Die „Mutter aller Niederlagen“ bescherte Deutschlands Fußball-Nationalmannschaft um Trainer Helmut Schön den Nachbarn Niederlande im Münchner Finale bei den Weltmeisterschaften 1974 im eigenen Land. Historiker Kay Schiller nimmt in einem umfassend recherchierten Sachbuch an, dass in jenem Jahr der Fußball modern wurde und stärkt seine These mit Beobachtungen über die erste Eventisierung des Ballsports, die langsam explodierende Bedeutung des Geldes und mit ersten Annäherungen des literarischen Bereichs an die einstige Proletenbeschäftigung.
„Viele Menschen in der Bundesrepublik, mehr noch im Ausland, ganz gewiß aber wir alle haben uns nach dem Endspiel von München erstaunt die Frage stellen müssen, warum man sich über den zweiten Gewinn einer Weltmeisterschaft für den deutschen Fußballsport eigentlich nicht so von Herzen freuen konnte. Da war nicht überall – vor allem aber nicht lang – die jubelnde, fast überschäumende Freude zu spüren wie damals in den Tagen des Triumphes von Bern, Allenthalben klang die Frage auf, ob man bei uns keine echte Herzensfreude mehr empfinden und auch zum Ausdruck bringen könne. (Hermann Neubürger, 7. Präsident des DFB beim Verbandsbundestag im Oktober 1974, S.188)
Man muss die Fensehkommentare der WM-Jahre 1954, 1974 und 1990 (hier in einer Audiocollage) anhören, schon fällt auf, die nüchtern der Erfolg des WM-Teams um Spieler wie Beckenbauer und Berti Vogts (im Bild mit Johan Cruyff und Uli Hoeneß) aufgenommen wurde. „Nach dem Schock des Terroranschlags auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Spiele 1972 war es das erste [Turnier] überhaupt, das von umfassenden Sicherheitsmaßnahmen begleitet war.“ (12) München hatte sein Sportfest zwei Jahre zuvor gehabt. Die Zeiten waren düsterer: Nach den Studentenunruhen war das Land nicht nur von nationalen Tönen abgerückt (weit entfernt vom ‚Partyotismus’ 2006).
Inzwischen ist der Fußball komplett im kulturellen Bereich angekommen. Aber „in den Kreisen ernsthafter Schriftsteller war der Fußball 1974 damit noch lange nicht mehrheitsfähig. Für die meisten Literaten galt noch Marcel Reich-Ranickis harsches, 1964 in der Zeit formuliertes Urteil, dass Sport und Literatur ‚feindliche Brüder‘ seien, weil der Sport ‚ungleich einfacher, primitiver, oberflächlicher, direkter‘ sei als Literatur (Eggers 2003, S.7.).“ Autoren wie Ludwig Hares, Dieter Kühn, Wolf Wondratschek, Jörg Drews, Ror Wolf und Walter Jens feierten zwar ab ab 1960er und 70er Jahren den Fußball. Aber ein literarisches Pressing wie heutzutage (hier und hier und hier im LesenMitlinks-Blog) war undenkbar.
Gleichzeitig hat Literaturpublizist Karl-Heinz Bohrer in der F.A.Z. vom 27.10.1973 einen der prägendsten Fußballbegriffe formuliert und damit den Ballsport literarisch geadelt: „Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte ‚thrill‘. ‚Thrill‘, das ist das Ereignis, das nicht erwartete Manöver, das ist die Verwandlung der Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, ’thrill’, das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende.“ (Karl-Heinz Bohrer in der F.A.Z. am 27.10.1973, hier: S. 152). Es sind eben solche Ausblicke, die Kay Schillers „WM 74“-Buch kulturwissenschaftlich interessant machen (Bild).
Die Show beginnt: 1974 nahm erstmals die deutsche Fußballnationalmannschaft ein WM-Lied auf. (10) Und „War die ‚Sportschau‘ um 17:45 in der ARD eine Männerdomäne, so saßen beim ‚Aktuellen Sportstudio‘ im ZDF am späten Samstagabend regelmäßig mehr Frauen als Männer vor dem Bildschirm. (Reng 2013, S: 200). Das lag auch daran, dass Sport und Fußball hier als Unterhaltung präsentiert wurden und man mitunter gleich von ‚Am laufenden Band‘, der neuen großen ARD-Samstagabendshow mit Rudi Carrell von 1974, zum ‚Sportstudio‘ umschalten konnte.“ (40) Es gab Maskottchen (Bild) und eine hart ausgehandelte Prämie (zwischen 60.000 und 75.000 Mark zzgl. eines VW Käfers“ (160).
Die Kohle saß keineswegs so locker wie heute (die FIFA hatte 2013 Kapitalreserven von 1,4 Milliarden US-Dollar). „Zwar erzielte man durch den Kartenverkauf einen Erlös von 36.3 Millionen DM, die kommerzielle Auswertung durch den Verkauf von Fernseh-, Rundfunk- und Filmrechten, durch Werbung und Souvenierverkauf lag aber mit 32,9 Millionen DM schon nicht mehr weit dahinter. (…) Einkünften von insgesamt 69,2 Millionen DM aus dem Turnier standen Ausgaben von 17,2 Millionen gegenüber.“ (71/72) Es gab wenige festangestellte FIFA-Mitarbeiter und ein Jahresbudget von unter einer Million Franken“ (103), was noch lange nicht große Expansionspläne reichte.
Fragte sich die FIFA, wovon sie die Hotelkosten ihrer Funktionäre übernehmen sollte (103), schickte die DDR ein komplettes Fan-Kontingent zu den Spielen Jürgen Sparwassers (Bild). Es waren wenige Frauen dabei, weil stets nur ein Ehepartner über die Grenze durfte. „Ausgestattet mit DDR-Fahnen, spendeten sie kräftigen Beifall und ließen ‚den bekannten Zuruf der sportbegeisterten DDR: 7-8-9-10-Klasse‘ immer wieder laut werden.“ (131) Sie räumten die Tribüne auf, hinterließen einen sauberen Touristenblock und zeigten in ihrer grauen Spießigkeit, dass die WM 74 lange nicht im (problematischen) Partyotismus angekommen war. Es waren nüchterne Spiele. Man behielt die Nerven. – Tor.
[…] David Finck, Severin Winzenburg, Katrin Bauerfeind, Reif Larsen (jetzt im Kino) zum Fußball (vorm glücklichen WM-Finale) und in der Abteilung Wissenschaft unser „Call for Paper“ für die Münsteraner Winterschool […]