Eine Autorin bringt ihre Helden um: Ulrike Almut Sandigs Geschichtendebüt “Flamingos“ erzählt von sterbenden Vätern und stürzenden Ichs, von Gefallenen, Selbstmördern, Unfallopfern. Es fließt Blut.
“Am nächsten sind mir die Steine. Sie haben nie gelebt und trotzdem sind sie da, sie sind immer da gewesen. Denken Sie an mich, wenn Sie später an der Baugrube Ihres schwedischen Fertigteilhauses stehen. Suchen Sie sich einen Kieselstein und werfen Sie ihn in das tiefste Loch auf der ganzen Baustelle. Behalten Sie den Punkt im Auge, an dem Ihr Kieselstein in der Dunkelheit verschwindet. Konzentrieren Sie sich aber nicht zu sehr. Schauen Sie haarscharf dran vorbei. Was Sie jetzt sehen, bin ich.“ Schon in der ersten Geschichte, überschrieben mit “Über mich“, wie ein Anhang zur Bewerbungsmappe, zerstört Ulrike Almut Sandig alle Illusionen. Niemand wird sich später an uns erinnern. Schon die Enkel werden nicht glauben, dass wir jemals jung waren. Das Leben findet wahrscheinlich nur in unserem Kopf statt, “nichts weiter als ein biochemischer Traum. Wir haben einfach keine Beweise, dass wir das wirklich gewesen sind.“
Wer sich vom ersten Schock dieser verstörenden Geschichtensammlung erholt hat, wird im Lauf der folgenden 152 Seiten konfrontiert mit einem demenzkranken Vater, der beim gemeinsamen Frühstück tot vom Stuhl kippen wird, mit einer blinden, 10-jährigen Cellospielerin, die ein Kleintransporter beim Ausparken überfährt und von einem Schüler, der sich während eines Orkans von der Brücke stürzt. Ein kleines Kind patzt bei der ersten Beerdigung, eine alte Frau geht ins Wasser und ertrinkt absichtlich, aus Liebeskummer. “Alle in diesem Band versammelten Geschichten sind phantastischer Natur. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder historischen Tatsachen sind rein zufällig“, beruhigt Ulrike Almut Sandig auf der letzten Seite, aber das hilft nicht viel. Ihre Geschichten sind, obwohl sie surreal, unwahrscheinlich, übermäßig verstörend daherkommend, große Beunruhigungen für schwache Herzen. Sie konfrontieren uns mit Alptraumängsten.
In einer Geschichte öffnet sich die Stirn der Heldin erst einen Spalt, wird dann größer, wächst, bis ein drittes Auge über ihrer Nasenwurzel prangt, das sie zwar mühsam mit Pflastern kaschiert – aber das Übersinnliche ist plötzlich in ihr geordnetes Leben eingebrochen. Denn mit diesem dritten Auge kann sie hunderte Kilometer weit sehen, sie bekommt Ahnungen, Visionen und auch wenn sie diese Gabe nutzt, um zu kontrollieren, ob ihr Sohn das Weihnachts-T-Shirt bei der schmutzigen Arbeit trägt, anstatt es zu schonen – allein die Vorstellung einer solchen Situation stellt alles auf den Kopf. Wie bei Franz Kafka, der in “Die Verwandlung“ behaupten kann, da habe sich Gregor Samsa über Nacht in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt, und wir alle glauben das sofort, kann Ulrike Almut Sandig von dritten Augen, doppelten Herzen, Gespensterstimmen schreiben und man glaubt ihr. Das ist magisch. Und verdammt gut.
Zum den vielen renommierten Preisen, die Ulrike Almut Sandig bislang eingeheimst hat (Leonce und Lena-Preis, Lyrikpreis Meran, Lessing-Förderpreis) kam in diesem Frühjahr bei der lit.COLOGNE in Köln noch eine ganz besondere Ehrung, die sie auf ihrer Homepage mit den poetischen Worten meldete: “Vorgestern hat sich mein Haustierbestand um ein silbernes Schwein erweitert! Im Gegensatz zum Hund ist es garantiert härchenfrei, lebt vegetarisch und klimpert vielversprechend mit seinem Inhalt. Eine Wertanlage zum Gernhaben.“ Ulrike Almut Sandigs “Flamingos“-Geschichten setzten sich beim “Silberschweinpreis“ gegen Leif Randt (”Leichtspielhaus“ ) und Helene Hegemann (”Axolotl Roadkill“) durch. Laut Jury repräsentieren Ihre Geschichten “Schreibweisen für die Wirklichkeit, Prosa mit Bestand“. Amtlich.
Übrigens arbeitet die 1979 geborene und in Riesa aufgewachsene Autorin nicht nur an brillanten Prosatexten. Ihr Gedichte, nachzulesen zum Beispiel im lang vergriffenen, seit Kurzem wieder erhältlichen Debüt mit dem brennenden Titel “Zunder“, sind hervorragend. Dafür hat Ulrike Almut Sandig etliche Gedichte gegenüber der Erstausgabe verändert, „Das habe ich gemacht, weil die alten Gedichte mir oft zu ungenau und zu hermetisch vorkamen, als dass ich sie mit gutem Gewissen neu auflegen mochte. Weil ich aber weiß, dass ich beim Schreiben dieses Debütbands anders als heute über Gedichte dachte, habe ich versucht, meine Neufassungen im freundschaftlichen Einvernehmen mit der Autorin, die ich war, als ich Zunder geschrieben habe, vorzunehmen.“ Es geht, in sehr rätselhafter Art und Weise um Meditation, Schlachtszenen, brennende Böden, ganz viel Licht, Dämonen, Fische, Wolken und Liebe.
Ulrike Almut Sandig: “Flamingos“, Schöffling & Co, 176 Seiten, 17,90 Euro / “Zunder“ , Connewitzer Verlagsbuchhandlung, 72 Seiten, 12 Euro