Grosse Klappe – aber was steckt dahinter? Christoph Poschenrieder schickt Arthur Schopenhauer, dessen 150. Todesjahr gerade begangen wird, mit der Kutsche nach Venedig. Der Philosoph ist ein Genie – nur weiss das leider keiner.
„Kein Glück ohne Freiheit, keine Freiheit ohne Glück.“ Mit dieser sehr hanseatischen Einstellung flieht der 30-jährige Arthur Schopenhauer im Spätsommer 1818 aus Dresden. Sein Großwerk, „Die Welt als Wille und Vorstellung“ soll in Kürze ausgeliefert werden und weil der Philosoph keine Lust hat, bis zum Durchbruch von Mutter, Schwester und Verleger Brockhaus genervt zu werden, packt er seine Sachen. Er will, auf den Spuren Goethes nach Italien reisen und in Venedig Lord Byron, den englischen Dichterstar der Stunde, treffen. Byron, Säufer, Spieler, Weiberheld, ahnt nichts von seinem zweifelhaften Glück.
Schopenhauer ist ein Niemand – außer im eigenen Kopf. „Er würde sich jedenfalls nicht mit einer Tasse Tee und etwas Gebäck begnügen; wenn er Byron gegenüberträte, dann auf Augenhöhe oder gar nicht.“ Mit dieser ihm sehr eigenen Selbstwahrnehmung wird Schopenhauer wenig Freunde gewinnen. Das war im wirklichen Leben nicht anders als in diesem klugen Debütroman von Christoph Poschenrieder.
Schopenhauer der Unsympath: Er machte sich über die fehlenden Englischkenntnisse des Shakespeare-Übersetzers Ludwig Tieck lustig und gab den Frauenfeind: „Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das schöne nennen, konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt.“ In Venedig wird er ein Mädchen kennenlernen, daheim eine Bedienstete schwängern (die das Kind aber verliert). Als er in Venedig Lord Byron vorbeireiten sieht, stellt sich der große Denker nur deshalb nicht vor, weil er Angst hat, ihm könne die Geliebte ausgespannt werden.
„Schopenhauer hat gerade sein Lebenswerk vollendet, sein Buch steht kurz vor der Veröffentlichung“, schildert der 1964 geborene Poschenrieder die Ausgangssituation. „Neuerdings kann ich das auch selbst nachvollziehen, was das heißt – alles ist möglich: Ruhm, Anerkennung, aber auch der Misserfolg, ein totaler Reinfall. Und Schopenhauer hat nur diese eine Chance, mit seinem Hauptwerk ist er ein Frühvollendeter, ein anderes System kann er nicht schreiben.“
Bis zum letzten Lebensjahrzehnt wird Schopenhauer auf Anerkennung warten. „Die Welt als Wille und Vorstellung“ liegt wie Blei in den Sortimentsbuchhandlungen. Niemand interessiert sich für sein Konzept der Welt als Traum, die lediglich aus Vorstellungen besteht, einer Welt, die den Blick auf das, was eigentlich da Leben aller Tiere, Pflanzen und Menschen bewegt, verstellt. Was verstehen seine Zeitgenossen schon vom alles beseelenden, alles determinierenden Willen, dem, was Sigmund Freud viel später das Unbewusste, das „Es“ nennen wird.
Ohne das Erbe seines verstorbenen Vaters müsste der Denker wie einst Diogenes in der Tonne hausen. Dabei hat Schopenhauer „mit seiner Willensmetaphysik erstens unseren Begriff von Wirklichkeit erheblich erweitert; er hat zweitens den Boden für ein neues Menschenbild und ein neues Verhältnis zwischen Mensch, Tier und Umwelt bereitet; er hat drittens die Möglichkeit einer erfahrungs- und wissenschaftsorientierten Metaphysik vorgeführt und damit die Grundlage für eine Rehabilitierung der Metaphysik im 20. Jahrhundert gelegt; und er hat viertens, lange vor der Wiederauferstehung der Philosophie der Lebenskunst, eine pragmatische Klugheitslehre in der Tradition der Moralistik vorgelegt“, schreibt Robert Zimmer in seiner gerade erschienenen Biographie „Arthur Schopenhauer: Ein philosophischer Weltbürger“.
„Die Welt ist im Kopf“ bildet diese Leistungen auf ironisch gebrochene Weise ab. Während einer Verfolgungsjagd versucht Schopenhauer, „das Geschehene in einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu bringen, vor allem, um daraus auf das Kommende zu schließen“, womit Poschenrieder ein wesentliches Merkmal der Schopenhauer‘schen Vorstellungswelt antippt. An anderer Stelle debattieren während des Karnevals Schopenhauer und Lord Byron, beide in Masken, sich gegenseitig nicht erkennend, über Wahrheiten und Worte. Andere Aspekte von Schopenhauers Philosophie werden auch mal in einem Flirt versteckt.
„Dieser zwischen ergebenem Portrait, Burleske, Spionagesatire und Gelehrtendenkmal wechselndem Roman ist überaus elegant. „Die Welt ist ein Kopf“ will immer mehr sein als ein Reisebericht oder der pflichtschuldige Beitrag zum 150. Todestag Arthur Schopenhauers. Dieses Buch ist ein emphatisches, aus langjähriger Leidenschaft gereiftes Debüt eines tatsächlichen Fans:
„Ich habe Schopenhauer studiert, vorwärts, rückwärts, jede Zeile gelesen (und vieles vergessen natürlich). Ich halte ihn als Philosophen für einen der großen Tröster, eben auf seine, resignative, Weise, höchst passend für eine Welt von Konsum- und Geldgier“, sagt Poschenrieder, „undogmatisch mit eigentlich nur einem Rat an den Menschen: Schade niemandem! Außerdem ist er einer der großen Stilisten der deutschen Sprache. Ihn lesen macht auch Spaß.“ Gleiches gilt übrigens auch für: „Die Welt ist im Kopf“. Es schadet niemandem und macht jede Menge Freude – vielleicht der zugänglichste Einstieg ins Werk des großen Pessimisten Arthur Schopenhauer.
(Christoph Poschenrieder: „Die Welt ist im Kopf“, Diogenes, 342 Seiten, 21,90 Euro)
Der Klassiker
Rudolf Malters 1991 veröffentlichte Monographie gilt in der jüngeren Wissenschaft als massgebliches „Meisterwerk“ (Zeitschrift für philosophische Forschung). Nicht ganz einfach zu lesen, eher zu studieren sind Malters Untersuchungen über Schopenhauers Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Wie kann das menschliche Leid überwunden werden? Was bedeutet Erkennen im Licht von Schopenhauers Willenskonzept überhaupt? Das Buch beschäftigt sich unter anderem mit dem später auch bei Existentialisten wie Albert Camus („Der Fremde“) thematisierten Problem des einerseits von der Natur getriebene, andererseits aber durch Askese zur Verneinung des Willens fähigen Menschen – wir sind determiniert und frei gleichermaßen.
Welche Rolle spielt das Subjekt in diesem Befreiungsprozess? Was bedeuten Zeit, Raum, Kausalität bei Schopenhauer? In welchem Zusammenhang stehen Leib und Wille? Wieso ist die Willensverneinung ein Freiheitsakt (zur Einführung sei der komplette „Zauberberg“ von Thomas Mann empfohlen, selbstverständlich, wie es Mann für seinen Roman und Schopenhauer für „Die Welt als Wille und Vorstellung“ forderte: zweimal!). Wie kann Erlösung durch eine andere Art des Erkennens stattfinden? In wie weit ist Egoismus verantwortlich für unser Leid? Oder ganz grundlegend, zum Reinkommen ins Werk: Was ist die Vorstellung? Wie verhalten sich Subjekt und Objekt in Schopenhauers „Satz vom Grunde“ zueinander? Wodurch sind alle Lebewesen miteinander verbunden? Danach sind wenige Fragen offen. Gewaltiges, absolut zu empfehlendes Obersemiar von bestechendem Intellekt.
(Rudolf Malter: Arthur Schopenhauer – Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens“, Frommann-Holzboog, 476 Seiten, 96 Euro)
Die Biographie
Schopenhauer erklärt sich nicht allein aus den Entwicklungen der deutschen Philosophie. Er muss „im Kontext der westlichen Geistesgeschichte gesehen werden.“ Robert Zimmer ordnet in seiner Biographie „die Literatur und Philosophie Spaniens, Italiens, besonders aber die Englands, Schottlands und Frankreichs“ den Gedanken Schopenhauers zu und verteidigt ihn gegenüber Nietzsches falscher Rezeption, der Schopenhauer „als Vorreiter einer Geist- und Vernunftverachtung“ gelesen hat. Auch wenn diese zum Jubiläumsjahr erscheinende Studie nicht an die intellektuelle und emphatische Kraft der maßgeblichen Biografie Rüdiger Safranskis heranreicht (der Schopenhauer im Kontext des wilden, deutsche Idealismus jener Jahre betrachtet), ist dieses wesentlich schmaler geratene Buch ein willkommener Einstieg für alle, die sich ihren Schopenhauer als bildungsbürgerlichen Hausgott ins Leben holen wollen.
Wie verlasse ich die Traumwelt unserer Realität und gelange zur reinen Schau des Willens, der alle Lebewesen miteinander verbindet? Was bedeutet es eigentlich, Teil des großen Ganzen zu sein? Was lehren uns fernöstliche Weisheiten? Und vor allem: Wie führe ich ein glückliches Leben? Diese bereits in der antiken Philosophie zentrale Frage wird debattiert, mit dem Weg des hochgebildeten, mehrsprachigen Pessimisten Schopenhauer abgeglichen, konterkariert, mal mehr, mal weniger bildhaft, aber niemals unter Niveau, dabei verständlich, unaufgesetzt. Eine solide Anleitung zur Erst-Mediation und Kontemplation.
(Robert Zimmer: „Arthur Schopenhauer: Ein philosophischer Weltbürger“, DTV, 320 Seiten, 14,90 Euro)