei der zweite Jakob nach meinem Onkel Jakob, der im Dorf als Sonderling gegolten hat. Also war der Name Jakob auch mein Name und deswegen, das ist wenigstens die sehr moralisch klingende Nacherklärung, habe ich mir erlaubt, die Figur in meinem ersten Buch nach einer realen Person zu benennen.
Das ist ein Spiegel und zahlreiche Spiegel sind in Ihrem neuen Roman zudem aufgebaut. Irgendwann steht ihre Hauptfigur Jakob im Grenzgebiet zwischen Texas und New Mexico, „in der windverblasenen Einöde“, einen Revolver an der Hüfte, Schlagstock, Handschellen, Pfefferspray und ein Funkgerät am Gürtel, er steht da in seinem Filmkostüm, und er spürt, wie sich die Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Fiktion auflöst. – Auf der folgenden Seite wird eine Filmszene geprobt, in der eine Figur konfrontiert wird mit ihrem Doppelleben. Welcher ästhetische Reiz liegt für Sie in literarischen Spiegeln, Doppelwegstrukturen, Rückbezüglichkeiten und so weiter? Einfach die sehr banale Grundannahme, dass die Dinge nicht so einfach sind, wie sie sich, wenn alles schön zurechterzählt ist, manchmal darstellen mögen, sodass ich dieses schön Zurechterzählte durch möglichst viele Spiegel, durch möglichst viele Seitwärtsbewegungen zu brechen versuche, um ein multidimensionales Verfahren zu entwickeln, herbeizuführen, das meinen Figuren, wie ich glaube, gerechter wird, das dann im Schluss daraus auch dem Blick auf reale Personen gerechter wird, weil tatsächlich die Dinge, so schön, wie sie manchmal zum Beispiel in Krimis aufgehen, in der Wirklichkeit nicht aufgehen. Das kennt man vielleicht gerade noch aus der Schule. Wenn man eine Division ausführt, dass dann ein Rest Null herauskommen muss. Aber im Leben gibt es diesen „Rest Null“ nicht, und ich versuche, andere Reste zu erzeugen.
Der Jakob Ihres Romans ist Schauspieler, ein älterer weißer Mann, ein Haudegen, ein Typ, der im Film den Frauenmörder mimt. Doch er ist auch Vater, alleinerziehender Vater genaugenommen, der für seine Tochter Luzie da ist, der sie erzieht, der sie beschützt, der sie beschützen will: Was hat Sie gereizt an dieser Figur des Single Dad? Ich habe da eine moralisch hochproblematische Figur konstruiert. Der Schauspieler, der Erzähler dieses Romans, stiehlt sich aus allen möglichen Situationen, stiehlt sich aus seiner Verantwortung, stiehlt sich im Grunde aus seinem Leben heraus, versucht sich wenigstens herauszustehlen. Ich habe versucht, ihm mit seiner Tochter eine Gegenfigur zur Seite zu stellen, der er sich rechenschaftspflichtig fühlt. Das sagt er auch ganz ausdrücklich. Vor seiner Tochter kann er nicht zurückweichen, er kann nicht zurückweichen vor der zentralen Frage in dem Roman, die sie ihm stellt: „Was ist das Schlimmste, das Du je in Deinem Leben getan hast?“ Das setzt die Geschichte in Bewegung.
Das Schlimmste, das wir hier nicht verraten werden und das sich ganz anders und auch da wieder mehrdimensional zeigt. Es ist nicht das eine Schlimmste. Wir wissen tatsächlich nicht, was das Schlimmste ist, weil es der Erzähler selbst nicht von sich zu wissen scheint. Er blickt auf seine Abgründe und rückt denen immer näher. Manchmal denke ich, ich sei mir auch nicht ganz gewiss gewesen beim Schreiben, was eigentlich die dunkelsten Abgründe dieses Erzählers sind. Ich bin in einer Besprechung auf eine Möglichkeit hingewiesen worden, die ich gar nicht für eine Möglichkeit gehalten habe.
Sie sind nicht nur Schriftsteller, sondern auch ausgebildeter Mathematiker. Der Titel Ihrer 1989 eingereichten Dissertation an der Universität Innsbruck verrät, dass Sie sich auseinandergesetzt haben mit der Logik der Fragen. Wir können gewiss nicht eingehen auf das Raffinement dieser mathematischen Arbeit, doch erinnert Ihre Profession an jene logisch denkenden Naturwissenschaftler, die Masha Gessen beobachtet hat in ihrer Grigori Perelman-Biographie (hier). Dort beschreibt sie, dass sich der innersowjetische Widerstand maßgeblich aus den Kreisen logisch denkender Professionen gespeist hat. Denn Mathematiker, Schachspieler, Physiker halten Unlogik weniger gut aus. In der Sowjetunion beispielsweise die Diskrepanz zwischen öffentlicher Verlautbarung, marxistische Lehre und tatsächlich politischem Handeln. Auch Sie, Herr Gstrein, poetisieren in Ihrer Literatur permanente Widersprüche unserer Gesellschaft. In welchem Zusammenhang steht die Thematisierung dieser Widersprüche zu ihrer Beschäftigung mit der Mathematik? Das ist ein schöner und, wie ich finde, interessanter Zusammenhang, den Sie herstellen, weil ich mir tatsächlich häufig gedacht habe, wenn ich politische Diskussionen des Alltags verfolgt habe, wie strapazierfähig bei manchen die logischen Prämissen sind. Für Leute, die Mathematik oder Naturwissenschaften studiert und dadurch ein näheres Verhältnis haben zu logischen Zusammenhängen, ist diese Strapazierfähigkeit manchmal nicht ganz so groß. Das macht sie manchmal in der Außenwahrnehmung zu – vielleicht ist das ein zu kräftiges Wort, aber vielleicht auch nicht –, zu konservativeren Menschen, weil sie gewisse Zusammenhänge, die sie als logisch erkannt haben, sich nicht wegdiskutieren lassen wollen, von einem Zeitgeist beispielsweise.
Dazu passend berichtet Ihr Jakob an einer Stelle von einem Interview, das er dazu benutzt hat, zu sagen, er würde einen seiner Kritiker am liebsten zum Duell fordern. Dieser Kritiker nannte sich selbst einen Linken, war aber in den Augen Jakobs bloß, ich zitiere, ein glattgewichster Opportunist, der wusste, wie man Karriere machte, sein Fähnchen nach jedem Lüftchen hängte, seine Meinung dreimal gewechselt hatte, bevor man soweit war, sich eine zu bilden, und sich genauso gut einen Rechten hätte nennen können, wenn nur der Zeitgeist anders gewesen wäre.“ Dieses Argument ist im Jahr 2021 häufig zu hören, dann zumeist Bezug nehmend auf die sogenannte Identitätspolitik. Welche Schwierigkeiten hat Jakob, welche Schwierigkeiten haben Sie mit dieser neuen Art, in die Welt zu schauen? Ich lebe in der Jetztzeit und bin allemal bereit, der Identitätspolitik – was so genannt wird – weit genug zu folgen, aber es gibt Bereiche, wo ich denke, dass ich ihr nicht mehr folgen kann und dass wahrscheinlich auch der Gesellschaft gut geraten ist, wenn sie ihr nicht zu weit folgt, wenn sie gewisse Grenzen, die auch logische Grenzen sind, nicht mehr gewillt ist, zu überschreiten. Ich habe vor gar nicht so vielen Tagen in der Zeitung gelesen, dass in Oregon, in den USA, darüber diskutiert wird, einen Fachbereich „Ethnomathematik“ einzurichten. Ethnomathematik in dem Sinn, dass benachteiligte Schichten, die es aus sozialen Gründen im Bildungswesen tatsächlich schwerer haben, das ist nicht hinwegzureden, dass denen aber nicht zugemutet werden kann, dass mathematische Aufgaben manchmal ein eindeutiges Ergebnis haben – zwei plus zwei ist vier –, dass man ihnen deswegen eine Alternative anbieten müsse. Wer dem noch zu folgen gewillt ist, ist für mich eine Gefahr für die Gesellschaft, weil Mathematik auch Anwendungen hat. In jedem Gebäude steckt Mathematik. Darauf müssen wir uns verlassen können. Wenn Sie das ethnomathematisch diskutieren, dann können Sie vielleicht nicht mehr auf die Statik vertrauen, und dann beginnen die Dinge buchstäblich zusammenzubrechen.
Norbert Gstrein: „Der zweite Jakob“, Carl Hanser, München, 448 Seiten, 25 Euro.