Christine Wunnicke hat erneut eine faszinierende historische Figur entdeckt. In „Wachs“ erzählt die Wilhelm-Raabe-Preisträgerin von 2020 eine lesbische Liebesgeschichte zwischen Leichenschau, Blumenmalerei und Guillotine. Sie führt ins Frankreich des 18. Jahrhunderts, in die Wirren von Ancien Régime und blutiger Revolution.
„Ich möchte bitte eine Leiche kaufen, so Sie eine für mich haben. Das Geld trage ich bei mir, ich kann gleich bezahlen, so es denn nicht allzu teuer ist, und meine Mutter heißt es gut.“ Hoffnungsfroh steht die bald 14-Jährige Marie Bihéron an einem Novemberabend des Jahres 1733 vor den Schwarzen Musketieren. Die Halbwaise hat sich in die streng bewachte Kaserne geschlichen und ist nun verwundert, dass ihre Bitte abschlägig beschieden wird. Hier soll es keine Leichen geben?
„Bitte schicken Sie mich nicht fort. Meine große Schwester nahm vor kurzem den Schleier. Nun will auch ich etwas beitragen. Ich habe eine Begabung dafür. Ich habe alles gelernt. Sie können mich prüfen, wollen Sie sichergehen. Ich habe auch eine Eröffnung bereits ansehen und ein wenig dabei auch leisten dürfen. Ich bin noch Schülerin, doch Anfängerin nicht.“
Leichen gibt es doch nicht beim Militär
Unbeirrbar hatte sich die Apothekertochter Marie Bihéron in den Kopf gesetzt, einen menschlichen Körper zu sezieren, ihn zu begutachten, um ihn hernach abzuzeichnen. Und Leichen, das hatte ihre Mutter gesagt, gäbe es beim Militär. Zweifelsohne gehören die „mousquetaires noirs“ mit ihren schwarzen Rappen zum Militär. Eine Eliteeinheit. Die Soldaten dieser Eliteeinheit aber sind verwundert, manche sogar empört, dass ein derartiges Ansinnen an sie herangetragen wird – immerhin gibt es nicht einmal einen Krieg. Das alles muss ein großes Missverständnis sein.
Dass Marie etwas falsch interpretiert hat, versteht sie allerdings erst, als sie des Nachts betrübt nach Hause zurückkehrt, in die Unterkunft, die sie mit ihrer verwitweten Mutter bewohnt. Marie ist auf eine Redensart reingefallen. Selbstverständlich ist das Militär verantwortlich für zahlreiche Tote, doch würde es diese Toten niemals an Zivilisten verschachern. So wird die herb Enttäuschte endlich von ihrer Mutter aufgeklärt über die Art und Weise, wie man im Paris des 19. Jahrhunderts möglicherweise doch an menschliche Überreste gelangen kann. „’Leichen’, sagte Madame Bihéron, ‚Gott steh mir bei, kauft man beim Totengräber. Man kauft sie bei Männern, die über Friedhofsmauern steigen und sie stehlen. Man kauft sie bei den Katharinenschwestern. Man kauft sie im Hôtel de Dieu. Die Anatomen haben ihre Mittel und Wege.’“
Eine unstillbare Neugierde
Marie Bihéron, die Heldin von Christine Wunnickes neuem Roman, hat tatsächlich zur Zeit des Ancien Régime in Paris gelebt – und schon bald nach ihrem 14. Geburtstag die erste Leiche seziert. Sie tat dies, um zum Unterhalt der verarmten Kleinfamilie beizutragen, aber auch in der Hoffnung, Gottes vornehmster Schöpfung nahezukommen. Tief gläubig ist Marie Bihéron nicht, obwohl ihre Familie dem Jansenismus angehörte, jener auf Cornelius Jansen zurückgehenden und sich auf Augustinus‘ Heilslehre berufende Lehre des 17. und 18. Jahrhunderts, die als radikale katholische Strömung zurückkehren wollte zur ursprünglichen christlichen Lehre.
Aus dieser Strömung könnte allerdings Bihérons Idee von Transzendenz kommen, der sie eine unstillbare Neugierde, einen alles beherrschenden Erkenntniswillen an die Seite stellt. Sie weiß, dass unsere Existenz mit bislang ungelösten Fragen verbunden ist, die durch Forschung beantwortet werden können. Um hinter die Fassade des Daseins zu schauen, überwindet Marie Bihéron fortan ihren Ekel vor verwesenden Menschen. Sie reibt sich tapfer das Nelkenöl unter die Nase und arbeitet über Jahrzehnte äußerst konzentriert an Leichnamen. „Man bekommt den Geruch nicht heraus. Und es bleiben doch immer Leute. Man deckt das Gesicht zu, doch das macht es kaum leichter. Man braucht Duftöl und erstaunlich viel Kraft in den Händen.“
Weltweite Bewunderung
Marie Bihéron, die erstaunlich viel Kraft in den Händen hat, wird später über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Sie stellt Arbeiten an der Académie des sciences aus, darunter das Abbild einer schwangeren Frau mit Fötus. Gustav III., Kronprinz von Schweden, ist ein Bewunderer ihrer Arbeiten. Kaiserin Katharina II. von Russland kauft Bihérons Wachsmodelle. Benjamin Franklin steht im engen Kontakt mit der, ja, so muss man es nennen: Künstlerin. Denis Diderot besucht ihre anatomischen Vorlesungen. Doch der Weg zum Ruhm ist steinig. „Zehn Jahre lang war sie fleißig gewesen, hatte sich winters über Leichen, sommers über Bücher gebeugt und war nun der beste Anatom von Paris. Strenggenommen müsse es Anatomin heißen, fand Madeleine, doch mit wem sollte sie sich dieserart messen? Mit der Fleischerin und der Köchin?“
Diese heutzutage beinahe vergessene Anatomin, Zeichenkünstlerin und Wachsbildnerin wird lebendig in Christine Wunnickes neuem, spekulativ ausgeschmücktem Roman. Der Titel „Wachs“ ist mehrdeutig. Es wächst und wuchert verschiedentlich in dieser achronologisch erzählten, von 1719 bis 1795 spielenden Umbruchs- und Selbstermächtigungsgeschichte. Allenthalben wird hier aber auch Wachs geschmolzen, mit verschiedenen Mischungen experimentiert, modelliert und nachgebessert, um mit diesem Werkstoff eine perfekte Mimesis zu erreichen. Während der Lebensspanne Marie Bihérons erwächst ebenso die Aufklärung aus der starren gesellschaftlichen Ordnung des Ancien Régime. Und das nicht ohne revolutionäre Gewalt. Für diese Art des durchaus auch dialektisch zu betrachtenden Wachsens ist ein Fallbeil, die Guillotine, auf dem Buchumschlag abgebildet. Die Guillotine wird umrankt von Blättern und Blüten. In Marie Bihérons Lebensgeschichte stehen diese Pflanzen nicht nur sinnbildlich für das Werden, sondern auch konkret für die zweite Hauptfigur des Romans: Madeleine Françoise Basseporte, eine französische Malerin, die ebenfalls im 18. Jahrhundert lebte und die bekanntgeworden ist durch ihre detailgetreuen Gouachen von heimischem Unkraut und Gewächsen der Neuen Welt, von Nutz- und Zierpflanzen, die seinerzeit im „Jardin du Roi“, dem botanischen Garten von Paris ausgestellt wurden.
„Madeleine Basseporte war eine hochgewachsene Schönheit, von einer solchen Gattung und Art, dass sie Gegaffe, Gerede, Geseufze auf sich zog und im schlimmsten Fall auch Gedichte; diese waren zwar immer an ihre Blumenbilder gerichtet, aber meinten in Wirklichkeit sie, samt Bienen und Hirten und was sonst man noch in Gedichte schrieb. Nicht der hässlichste Schleier, nicht das kühlste Gebaren schob dem einen Riegel vor; dabei war Madeleine Basseporte zu alt, um ihren Jungfernstand noch zu ändern; bald würde sie vierunddreißig.“
Ein prometheischer Bildungsweg
Madeleine Basseporte ist die Zeichenlehrerin der 18 Jahre jüngeren Marie Bihéron. Ein hoffnungsloser Fall. Die Teenagerin bemüht sich vergeblich, Pflanzen auf eine ähnlich naturgetreue Weise abzubilden wie ihr künstlerisches Vorbild. Zahlreiche Jahre werden vergehen, bis ihr deutlich wird, dass sie einen anderen Weg – die Modellage – finden muss, um einerseits ihrem künstlerisch-mimetischen Anspruch Rechnung zu tragen, um andererseits aber auch ganz reale Rechnungen zu bezahlen, um angemessen Geld zu verdienen.
Öffentliche Leichenzergliederungen waren im 18. Jahrhundert durch die Anatomischen Theater bekannt, in denen nicht nur Medizinstudenten, sondern auch von Schaulust getriebene Zuschauer an Sektionen teilnehmen konnten. Wer jedoch wie Marie im stillen Kämmerlein seine Forschung betrieb, konnte zwar zu allerlei Erkenntnissen gelangen, jedoch keine Reichtümer anhäufen. Hatte sie diese Schwierigkeiten geahnt? Jahre zuvor, als junger Backfisch, als Zeichenelevin, gebärdet sich Marie jedenfalls heißspornig. Von Zukunftsangst ist nichts zu spüren. Obwohl ihre Lehrerin den misslungenen Versuchen seufzend gegenübersteht, will Marie im nachgerade prometheischen Sinne ihren Bildungsweg weitergehen.
„Sie war fast noch ein Kind, schmal, blass, in immer demselben grauen Kleid. Mit festem, zu festem Strich zeichnete sie alles, was sie sollte; nicht schön. Sie zeichnete anders als alle anderen Mädchen, die Madeleine Basseporte je unterrichtet hatte. Während die meisten viel zu vorsichtig alles schraffierten, zog Marie harte Umrisslinien. Ihre Blumen sahen aus, als habe sie jemand mit einem Stempel aufs Blatt gestempelt. Als male sie das Prinzip hin statt des Anblicks, mit Verve und Wut.“
Ganz anders als Daniel Kehlmann
Höchstwahrscheinlich war Zeichenlehrerin Madeleine Basseporte über die Dauer mehrerer Jahrzehnte die Lebensgefährtin Marie Bihérons. Im Roman wird diese vermutete Liaison aus narrativen Gründen als Fakt behandelt. So erscheint der zeitgleich beschrittene Erkenntnisweg wie eine pikante Herzenssache, die Christine Wunnicke mit Sinn für den Liebeszauber dezent ausgestaltet. In der hier vorgestellten Doppelbiographie pulsiert es damit auch aufgrund der lesbischen Liaison vollblütiger als in Daniel Kehlmanns formal ähnlich gelagerter Spekulation „Die Vermessung der Welt“ über den Mathematiker Carl Friedrich Gauß und den Naturforscher Alexander von Humboldt.
In einer weiblichen Version des Lolita-Motivs becirct die jugendliche Marie ihre Lehrerin und bittet sie bereits nach wenigen Stunden um nähere Gesellschaft. Sie möchte mir ihr an einer Messe in Notre Dame teilnehmen – ausgerechnet zur Karwoche. „Ich führe ein Kind zur Kirche“, denkt die 18 Jahre Ältere, als sie wenig später gemeinsam den Weg zum Altarraum nehmen. Dort ereignet sich eine Szene, die mehrdeutig gelesen werden kann, keinesfalls bloß als Kirchenbesuch, sondern auch als Hochzeit zweier Menschen, die einander versprochen sind. „So lange hatte Madeleine Notre-Dame nicht betreten, dass sie fast das Entsetzen ergriff. Der heilige Christophorus war zu groß. Die Kirche war zu groß. Man hatte sie letzthin überall weiß getüncht, das hatte sie bleich und fremd gemacht. Die Gotik zog das Auge hinan und drückte die Seele darnieder.“
Die Messe als Entjungferung
Die Karwoche gedenkt der Passion Christi. Und doch gerät die Zelebration der erhabenen Messe zur berührungsempfindlichen Allegorie sexueller Begierde. Noch ist der Mutterschoß ähnliche Altarraum mit seinen Schätzen verborgen hinter einem bodentiefen Fastentuch. Marie wird ebendort niederknien, zur stehenden Madeleine emporschauend. Die Lehrerin fühlt sich überfordert. Sie schaut abwechselnd zu Marie und in Richtung des purpurnen Fastentuchs, das ihr bedrohlich erscheint, als sagte ihr diese heilige Barriere, dass es ab hier nicht weiterginge, dass sie es nicht wert sei, dem dahinterliegenden Mysterium ansichtig zu werden. All dies passiert, während die römisch-katholische Messe – selbstverständlich auf Latein – gelesen wird.
„Und es ward eine Finsternis. Bis zur neunten Stunde. Und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. Da kam das Tuch herunter. Sie hatten an den Obergaden die Seile gelöst. In einer einzigen schweren purpurnen Welle rauschte der Stoff zu Boden und schlug dumpf auf dem Marmor auf. Ein Seufzen ging durch die Menge. Hinter dem Tuch war Gold. Goldene Heilige. Eine goldene Sonne. Ein goldenes Kreuz. Genügend, mehr als genügend Kerzen. Der glänzende neue Altarraum der alten Kathedrale. In manus tuas commendo spiritum meum. Madeleine hielt sich den Mund zu. Marie stand langsam auf.“
Das ganze Haus stinkt
„In Deine Hände befehle ich meinen Geist…“ Zwei Jahrzehnte später, immer noch liiert mit Madeleine Basseporte, ist Marie Bihéron die beste Anatomin von Paris. Doch kann sie mit ihrer Profession kaum etwas verdienen. Forschung, insbesondere Forschung, die von Frauen betrieben wird, ist in der Zeit vor der Aufklärung nur selten ein materiell einträgliches Geschäft. So sattelt Marie Bihéron um. Die fortan von ihr gefertigten Wachsmodelle sind ein Kompromiss – und zugleich die Grundlage ihres bald anwachsenden, weltweiten Ruhms.
„Im August 1745, bei glühender Hitze, kaufte Marie Bihéron im Hôtel de Dieu eine Leiche. Anders wusste sie sich nicht zu helfen. Es war ein magerer alter Mann. Sie verzog sich mit ihm in den Keller. Sie brachte Wachs mit, Bossierhölzer, Draht, eine Lupe. Sie brachte Säge und Zange und das Chirurgenbesteck, Werg und Papier. Dann brachte sie Gips. Bis sie fünfmal gegangen war, um alles zu holen, stank schon das ganze Haus.“ Zum Glück hat Marie Bihéron weiterhin ihr Nelkenöl, dass sie unter die Nase reiben kann. Doch braucht sie keineswegs immer eine frische Leiche, denn sie hat, so scheint es, eine Art fotografisches Gedächtnis. Hinzu kommt, dass sie mit den Wachsmodellen endlich die ihr gemäße Ausdrucksform findet.
Meine Frau macht neuerdings Menschen
Ein Überschuss an Sinnlichkeit verleiht ihrer Kunst das Herausgehobene. Man kann diese Fähigkeit durchaus auf die Literatur übertragen und das Buch an vielen Stellen poetologisch lesen. Bihérons Lebensgefährtin schreibt an den berühmten schwedischen Naturforscher Carl von Linné: „Meine Frau macht neuerdings Menschen […] Ein ständiges Schauerstück ereignet sich hier. ‚Es gipse, wer gipsen will’, sprach Marie, dann begann sie zu kneten und zu schnitzen. Sie braucht dafür nicht einmal ein Modell. Sie kann es aus dem Gedächtnis. Alles, was der sterblichen Hülle innewohnt, befindet sich in ihrem Kopf. Sie verschönt es dort drinnen. Sie nimmt das Kranke fort, das Faule, das Gestorbene, dann gibt sie ihre Liebe hinzu und macht alles heil.“
Der christliche Heilsweg wird hier durch die Könnerschaft Marie Bihérons gespiegelt, was dann fast schon eine blasphemische Note bekommt, wenn der Mensch so, also gewissermaßen durch die Hintertür wieder ins Heil, ins Paradies eintritt. Man kann sich unweigerlich fragen, weshalb diese Geschichte ausgerechnet jetzt, im Jahr 2025 erzählt wird, an welche zeitgenössischen Phänomene der „discours“ anschlussfähig ist.
Intime Körpererkundungen
Es griffe zu kurz, den „Wachs“-Roman als lediglich eine weitere, diesmal in den Naturwissenschaften wurzelnde weibliche Emanzipationsgeschichte zu lesen. Nichts hat diese knapp 180-seitige Erzählung zu tun mit Bonnie Garmus’ Bestseller „Eine Frage der Chemie“ oder der Kinoromanze „Marie Curie – Elemente des Lebens“ mit Rosamund Pike. Feministisch ist „Wachs“ nur insofern, als hier die Erkundung eines intimen Nahbereichs, des menschlichen Körpers bei Marie Bihéron, der Pflanzenwelt bei Madeleine Basseporte vorgestellt wird, und dass diese Untersuchungen des Nahbereichs im Spannungsverhältnis stehen zu den rein männlichen Expeditionen jener Zeit. Man denkt möglicherweise an die Seefahrten von James Cook oder Georg Forster. Die Heldinnen aus „Wachs“ bleiben hingegen daheim, und noch auf dem Sterbebett ist Marie Bihéron eingenommen von der „terra incognita“ ihres eigenen Körpers.
„Mit einer gewissen Rührung blickte sie ins Innere ihrer Rechten. An der menschlichen Hand hatte sie stets Gefallen gefunden. Substanz und Mechanik waren hier tadellos. Wie ein Uhrmacher, der jede Uhr notgedrungen von innen sieht, sobald er eine von außen betrachtet, sah Marie Biheron in Körperteile hinein. Sie häutete alles, in alter Routine, mit einem einzigen Blick. Versammelte sie ihren Geist, sah sie in ihrer Hand ihr ganzes Leben.“
Unwahrscheinlichkeit einer gelingenden Biographie
In der Hand ein ganzes Leben. Christine Wunnickes „Wachs“ ist ein zutiefst menschlicher Roman im Geiste des Humanismus, der in unseren hochtechnisierten Zeiten noch einmal den Blick auf die Bedeutung handwerklicher Fertigkeiten richtet und auf menschliche Lebensträume, die einer Aufklärung verpflichtet sind. „Wachs“ ist ebenso ein Versuch über die emanzipatorische Kraft sowohl naturwissenschaftlicher als auch künstlicher Betätigung. Der Roman ist ein Erstaunen über die Unwahrscheinlichkeit einer gelingenden Biographie ganz aus sich selbst heraus.
Er denkt anregend darüber nach, welche Fertigkeiten, Charakterzüge, welche ganz anderen, eben nicht neoliberal kontaminierten Formen der Resilienz benötigt werden, um dem Leben Sinn abzutrotzen. „Wachs“ möchte zwar dem Bauplan Gottes nahekommen, den Mensch auch als eine Maschine verstehen. Zugleich erzählt diese Geschichte hinreißend von menschlicher Beherztheit und von der stärkenden Kraft echter, sentimentaler Liebe.
„Madeleine schob eisige Finger in Maries schlafwarme Hand. Sie wollte geküsst und geliebt werden, und Marie küsste und liebte sie. […] Sie sagte viele Dinge, den üblichen Unsinn, den man spricht bei der Liebe, meine Rose, meine Clematis, meine Iris tuberosa’ […] Ein wenig Kunst war in die Liebe geraten. So geht es, dachte Marie, es ist dies der Lauf der Zeit.“
Faszinierende Lektüre
Den Zeitläuften, wohin sie auch streben, ist leichter zu begegnen, wenn Solidarität herrscht, eine Idee von Verbundenheit – auch das zeigt dieser ausnehmend schöne Roman, der mit dem Bild einer Umarmung endet. Wer sich in Christine Wunnickes Literatur hineinbegibt, betritt erzählerisch sicheres Gelände: als vertraute man sich der Regie einer Sofia Coppola an. Der präzise Stil, die originellen, doch nie gesucht wirkenden poetischen Bilder und die variantenreiche, am Realismus des 19. Jahrhunderts geschulte Sprache treffen in „Wachs“ jederzeit den gemäßen Ausdruck.
Das Buch reiht sich ein in die stets von ungewöhnlichen Protagonisten erzählende Literatur Christine Wunnickes – ausgehend vom Debüt „Fortescues Fabrik“, das dem Erfinder industrieller Poesieproduktion nachspürt, über „Der Fuchs und Dr. Shimamura“ – im Mittelpunkt steht ein japanischer Neurologe des ausgehenden 19. Jahrhunderts, bis zu „Die Dame mit der bemalten Hand“, ein Roman, der hintersinnig von einer indischen Forschungsreise des deutschen Mathematikers und Kartografen Carsten Niebuhr erzählt. „Wachs“ ist erneut historisch – und es ist ein Künstlerroman auf der Grenze von Erkenntnis und Interesse geworden, leichthin beweisend, dass Christine Wunnicke selbst eine der großen Künstlerinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist.
Christine Wunnicke: „Wachs“, Berenberg, Berlin, 176 Seiten, 24 Euro